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Pegasus 2/ 2002, 1

Michael  Alperowitz

Aetna, Aeneas und die Weiber von Weinsberg

So manches Vorurteil steht der Entscheidung, Latein oder Griechisch als Unterrichtsfach zu belegen, entgegen. Die Eingangsschwelle in den traditionellen altsprachlichen Zug einer Schule erscheint dementsprechend als hohe Hürde. Die klassischen Sprachen Latein und Griechisch gelten bei vielen als veralteter Fremdkörper im Bildungskanon unserer Zeit. Latein und noch mehr Griechisch werden aufgrund ihrer Formenvielfalt, des zeitaufwendigen Vokabelpaukens als schwere Fächer im Vergleich zu anderen schulischen Angeboten angesehen: Der Unterricht bleibe zu oft hinter den Versprechungen, wie sie in den jährlich stattfindenden Informationsveranstaltungen zur Sprachenwahl vollmundig getroffen würden, zurück. Enttäuschung präge die Erfahrung so manchen Schülers mit seinem konkret erlebten Latein- und Griechischunterricht. Die sprachlich schwer zu erschließenden Texte verhinderten geradezu eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Antike. "Was hat all das mit uns und unserer Zeit zu tun?" lautet die Frage vieler Eltern und Schüler angesichts eines Unterrichts, dessen Höhepunkte im Optativ des Aorists der Verba auf -mi bzw. der souveränen Beherrschung des Genitiv Plurals der gemischten Deklination bestehe.

Gegen diese und ähnliche Anschauungen wird und wurde in unzähligen Aufsätzen und Reden angekämpft und argumentiert. Wichtiger jedoch mit Blick auf die Zukunft der alten Sprachen an unseren Gymnasien ist, dass wir das in der theoretischen Auseinandersetzung Postulierte auch im täglichen Unterricht erfahrbar machen.

Im neugestalteten Bildungsplan für die Kursstufe und durch die Neuformulierung des Schwerpunktthemenerlasses in Baden-Württemberg wird der Versuch unternommen, den veränderten Anforderungen und Ansprüchen unserer Zeit an die schulische Bildung Rechnung zu tragen, und u.a. eine Umorientierung des altsprachlichen Unterrichts im Sinne einer Verstärkung fachübergreifender Aspekte angeregt.1

Anhand eines konkreten Beispiels aus dem Unterricht sollen im Folgenden Möglichkeiten vorgestellt werden, wie die Zielvorgaben dieser Bestimmungen bereits in Klasse 10 vorbereitet bzw. umgesetzt werden können. Eine Latein-/Griechischstunde, über die unsere Schüler ihren Eltern und Schulkameraden begeistert erzählen, ist immer noch die beste Art und Weise, um vorgefasste Meinungen wie die eingangs angeführten zu widerlegen. Die merkwürdige Zusammenstellung des Titels der Unterrichtseinheit "Aetna, Aeneas und die Weiber von Weinsberg" wird, so hoffe ich, im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes ihren Sinn offenbaren.

Verlauf der Unterrichtseinheit

Doppelter Einstieg

Zu Beginn der Doppelstunde wurde der Klasse ein Teil der Geschichte der Weiber von Weinsberg vorgelesen, wie sie in der Kölner Königschronik niedergeschrieben ist.2


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In der Kölner Königschronik heißt es dazu: "Der König belagerte im Jahr 1140 eine Burg des Herzogs Welf von Bayern, Winesberg genannt, und brachte sie zur Kapitulation, wobei er den Edelfrauen und den übrigen Weibern, die sich daselbst vorfanden, mit königlichem Edelsinn die Erlaubnis gab, dass jede mitnehmen dürfe, was sie auf ihren Schultern tragen könne."

"Versetzt euch in die Situation vor Weinsberg! Was erwartet der Belagerer, dass die Frauen mitnehmen?", so lautet die Frage, die sich an dieser Stelle der Erzählung unweigerlich stellt. "Güter, Hausrat, persönliche Habe, Lebensmittel, Urkunden etc." war hierauf die häufigste von Schülern geäußerte Vermutung. Doch die Geschichte nimmt eine unerwartete Wendung. Die Weiber von Weinsberg treffen eine andere als die von der Klasse vermutete Entscheidung:

"Diese aber, wie auf die Treue ihrer Gatten so auch für die Rettung der Übrigen bedacht, ließen ihre Habe beiseite und stiegen herab, die Männer auf den Schultern tragend. Als nun Herzog Friedrich von Schwaben, der Bruder des Kaisers, solchem Vorgehen widersprach, entgegnete ihm der König, der die List der Weiber nicht übel nahm, es zieme sich nicht, ein Königswort zu ändern."

Ohne weitere Besprechung folgt nun des Einstiegs zweiter Teil: Die Klasse hatte in der Stunde zuvor den Auftrag erhalten, im www Informationen zum sizilischen Vulkan Aetna zu recherchieren. Eine ganze Menge an verwertbaren Suchergebnissen, von aktuellen Lifecam-Aufnahmen bis zu Artikeln in der Neuen Zürcher Zeitung anlässlich des großen Ausbruchs im Jahre 2000, kam auf diese Weise zusammen. Bilder und Pressemeldungen waren für uns der Anlass, in aller Kürze über die nach wie vor von diesem Vulkan ausgehende Gefahr zu sprechen.3 Bisher im Griechischunterricht eher zurückhaltende Schüler zeigten sich als Vulkanismusexperten und klärten ihre Klassenkameraden über das brodelnde Innenleben des Aetna auf.

Ratlosigkeit machte sich breit, was die beiden so zusammenhanglos erscheinenden Einstiege, die Weiber von Weinsberg und die Gefahren des Vulkans Aetna auf Sizilien, miteinander zu tun haben könnten.

 

 


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Der griechische Text:4

Rettung aus dem Lavastrom des Aetna Eine erste Auflösung erfährt das "Rätsel der Einstiege" durch einen Textabschnitt aus den Fragmenten griechischer Historiker, das die Rettung eines Elternpaares aus dem Lavastrom des Aetna durch ihre beiden Söhne beschreibt. In traditioneller Art und Weise übersetzten die Schüler den Text, gliederten ihn 5 und ordneten die griechischen Vokabeln entsprechenden Sachfeldern zu.6

Der lateinische Text:7 Flucht des Aeneas aus dem brennenden Troja Der Übergang zum nächsten Text, dieses Mal aus dem Bereich der lateinischen Antike, wird durch die Aussage geschaffen, dass die Menschen auf Sizilien in Erinnerung an die edle Rettungstat der beiden Brüder Standbilder errichteten: e—kÒnaj ƒdrusan. Die Beschreibung eines ähnlichen Ehrenmals wie das hier genannte diente uns zur Hinführung zum Text aus Ovids Metamorphosen. Es zeigt Aeneas auf der Flucht aus Troja, seinen Vater Anchises auf den Schultern tragend, seinen Sohn Julus an der einen Hand führend, die Penaten mit der anderen haltend.8 Lateinischer Text und Skulptur illustrieren beide die gleiche Szene und ergänzen sich in ihrer jeweiligen Art der Darstellung. Der Gestus des Tragens zum Ausdruck der treuen Fürsorge für anvertraute Menschen findet sich, so konnten die Schüler erkennen, im lateinischen und im griechischen Text, er begegnete ihnen aber auch in der bildlichen Darstellung der Szene aus dem  trojanischen Sagenkreis:

                 Non tamen eversam Troiae cum moenibus esse

                 spem quoque fata sinunt; sacra et, sacra altera, patrem

                 fert umeris, venerabile onus, Cythereius heros.

                 De tantis opibus praedam pius eligit illam.

 


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Der deutsche Text: Ballade von den Weibern von Weinsberg

Bevor wir nun an die Interpretation der Texte gehen konnten, kamen wir nochmals auf die im ersten Einstieg herangezogene Geschichte von den Weibern von Weinsberg - dieses Mal jedoch in der Fassung Adelbert von Chamissos- zurück. Auch zu diesem Text existiert eine Darstellung der Bildenden Kunst, die wir auf der Suche nach weiteren Beispielen für den angesprochenen Gestus des Tragens gefunden haben:9

Der erste Hohenstaufe, der König Konrad, lag

Mit Heeresmacht vor Winsperg, seit manchem langen Tag.

Der Welfe war geschlagen, noch wehrte sich das Nest,

Die unverzagten Städter, die hielten es noch fest.

Der Hunger kam, der Hunger! Das ist ein scharfer Dorn;

Nun suchten sie die Gnade, nun fanden sie den Zorn.

»Ihr habt mir hier erschlagen gar manchen Degen wert,

Und öffnet ihr die Tore, so trifft euch doch das Schwert. «

Da sind die Weiber kommen: »Und muss es also sein,

Gewährt uns freien Abzug! Wir sind vom Blute rein.«

Da hat sich vor den Armen des Helden Zorn gekühlt,

Da hat ein sanft Erbarmen im Herzen er gefühlt.

»Die Weiber mögen abziehn, und jede habe frei,

was sie vermag zu tragen und ihr das Liebste sei!

Lasst ziehn mit ihrer Bürde sie ungehindert fort!

Das ist des Königs Meinung, das ist des Königs Wort. «

Und als der frühe Morgen im Osten kaum gegraut,

Da hat ein seltnes Schauspiel vom Lager man geschaut:

Es öffnet leise, leise sich das bedrängte Tor,

Es schwankt ein Zug von Weibern mit schwerem Tritt hervor.

Tief beugt die Last sie nieder, die auf dem Nacken ruht,

Sie tragen ihre Ehherrn, das ist ihr liebstes Gut.

»Halt an ihr argen Weiber!« ruft drohend mancher Wicht.

Der Kanzler spricht bedeutsam: »Das war die Meinung nicht!«

Da hat, wie er's vernommen, der fromme Herr gelacht:

»Und war es nicht die Meinung, sie haben's gut gemacht.

Gesprochen ist gesprochen, das Königswort besteht,

Und zwar von keinem Kanzler zerdeutelt und zerdreht. «


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Vergleichende Interpretation der Texte

Die vergleichende Interpretation der Texte aus verschiedenen Epochen ergab eine erstaunliche Übereinstimmung unter den verschiedenen Kriterien der Betrachtung. Die tabellarische Übersicht zeigt die Ergebnisse dieses Vergleichs, wie sie von den Schülern herausgearbeitet wurden:


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Allen drei Geschichten, das hat unsere Interpretation ergeben, ist gemeinsam, dass sich die Hauptakteure (die beiden Brüder, Aeneas, die Weiber von Weinsberg) wider alle Erwartung für die Rettung eines Nächsten entscheiden; ein Motiv, das in den verschiedenen Zeiten und Kulturen, aus denen die Erzählungen stammen, weite Verbreitung gefunden hat. Das Handeln „¢nt‹ p£ntwn tîn toioÚtwn" ("stattdessen") wird zum Kennzeichen einer Haltung, die die Beachtung von Werten wie Treue, eÙsýbeia und pietas über die Erlangung eines augenblicklichen persönlichen Vorteils stellt und bereit ist, von gängigen Verhaltensmustern abzuweichen. Der Gestus des Tragens als in der Bildenden Kunst vielfach repräsentiertes Darstellungsschema ist - auch das zeigten die von uns herangezogenen Beispiele zu den einzelnen Geschichten- in seiner Aussage (vgl. oben) den Menschen so vertraut, dass seine Verkehrung ins Gegenteil in einer allseits bekannten Karikatur aus der Zeit der französischen Revolution ohne weitere Erklärung verstanden wurde und zur beißenden Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen herangezogen werden konnte.10

Didaktische Betrachtung

Das Schaubild stellt die unterschiedlichen Quellen zusammen, die in Übereinstimmung mit den Zielvorgaben des neuen Abiturerlasses 11 in der vorgestellten Unterrichtseinheit herangezogen wurden.

Parallel- und Kontrasttexte aus der Antike, mittelalterliche Texte und Werke der Bildenden Kunst wurden analysiert und verglichen. Darüber hinaus boten die im www recherchierten Informationen über den Vulkan Aetna einen motivierenden Brückenschlag in unsere Zeit. Zeitungsartikel


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 verdeutlichten die Gegenwärtigkeit der durch die Naturgewalt des Vulkans hervorgerufenen Gefahr, die in ähnlicher Form schon im griechischen Quelltext beschrieben wurde und Menschen, die ihr ausgesetzt sind, vor eine Entscheidungssituation stellt.

Dieser Zwang zur Entscheidung wird in ähnlicher Weise auch in der Aeneasgeschichte (Flucht aus dem brennenden Troja) und in der Ballade Adelbert von Chamissos (Flucht aus einer belagerten Stadt) thematisiert und bildet den ethischen Kern der Texte. Die anfangs so rätselhaft erscheinende Zusammenstellung "Aetna, Aeneas und die Weiber von Weinsberg" hat nach und nach durch die weitgehenden Motivparallelen, durch die gleichartige Situation, in die Menschen durch ein von ihnen nicht verschuldetes Ereignis hineingestellt werden, durch das die üblichen Verhaltensmuster bewusst verlassende Handeln der Hauptpersonen und die in allen Geschichten in den Mittelpunkt gestellten Werte ein inneres Band der Zusammengehörigkeit erhalten. Trotz aller Verschiedenartigkeit der Bezugspunkte wurde den Schülern im Vergleich von Texten und Bildern unterschiedlicher Sprachen, Gattungen und Zeiten das die Jahrhunderte überdauernde Verbindende und Gemeinsame vor Augen geführt.

Latein- (Griechisch)unterricht als Anlass und Ort gestalten,

•in dem in horizontaler und vertikaler Betrachtungsweise Texte, Ereignisse, Bilder verschiedener Zeiten und Gattungen etc. in Bezug zueinander gestellt werden (Gemeinsamkeiten / Unterschiede),

•in dem zentrale Aspekte unserer Kultur (z.B. ethische Fragestellungen) aus distanziertem Blickwinkel behandelt werden,

•in dem viele Schnittstellen zu anderen Fächern aktiviert werden,

•in dem Unerwartetes zusammengeführt wird,

•in dem "Neue Medien"und "Alte Sprachen"sinnvoll zusammengeführt werden,

•in dem auf die Vielfalt der in der Gegenwart vorhandenen Spuren der Antike aufmerksam gemacht und ermuntert wird, nachzufragen,

•in dem Schüler und Schülerinnen anspruchsvoll gefördert werden.

 

Die Vermittlung solcher Erkenntnisse dürfte die zu Beginn kolportierten Meinungen gegen den Unterricht der alten Sprachen entkräften und die Frage "Was hat das mit uns und unserer Zeit zu tun?" beantworten. Dass hierin gleichzeitig eine immer wieder einzulösende Anforderung an die Latein- und Griechischlehrer liegt, bei aller Notwendigkeit zur Vermittlung der reinen Sprachlehre den Schwerpunkt ihres Unterrichts auf inhaltliche Aspekte zu legen und die Schüler mit Anspruchsvollem, die Grenzen des Faches Überschreitendem zu bedienen, gehörte schon immer zu den Grundbedingungen altsprachlichen Unterrichts und wird in Zukunft angesichts eines immer größer werdenden Drucks zur Rechtfertigung weiter an Dringlichkeit gewinnen.


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Die vorgestellte Doppelstunde mag als Anregung für einen Unterricht dienen, dem die in obiger Übersicht formulierten Wünsche ein Anliegen sind.12 Wenn es den Lehrerinnen und Lehrern der Alten Sprachen gelingt, die antiken Texte in unsere Zeit hinein sprechen zu lassen und deren vielfältige Bezüge zu unserer heutigen Welt sichtbar zu machen, werden die Fächer Latein und Griechisch auch in Zukunft ihren Platz im Bildungskanon der Gymnasien behaupten.12 Wenn es den Lehrerinnen und Lehrern der Alten Sprachen gelingt, die antiken Texte in unsere Zeit hinein sprechen zu lassen und deren vielfältige Bezüge zu unserer heutigen Welt sichtbar zu machen, werden die Fächer Latein und Griechisch auch in Zukunft ihren Platz im Bildungskanon der Gymnasien behaupten.

Anhang

3.6.2000

Catania, 2. Juni. (Reuters) Auf Sizilien ist am Donnerstag der Vulkan Aetna ausgebrochen. Eine mehrere hundert Meter hohe Säule aus Asche, Gas und Dampf war von fast jedem Ort der Insel aus zu sehen. Für die Bevölkerung der umliegenden Ortschaften bestand keine Gefahr; die Lavaströme flossen in ein unbewohntes Tal. Die Wohnhäuser in der nahe gelegenen Stadt Catania wurden aber mit Asche bedeckt. Der etwa eine halbe Stunde dauernde Ausbruch war der heftigste in diesem Jahr.

1.6.2000

Auf Sizilien ist am Donnerstag der Vulkan Aetna ausgebrochen. Mehrere hundert Meter hoch wurde Lava aus dem Krater des aktivsten Vulkans Europas geschleudert. Wohnhäuser in der nahegelegenen Stadt Catania wurden mit Asche bedeckt. Eine Säule aus Asche, Gas und Dampf war von fast jedem Ort auf Sizilien zu sehen. Der etwa eine halbe Stunde dauernde Ausbruch war der heftigste in diesem Jahr. Lavaströme flossen in ein unbewohntes Tal. Bewohner der Umgebung des Vulkans waren nach Angaben der Behörden nicht gefährdet. Vor acht Jahren bedrohte ein Ausbruch des Aetna die 7000 Einwohner der Stadt Zefferana. Damals hatte das Militär den Lavafluss mit Hilfe von Sprengungen auf eine ungefährliche Route umgeleitet. TagesAnzeiger

11.5. 2000

Seit Monaten brodelt Europas mächtigster Vulkan. Sein Rumoren wurde zum Medienspektakel und zur Touristenattraktion.

Der mehr als dreitausend Meter hohe Aetna gehört zu den aktivsten Vulkanen dieser Erde. Gibt es eine Erklärung für die ständige Unruhe? Es ist wohl eine zufällige Erscheinung. Während die magmaführenden Gänge bei anderen Vulkanen über lange Zeiträume vom Erddruck zusammengepresst werden, ist das beim Aetna offenbar nicht der Fall. Seine inneren Gänge sind permanent offen.

Ist die gegenwärtige Aktivität also nicht eine Ausnahme, sondern die Regel? Eigentlich schon, denn zur Dauertätigkeit im Gipfelbereich gehören vier verschiedene Ausbruchsformen: erstens ein permanenter und an sich unspektakulärer Ausstoß von Wasserdampf und anderen vulkanischen Gasen, zweitens der explosive Auswurf feinkörniger Aschen und aufgeblähter Schlacken, drittens größere Lavafetzen und viertens ein ruhiger Ausfluss von Lavaströmen am Fuß eines der vier großen Gipfelkrater. Dazwischen hat man aber auch immer wieder heftigere Eruptionen gesehen. Richtig, und von den Großeruptionen sind in den vergangenen Wochen und Monaten zwei von insgesamt drei bekannten Typen aufgetreten:

Zum einen konnte man heftige Explosionen mit mächtigen Lavafontänen und hoch aufsteigenden Aschewolken über den Gipfelkratern beobachten, die als Terminalausbrüche bezeichnet werden. Und zum anderen traten Lateralausbrüche, also explosive Flankenausbrüche mit starkem Lavaausfluss im Gipfelbereich auf. Jetzt fehlt nur noch der so genannte exzentrische Ausbruch irgendwo an der Flanke des Vulkans.

Wäre in einem solchen Fall auch das Siedlungsgebiet betroffen? Unter Umständen schon. Exzentrische Ausbrüche können kilometerlange Lavaströme verursachen, die bis in bewohnte Gebiete vorstoßen. Zuletzt geschah dies im Jahre 1992.


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Das Magmareservoir des Aetna scheint unerschöpflich zu sein. Das ist tatsächlich so, und das Geheimnis dieser Dauertätigkeit wird seit einigen Jahren sogar recht gut verstanden. Ein seismisches Stationsnetz liefert ein detailliertes Bild vom Geschehen im Inneren des Vulkans. Denn die Bewegungen des Magmas erzeugen charakteristische Impulse, die auf die Wände der magmaführenden Kanäle übertragen werden. Von dort breiten sich diese Störungen als Schallwellen im festen Teil des Vulkans weiter aus. Mit Seismometern kann dieses "Magmarauschen" aufgefangen werden. Welche Schlüsse kann man aus diesen Beobachtungen ziehen?

Die Ausbrüche des Aetnas, auch wenn sie explosiv Krater schaffen oder gar riesige Lavamengen fördern, sind nur oberflächliche Erscheinungen. Die eigentliche Aktivität läuft im Innern des Vulkans ab, unablässig und weitgehend auch unabhängig von der Zufallserscheinung noch so dramatischer Eruptionen. Gegenüber den Massen, die in dem jetzt erkennbaren Teil des inneren Systems umgewälzt werden, sind selbst die bei einem Großausbruch austretenden Lavamengen geradezu lächerlich gering. Das ist für das Gesamtsystem ebenso bedeutungslos wie der nach einem Nadelstich aus der Haut austretende Blutstropfen, der den gesamten Körperkreislauf eines Menschen auch nicht verändert.

Kann der Aetna somit als völlig harmloser Vulkan eingestuft werden? Nein, überhaupt nicht. Exzentrische Ausbrüche, und damit Lavaströme bis in tiefere Lagen, sind für die rund eine halbe Million am Fuß des Vulkans lebenden Menschen alles andere als harmlos. Und auch im Gipfelbereich kann es durchaus gefährlich werden. Ich erinnere mich, dass am 24. September 1986 eine Lavasäule mehr als eintausend Meter hoch über den Gipfel schoss, und daraus fielen tonnenschwere Blöcke bis weit über die Flanken hinab. Nicht zu unterschätzen sind außerdem die oft vorkommenden Aschewolken, aus denen in weitem Umkreis Gesteinstrümmer regnen, oder schlecht entgaste Lavaströme, aus denen Glutfetzen wegspritzen. Dennoch sind gerade in letzter Zeit die Besuchergruppen im Gipfelbereich sogar von den offiziellen Aetnaführern bis auf zwei, drei Meter an die Lavaströme herangebracht worden.

Ja, das stimmt, doch bedenken Sie eines: Die Aetnaführer haben große Erfahrung. Vulkantourismus ist gewiss nicht ungefährlich, aber das gilt für Touren in anderen Hochgebirgen ja auch. Die größten Gefahren drohen in der Gipfelregion oberhalb von 2700 Metern Höhe. Klare Verhaltensregeln gibt es allerdings nicht. Manche sagen, der gesamte Gipfelbereich sei für Touristen gesperrt, andere meinen, man könne dieses Gebiet während vulkanischer Ruhephasen auf eigenes Risiko besteigen - was immer das auch heißen mag. 

Neue Zürcher Zeitung


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Anmerkungen

1 Änderungen im neuen Schwerpunktthemenerlass für die Abiturprüfungen: "Zusätzlich können vorgelegt werden (ggf. nur in Übersetzung):

-Parallel- und Kontrasttexte aus der Antike

-mittelalterliche und moderne Texte

-Werke der Bildenden Kunst

-Wissenschaftliche Texte

Zusätzlich können Aufgaben vorgelegt werden, die eine persönliche Stellungnahme und/oder einen eigenständigen Umgang mit dem Text (den Texten) erfordern (z.B. Fortsetzung eines Textes, Antwort auf einen Text, Rekonstruktion eines vorausgegangenen Textes, Transformation des Textes in eine andere Darstellungsform)."

2 Die Erzählung ist viel älter als die Kölner Königschronik und geht auf Sagen zurück, die bereits im Talmud verzeichnet worden sind. Vgl. hierzu Hoffmann, W., Die Sage von der Weinsberger Weibertreue, Diss. Königsberg 1928; vgl. ebenso Berndt, H., Unterwegs zu deutschen Sagen, Düsseldorf / Wien 2 1985, S. 143 – 145. 

3 Vgl. die Presseartikel auf Seite 9.

4 Vgl. Konon Frg. Graec. Hist. 26 F 1XLIII: Rettung aus dem Lavastrom des Aetna.

Übersetzung: Die Krater des Aetna schleuderten einst einen Feuerstrom aufs Land. Die Bewohner von Katana glaubten, ihre Stadt würde vollständig vernichtet. Während sie versuchten möglichst schnell von dort zu fliehen, nahmen die einen Gold, die anderen Silber, wieder andere das, was für die Flucht nützlich war, mit. Zwei Brüder jedoch hoben anstelle all solcher Dinge ihre schon betagten Eltern auf die Schultern und flohen mit ihnen. Die anderen erfasste das Feuer und vernichtete sie, um die beiden jedoch teilte sich der Lavastrom und es entstand um sie herum eine Stelle gleich einer Insel im Feuer. Deshalb nannten die Bewohner Siziliens diesen Ort "Land der Gottesfürchtigen" und errichteten Standbilder zum Andenken an die Werke der Götter und Menschen.

5 Unterschiedliches Verhalten der Bewohner Katanias und der beiden Brüder – Vernichtung der Einwohner, wundersame Rettung der Brüder mit ihren Eltern – Dankbare Erinnerung der Nachfahren

6 z.B. Sachfeld Vulkanismus: (Krater),   (pyroklastischer Sturm, Pyrometer), (potamogen), (Rhyalith), (Seismographie), (Schisma), (Magma).

7 Ovid, Metamorphosen XIII 623 ff: Aeneas flieht aus dem brennenden Troja.

8 Gian Lorenzo Bernini, Villa Borghese, Rom.

9 Die Skulptur steht im Foyer des Rathauses der Gemeinde Weinsberg.

10 Als direktes Gegenbild zu dieser Darstellung mag man sich an die Darstellung des Guten Hirten in den vatikanischen Museen erinnern.

11 Vgl. Seite 1.

12 Die hier zusammengestellten plakativen Forderungen können selbstverständlich nicht das Ganze vom altsprachlichen Unterricht zu leistende Spektrum abdecken und müssen immer wieder an die jeweilige Klassensituation angepasst.

Michael Alperowitz