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Pegasus 2/ 2001, 7

Hans - Joachim Glücklich

Quibus rebus cognitis … (Caesar, Gall. 1,19,1)

Der Lateinunterricht in Deutschland strebt immer noch an, dass die Schüler lateinische Texte selbstständig erschließen, übersetzen und interpretieren können. Das ist ein hoher Anspruch. Daher sind die Methoden so eingerichtet, dass die Schüler weder sofort übersetzen müssen noch gar den Text vom Lehrer vorübersetzt bekommen. Es ist festzuhalten, dass ein Vorübersetzen durch den Lehrer nur dann Erfolg haben kann, wenn es auf ein Vorverständnis der Schüler stößt. Wer kein Latein oder wenig Latein kann und wer den lateinischen Satzbau und die Wortformen nicht erkennt, der versteht auch nicht, warum ein Text in einer bestimmten Weise übersetzt wird, und kann die Übersetzung nicht nachvollziehen. Er kann nur den Inhalt aus einer Übersetzung erfassen. Dazu braucht es aber nicht mehr den lateinischen Text. Wir streben jedoch den eigenverantwortlichen Umgang mit Texten an und dazu gehört, dass man sich nicht auf die bloße Lektüre einer Übersetzung beschränkt. Die Übersetzung kann weder die Struktur des lateinischen Satzes noch die Struktur des Denkens des Autors noch seine Abfolge der Informationen korrekt wiedergeben. Darüber hinaus finden sich in allen Übersetzungen Verstehensfehler und irreführende Formulierungen, weil jede Übersetzung zeitgebunden ist und individuelle Züge trägt. Gerade deshalb veralten ja Übersetzungen und können höchstens ein Bild des Verstehens der Antike zu einer bestimmten Zeit vermitteln. Es gehört zu den zweifelhaften Erfahrungen des Lateinunterrichts, wenn ein frischer und aktueller lateinischer Text in ein altmodisches Vokabular und in unmoderne Satzstrukturen ungesetzt wird. Das passiert immer dann, wenn die Schüler mit erlernten und vorfabrizierten Übersetzungsformeln für A.c.I., Prädikativum, Ablativ mit Prädikativum, -nd-Fügungen und mit der Unterstützung eines veralteten Wörterbuchs an den Text herangehen. Andererseits darf man eine den Satzbau nachvollziehende Übersetzung, auch wenn sie altmodisch klingt, immer noch als eine geistige Leistung anerkennen, denn sie stellt das Ergebnis eines Denkens in lateinischen und zugleich in deutschen Strukturen dar.

Eine Übersetzung kann nur gelingen, wenn Struktur und Inhalt erfasst sind. Beispiel:

Kapitel 19 des ersten Buches des Bellum Gallicum beginnt so:

(1) Quibus rebus cognitis· , cum ad has suspiciones certissimae res accederent, ·

- quod per fines Sequanorum Helvetios traduxisset, ·

- quod obsides inter eos dandos curasset, ·

- quod ea omnia non modo iniussu suo et civitatis, sed etiam · inscientibus ipsis · fecisset, ·

- quod a magistratu Haeduorum accusaretur, ·

satis esse causae · arbitrabatur · , quare in eum aut ipse animadverteret · aut · civitatem animadvertere · iuberet. ·

 


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Gliedern

Man kann den Satz in kleine Kola gliedern. Das entspricht der Art, wie er in der Antike gelesen und rezipiert wurde, und es kommt dem heutigen Schüler entgegen, der nicht an derart lange Sätze gewöhnt ist.

Zu kolometrischen Gliederung führen die folgenden Schritte:

Unterstreichen aller Verbformen und Umrahmen aller unterordnenden Konnektoren

[Quibus rebus cognitis]· , cum ad has suspiciones certissimae res accederent, ·

- quod per fines Sequanorum Helvetios traduxisset, ·

- quod [obsides inter eos dandos] curasset, ·

- quod ea omnia non modo iniussu suo et civitatis, sed etiam · [inscientibus ipsis] · fecisset, ·

- quod a magistratu Haeduorum accusaretur, ·

[satis esse causae] · arbitrabatur · , [quare in eum aut ipse animadverteret · aut · civitatem animadvertere · iuberet.] ·

 

Kolometrische Darstellung

Die kolometrische Darstellung von Caesar, Bellum Gallicum 19,1 sieht dann so aus (S = selbstständig, B = bezogen, die tiefgesetzten Zahlen zeigen den Grad der Abhängigkeit des Gliedsatzes):

 

1

(1) Quibus rebus cognitis· ,

B

Diese Dinge waren erkannt/ in Erfahrung gebracht

 

2

cum ad has suspiciones certissimae res accederent, ·

B

Zu diesen Vermutungen kamen ganz sichere Tatsachen hinzu

 

3

- quod per fines Sequanorum Helvetios traduxisset, ·

B

er hatte die Helvetier durch das Gebiet der Sequaner geführt

 

4

- quod

B

 

 

5

obsides inter eos dandos

B

Geiseln wurden unter ihnen ausgetauscht

 

6

curasset, ·

B

dafür hatte er gesorgt

 

7

- quod ea omnia non modo iniussu suo et civitatis, sed etiam ·

B

 

 

8

inscientibus ipsis ·

B

sie wussten nicht davon

 

9

fecisset, ·

B

er hatte das alles nicht nur ohne seinen Befehl sondern auch ... gemacht

 

10

- quod a magistratu Haeduorum accusaretur, ·

B

er wurde vom Magistrat der Haeduer angeklagt

 

11

satis esse causae ·

B

es gab Genügend Grund

 

12

arbitrabatur · ,

S

dieser begründeten Ansicht war er

 

13

quare in eum aut ipse animadverteret · aut ·

B

entweder selbst gegen ihn vorzugehen oder

 

14

civitatem animadvertere ·

B

dass das Volk gegen ihn vorgeht

 

15

iuberet. ·

B

anzuordnen

 

 


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Natürlich können solche Aufstellungen nicht für jeden Satz vorgenommen werden. Es genügt, das Verfahren im Unterricht einzuführen, oft anzuwenden und zur Übung den Hausaufgaben zuzuweisen. Später kann man sich mit einfachen Gliederungszeichen zwischen den Kola zufrieden geben, etwa Schrägstrichen oder Hochpunkten. Die häufige Anwendung des Verfahrens führt auch zu gegliedertem Lesen und rechtem Verstehen von Vorgelesenem.

Satzabbildung

In einer Satzabbildung nach dem Einrücksystem kann man diesen Satz so darstellen.

HS Quibus rebus cognitis· ,

GS1 cum ad has suspiciones certissimae res accederent, ·

GS2- quod per fines Sequanorum Helvetios traduxisset, ·

GS2 - quod obsides inter eos dandos curasset, ·

GS2- quod ea omnia non modo iniussu suo et civitatis, sed etiam · inscientibus ipsis · fecisset, ·

GS2- quod a magistratu Haeduorum accusaretur, ·

HS satis esse causae · arbitrabatur · ,

GS1 quare in eum aut ipse animadverteret · aut · civitatem animadvertere · iuberet. ·

 

Satzbeschreibung und Interpretation

Aus dieser Strukturbeobachtung und aus semantischen und inhaltlichen Beobachtungen gewinnt man die folgende Beschreibung des Satzverlaufs und die folgende Interpretation:

Der Satz beginnt mit einem Ablativ + Prädikativum, der Teil des Hauptsatzes ist. Dieser Abl. + Präd. stellt eine Voraussetzung oder einen Grund für den im Hauptsatz geschilderten Vorgang dar. Caesar geht von erkannten Tatsachen oder Sachverhalten aus.

Nach dem Abl. + Präd. wird der Hauptsatz sogleich durch einen Gliedsatz ersten Grades unterbrochen. Es ist ein kausaler cum-Satz. Auch dieser cum-Satz schildert also eine Voraussetzung oder einen Grund für das im Hauptsatz Geschilderte. Gemeinsam sind dem Abl. + Präd. wie dem cum-Satz, dass geprüfte oder erkannte Vorgänge oder Tatsachen genannt werden: quibus rebus cognitiscertissimae res. Etwas überraschend versucht aber Caesar eine weitere Steigerung. Er bezeichnet das Erkannte (quibus rebus cognitis) als Verdachtsmomente oder Anfangsverdacht (has suspiciones). Dem cum-Satz werden sodann vier Gliedsätze zweiten Grades angefügt. Es sind Sätze mit dem faktischen quod. Sie nennen genau die certissimae res. Die Anapher des quod bewirkt, dass die einzelnen Tatsachen einen nachdrücklichen Eindruck machen. Der erste quod-Satz hebt heraus, dass Dumnorix die Helvetier durch das Gebiet der Sequaner geführt hat, somit deren Auswanderungsbewegung unterstützt, die Caesar in c. 2 ausdrücklich als Teil eines Machtkomplotts zur Beherrschung Galliens hingestellt hat.


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 Der zweite quod-Satz zeigt, das Dumnorix durch Geiselaustausch die diplomatischen Voraussetzungen dafür geschaffen hat. Die ersten beiden quod-Sätze wiederholen nur Bekanntes (vgl. 9,2-4); sie zeigen zunächst keinen Ansatzpunkt für eine Schuld des Dumnorix, denn er kann ja diplomatisch tätig sein und er führte die Helvetier nicht durch römisches Gebiet. Die beiden folgenden quod-Sätze zeigen nun, wie Caesar eine Schuld des Dumnorix konstruiert. Der dritte quod-Satz ist zweigeteilt und hebt die Eigenmächtigkeit des Dumnorix hervor (iniussu) und dann die Heimlichkeit seiner Aktionen (inscientibus ipsis). Der erste Teil dieses quod-Satzes ist im Grunde noch einmal zweigeteilt, weil er darlegt, dass Dumnorix weder auf Befehl Caesars noch auf Befehl seines Volkes bzw. dessen Regierung gehandelt hat (iniussu suo et civitatis). Der vierte quod-Satz zieht eine Teilfolgerung aus dem dritten: Aus iniussu civitatis und inscientibus ipsis folgt: a magistratu Haeduorum accusaretur; dieser Vorgang ist gleichzeitig (accusaretur) zum im Hauptsatz geschilderten Vorgang (Dumnorix steht gerade unter Anklage). Nach den vier quod-Sätzen setzt sich der Hauptsatz fort. Er schildert eine Folgerung aus dem einleitend mit quibus rebus cognitis und dann im cum-Satz geschilderten Erkenntnissen: Caesar kam zu einer sachgerechten Beurteilung (arbitrabatur). Der Inhalt der Beurteilung wird in einem A.c.I. vor das Prädikat arbitrabatur gestellt: satis esse causae. Dabei nimmt causae den Ablativ + Prädikativum mit kausaler Sinnrichtung und den kausalen cum-Satz auf, satis die Vielzahl der genannten Gründe (erst die Doppelung durch den Ablativ + Prädikativum und den cum-Satz, dann die Vierteilung der im cum-Satz genannten certissimae res in den quod-Sätzen). Die eigentliche Folgerung wird aber erst nach dem Prädikat arbitrabatur genannt. Es folgt nämlich ein weiterer Gliedsatz ersten Grades. Er wird mit quare eingeleitet und erläutert den A.c.I. Es ist ein abhängiger Fragesatz, der in sich wieder zweigeteilt wird und damit die Wiederholung des Wortes animadvertere, "vorgehen gegen", ermöglicht: quare in eum aut ipse animadverteret · aut · civitatem animadvertere · iuberet. Caesar zeigt, dass es zwei Möglichkeiten gibt, gegen Dumnorix vorzugehen: Entweder geht er selbst direkt gegen Dumnorix vor oder er veranlasst die Haeduer zu einem solchen Vorgehen. Das erste wäre einfach, aber ein direkter Eingriff in die Autonomie der Haeduer, das zweite wäre diplomatisch, aber komplizierter. Dennoch zeigt der Ausdruck iuberet, dass Caesar die Befehlsgewalt hat. Was der Unterschied zwischen dem im vierten quod-Satz geschilderten Prozess der Haeduer gegen Dumnorix und dem jetzt erwogenen Vorgehen gegen Dumnorix durch die Haeduer ist, wird nicht auf den ersten Blick klar. Aus der Anklage gegen Dumnorix könnte ja eine Bestrafung folgen. Wenn Caesar trotzdem erwägt, ob er dies den Haeduern befehlen soll, zeigt dies: Er wartet den Ausgang des Prozesses ab; er rechnet mit der Möglichkeit, dass Dumnorix, dessen Einfluss ja in c. 18 ausführlich geschildert wurde, frei kommt; und er spielt mit der Möglichkeit, im Notfall selbst einzugreifen. Seine Beurteilung der Lage ist also noch nicht fertig, und deswegen hatte er auch arbitra-ba-tur gesagt, also das durative Imperfekt verwendet statt des narrativen Perfekts.

Der gesamte Satz fasst die Erkundungen, die in den c. 17-18 geschildert wurden, und Caesars eigene Recherchen zusammen und verbindet sie mit seiner vorsichtigen Folgerung. Er stellt einen Entscheidungsprozess dar. Grundlage des Entscheidungsprozesses sind Nachforschungen, Überlegungen, Erkenntnisvorgänge. Das ist Prinzip Caesars in seiner Darstellung des Gallischen Kriegs. Er handelt nicht willkürlich, emotional, impulsiv, sondern durchdacht.

 

Übersetzen

Die schönen, erhellenden und rhetorisch wie politisch interessanten Beobachtungen zu Aufbau, Inhalt und Wirkung des Satzes gehen meist verloren, wenn das Übersetzen im Vordergrund steht. Dann steht nicht der lateinische Text, sondern die deutsche Wiedergabe im Vordergrund. Ziel ist nicht das Lateinische, sondern das Deutsche. Das ist insbesondere dann gefährlich und kontraproduktiv, wenn es das erste ist, was mit dem Text geschieht. Es ist auch zu viel verlangt, weil man dann sofort in zwei Sprachen denken muss, statt zunächst erst einmal an einer Sprache zu beobachten und vielleicht später die Probleme der Umsetzung in eine andere Sprache zu überlegen. Kontrolle des Verstehens ist auch ohne Übersetzen möglich, war es Jahrhunderte lang. Das Übersetzen in die Muttersprache ist erst im 18. Jahrhundert langsam aufgekommen.

Wer darauf setzt, das Übersetzen zu verlangen, sollte berücksichtigen: Es kann erst nach einer ausführlichen Erschließung und Besprechung des Textes sinnvoll werden. Und es muss ein sinnvolles Ziel haben. Dieses Ziel kann nicht eigentlich sein, einen raffinierten und trotz seiner Komplexität eleganten Satz Caesars in einen unbeholfenen und altmodischen deutschen Satz zu übersetzen. Aus dem schönsten Latein wird das schrecklichste Deutsch, wie viele gedruckte Übersetzungen zeigen.


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Wer die lateinische Satzstruktur nachzuahmen versucht, vollbringt trotzdem eine sprachliche Denkleistung, denn er muss zur Nachahmung des lateinischen Originals weiträumig einen deutschen Satzbauplan befolgen. Eine solche nachahmende Übersetzung des Satzes 1,19,1 würde etwa so lauten:

"Als diese Dinge erkannt waren und als zu diesen Verdachtsmomenten ganz sichere Tatsachen hinzukamen, nämlich dass er die Helvetier durch das Gebiet der Sequaner geführt hatte, dass er dafür gesorgt hatte, dass unter ihnen Geiseln ausgetauscht wurden, dass er das alles nicht nur ohne seinen und seines Volkes Befehl, sondern sogar ohne deren Wissen gemacht hatte, glaubte er, es gebe genügend Grund, weshalb er gegen ihn entweder selbst vorgehen oder aber seinem Volk gegen ihn vorzugehen befehlen solle."

Ich lasse weniger schöne und noch umständlichere Übersetzungen weg, die sich mit der ungelenken Wiedergabe des Ablativs mit Prädikativum als präpositionalem Ausdruck einlassen (quibus rebus cognitis: "nach Erkennung dieser Dinge ..."). Ich plädiere dafür, den Ablativ + Prädikativum nur dann als präpositionalen Ausdruck zu übersetzen, wenn er auch im Lateinischen kein Partizip, also keine Verbform enthält: Cicerone consule: "während Ciceros Konsulat", Hannibale duce: "unter Führung Hannibals".

Wer aber Caesars Intention wiedergeben will, der muss heute zu wesentlich kürzeren Sätzen greifen und oft die gesamte Satzstruktur zerschlagen oder verändern, nicht nur mehrere kurze Sätze verwenden, sondern auch beobachtete stilistische Mittel in andere Mittel umsetzen, um dieselbe Wirkung zu erreichen. Am Beispiel des Caesar-Satzes (die Übersetzung könnte noch freier und besser erfolgen):

"Dieser Sachverhalt war untersucht. Ganz unbestreitbare Tatsachen kamen zu diesen Verdachtsmomenten (zu diesem Anfangsverdacht) hinzu: Er hatte (Schriftlich muss es sogar heißen: Er war es, der ..; im mündlichen Vortrag kann man "er" betonen.) die Helvetier durch das Sequanergebiet geführt. Er hatte für den gegenseitigen Geiselaustausch gesorgt. Er hatte das alles nicht nur ohne Caesars Auftrag und ohne Auftrag seines Volkes gemacht, sondern sogar, ohne dass sie überhaupt davon wussten. Er stand unter Anklage durch die Behörden der Haeduer. Da entschied er: Es liegen genügend Gründe vor, entweder selbst gegen ihn einzuschreiten oder seinem Volk zu befehlen, gegen ihn einzuschreiten."

Lesen

Nicht zu kurz kommen darf das Lesen. Es ist der Ausweis des Verständnisses und sollte also nach der Erarbeitung des Textes erfolgen. Schüler können erst dann entweder selbst einigermaßen sinnvoll lesen oder einigermaßen verständnisvoll einem Lesevortrag zuhören. Das schließt nicht aus, dass bei passenden Sätzen und Texten auch einmal ein Lesevortrag des Lehrers am Anfang stehen kann, wenn dieser besondere Qualitäten des Textes herausarbeitet und zum Ausgangspunkt der Erschließung werden kann (hier wären das die quod-Sätze). Nur wenn die Schüler das kolometrische Gliedern gewöhnt sind, werden sie auch ein kolometrisches Lesen verstehen und mit der Zeit selbst anwenden können. Nur wenn sie die Eigenarten des jeweiligen Satzes oder Textes erarbeitet und genossen haben, werden sie sie entsprechend wiedergeben. Am Beispiel des Caesar-Satzes: Vor dem Lesen wurden die folgenden Überlegungen angestellt: Das Erkennen muss hervorgehoben werden: cognitis, certissimae. Die vielen Einzelheiten werden mit quod-Sätzen hervorgehoben, jedes quod muss betont werden, heute würde ein Redner dabei aufs Rednerpult schlagen. Die Entrüstung oder der Versuch, den Leser zu entrüsten, muss bei non modo und dem steigernden sed etiam und entsprechend in den Ausdrücken iniussu und inscientibus hervorgehoben werden. Bei satis esse causae erfolgt eine regelrechte Erlösung: Endlich hat Caesar genügend Grund einzugreifen. Der Satz erreicht einen Kulminationspunkt, ein Resultat aus den vielen quod-Sätzen; Caesar jubiliert geradezu. Am Schluss müssen die beiden Altenativen mit aut – aut gegliedert, das iuberet betont, die Wiederholung von animadverteret in animadvertere markiert werden.


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In manchen Klassen stellt sich dann automatisch ein Mitgehen vieler Schüler beim Lesen ein. Sie hauen von selbst bei quod auf den Tisch, brechen in Juhurufe bei satis esse causae aus, affektive und sogar psychomotorische Elemente ergänzen ideal das kognitive Element der Lesevorbereitung.

Im Folgenden sind die Längen eingezeichnet, die besonders hervorzuhebenden Wörter halbfett gesetzt, sehr nachdrücklich oder langsam auszusprechende Wörter durch Silbentrennung markiert, einige Lauteffekte (-ôs, -isset) hervorgehoben. An den durch Punkt in mittlerer Höhe   (· ) markierten Stellen soll natürlich eine kleine Pause gemacht werden.

 

Quibus rêbus cog-ni-tîs·, cum ad hâs suspiciônês cer-tis-si-mae rês ac-cê-de-rent, ·

- quod per fînês Sêquanôrum Helvetiôs trâdu-xis-set, ·

- quod obsidês inter eôs dandôs cû-râs-set, ·

- quod ea omnia non modo iniûs-sû suô et cîvitâtis, sed etiam · în-sci-en-ti-bus ipsîs · fê-cis-set, ·

- quod a magistrâtû Haeduôrum ac-cû-sâ-rê-tur, ·

satis esse causae · ar-bi-trâ-bâ-tur · , quârê in eum aut ipse anim-ad-ver-te-ret · aut · cîvitâtem an-im-ad-ver-te-re · iubêret. ·

 

Einordnung in die Gesamtlektüre

Der Satz zeigt Caesars Art sich selbst, seine Gegner und seine Politik darzustellen und für seine Wiederwahl zum Konsul zu werben. Caesar ist stets bemüht, seine Handlungen als Ergebnis rationaler Überlegung darzustellen. Er weist sorgfältig die Schuld für Kriegshandlungen oder für römisches Einschreiten den Gegnern zu und benutzt dabei die römische Klientel- und Vertragsideologie sowie die bellum -iustum-Theorie. Alles, was er tut, dient dem Nutzen Roms, der Durchsetzung des Rechts und der Unterstützung von Verbündeten. Das sind denn auch die Gesichtspunkte, unter denen Caesars Bellum Gallicum im Lateinunterricht gelesen wird: Literatur als politisches Instrument, Selbstdarstellung, Darstellung der Gegner, bellum-iustum-Theorie. Diese Gesichtspunkte können an wenigen kleinen Lektüreeinheiten von jeweils etwa fünf Kapiteln separat erarbeitet werden oder zusammen an einem längeren Text (z.B. 1,1-20).

Dabei werden die genannten Themen auch in ihrer Auswirkung auf das europäische Denken betrachtet, denn nicht nur hat Caesars Kriegsführung in Gallien die Rheingrenze als (angebliche) Grenze zwischen Galliern und Germanen etabliert und die Voraussetzung für ein europäisches Wegesystem geschaffen. Vielmehr gilt seine Art der Argumentation als Beispiel und Ausgangspunkt für den abendländischen Rationalismus, der sich insbesondere in den Vorstellungen von Sachzwängen und Kriegsgründen ausprägt.


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Handlungsorientierung und produktive Rezeption

Deswegen treten zu den gezeigten Methoden noch die so genannte Handlungsorientierung und die produktive Rezeption hinzu. Schüler erstellen Gegentexte, Reportagen, Charakterkurven, Meinungserhebungen, Filme oder Hörspiele, Zeitungsnachrichten oder tägliche Lageberichte, spielen Pressesprecher Caesars oder der Helvetier, um so in ihren Ausdrucksformen pro und contra Caesar Stellung zu nehmen und seine Leserlenkung zu dokumentieren, zu aestimieren oder zu konterkarieren.

 

(Veränderte Fassung eines Beitrags, der auf Englisch im EUROCLASSICA-Newsletter 9, February 2001, 4-9 erschienen ist. Eine Diskussion des Beitrags, insbesondere der Rolle des Lesens und des Übersetzens, ist sehr willkommen. Bitte benutzen Sie die unten angegebene e-mail-Adresse oder den Postweg.)

Prof. Dr. Hans-Joachim Glücklich,

Myliusstraße 25A,

D-60323 Frankfurt am Main,

e-mail: GlueHJ@aol.com