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Pegasus 1/ 2002, 41 Bernd
Linke
Cicero, Platon und das Problem der Gerechtigkeit: Eine Unterrichtsreihe zu Cicero, De re publica III
in der gymnasialen Oberstufe Ciceros staatstheoretisch-philosophisches Werk De re publica gehört bekanntlich zu den viel behandelten, ja bevorzugten Lektüren im Lateinunterricht der gymnasialen Oberstufe. So sieht z. B. in Berlin der vorläufige Rahmenplan im Fach Latein (gültig ab Schuljahr 1994/95) für das 3. Kurshalbjahr für Schüler1 mit L2 und L3 eine Cicero-Lektüre (S. 58; 82) vor. Die Ziele dieser Cicero-Lektüre - entweder in Form einer Ganzschrift oder in Form von Auszügen aus verschiedenen Werken Ciceros - bestehen darin, die "Formprinzipien ciceronianischer Sprache" kennen zu lernen, Ciceros Leistung der Übertragung griechischen Gedankenguts in die lateinische Sprache zu erfassen und sich zudem kritisch mit seinen politischen und moralischen Wertvorstellungen auseinanderzusetzen, was durch eine Lektüre von De re publica zweifelsohne geleistet werden kann. Insgesamt hat man jedoch den Eindruck, dass trotz einiger didaktischer Publikationen Buch III der ‚Republik‘ bisher zu wenig Beachtung als Schullektüre gefunden hat, wozu insbesondere der fragmentarische Überlieferungscharakter2 beitragen mag. Denn dieser fragmentarische Zustand hat wohl zur Folge, dass es kaum möglich ist, Schülern gerade dieses Werk als einen ursprünglich als Einheit konzipierten Diskurs vorzustellen. Doch trotz solcher Einwände spricht einiges für den Versuch, sich im Lateinunterricht der gymnasialen Oberstufe mit Cic. rep. III auseinander zu setzen. Im folgenden soll eine Unterrichtsreihe vorgestellt werden, die Buch III zum Gegenstand hatte3. Diese Reihe wurde in einem Grundkurs des 13. Jahrgangs (3. Semester) an der Paulsen-Oberschule in Berlin-Steglitz mit Schülern durchgeführt, die entweder Latein als 2. oder als 3. Fremdsprache erlernt haben. Das politisch-philosophische Thema des Buches ist von hohem und aktuellem Interesse: Die Frage, was gerecht sei und welche Kriterien einer gerechten politischen und gesellschaftlichen Ordnung angegeben werden können, stellt sich auf mehreren Ebenen und berührt besonders das Problem der Verteilungsgerechtigkeit auf nationalstaatlicher Ebene sowie im transnationalen Zusammenhang die nach dem 11. September noch intensiver geführten, erregten Diskussionen über Chancen und Risiken der Globalisierung. Diese Fragen erfordern Klärung: Was ist eigentlich gemeint, wenn in der politischen Diskussion Gerechtigkeit als regulativer Leitbegriff ins Feld geführt wird? Der Rückgriff auf die antiken Grundlagen dieser Diskussion kann dem Oberstufenschüler zu größerer Klarheit des Urteils verhelfen, gerade weil der antike Diskurs über Gerechtigkeit in seiner Anstrengung um den Begriff am allerwenigsten geeignet ist, als Rüstkammer für Schlagworte der Tagesdiskussion zu dienen. Aber auch der fragmentarische Charakter des 3. Buches vermag dem Oberstufenschüler interessante Aufschlüsse zu vermitteln: Er wird mit der Eigenart der Traditions- und Rezeptionsbedingungen der antiken philosophischen Diskurse konfrontiert und mit der Tatsache, dass wir heute Cicero lesen können, weil er sich in tiefgreifender Weise mit Platon auseinander gesetzt hat und weil spätantike christliche Denker wie Laktanz und Augustin sich zur Klärung der ihnen vorliegenden Probleme mit Ciceros Bemühen um die Frage der Gerechtigkeit beschäftigt haben – aber gerade nicht, weil das Werk um seiner selbst willen nachfolgenden Jahrhunderten als überlieferungswürdig galt. Im Vergleich mit Platon wird dem Schüler zudem trotz des fragmentarischen Überlieferungscharakters die eigenständige Leistung Ciceros deutlich: Für ihn ist Gerechtigkeit als politisches Ordnungsprinzip nicht mehr Hilfsmittel, um das Wesen der Gerechtigkeit als Tugend zu klären, sondern wird zum eigenständigen und eigenwertigen Untersuchungsgegenstand. Pegasus 1/2002, 42 Zu diesen mehr werkimmanenten Gründen treten auch folgende methodisch-didaktische Überlegungen für eine Lektüre von de re publica III: Mit Schülern, die Latein nicht als erste Fremdsprache lernen, ist in einem Grundkurs von ca. 45 Semesterstunden, wenn nicht nur eine kursorische Lektüre ohne inhaltliche Vertiefung intendiert ist, die Bearbeitung eines kompletten Buches einer beliebigen Schrift Ciceros nicht möglich. Die Lektüre einer lateinischen Ganzschrift bleibt für den Schüler also ebenso fragmentarisch, wie es das 3. Buch der ‚Republik‘ aus Gründen der Überlieferung ohnehin ist. Gewöhnlich klärt sich der Zusammenhang eines Buches dem Lateinschüler der gymnasialen Oberstufe durch Referate oder die begleitende Lektüre einer deutschen Übersetzung. Die Entscheidung, Cic. rep. III zu behandeln, bietet dagegen die Möglichkeit und zugleich die Notwendigkeit, einmal Platons Politeia (Buch I, Teile von Buch II) mit Schülern, die kein Griechisch an der Schule erlernen, wenigstens in einer deutschen Übersetzung parallel gründlich zu lesen und zu interpretieren. Denn Cicero folgt nicht nur grundsätzlich der Argumentationsstruktur des Karneades, sondern setzt sich in De re publica III bis in Einzelheiten der Argumente hinein mit der Behandlung der Gerechtigkeitsfrage im 1. und 2. Buch der Politeia auseinander4. Die ‚Defragmentierung‘ der lateinischen Lektüre kann hier also durch die Behandlung der Politeia gelingen. Die Entscheidung, De re publica III und das 1. Buch der Politeia parallel zu lesen, verursacht jedoch auch Probleme, die hier keineswegs verschwiegen werden sollen:
Es versteht sich von selbst, dass eine Platonlektüre im Rahmen des Lateinunterrichts, wenn sie sich nicht auf ein erklärendes Zitat oder eine knappe Kommentierung von Sachproblemen der Cicerolektüre beschränkt, sondern – wie es in dieser Unterrichtsreihe intendiert war - als vollständige, durchdringende Lektüre eines ganzen Buches angelegt ist, besonderer pädagogischer und didaktischer Vorkehrungen bedarf. Zunächst muss der Lateinlehrer eine klare Grenze zum philosophischen Fachunterricht ziehen. Die Platonlektüre ist eingebettet in den Lateinunterricht und kann nicht auf den Voraussetzungen aufbauen, die allein der Philosophieunterricht der gymnasialen Oberstufe bieten kann. Die Platonlektüre hat damit trotz des Anspruchs, eine Ganzschrift (eben das 1. Buch der Politeia und Teile des 2. Buches5) zu behandeln, im Verhältnis zur Arbeit am lateinischen Text eine eindeutig dienende Funktion: Ohne Bindung an den lateinischen Rahmenplan im Cicerosemester gibt es keine Platonlektüre im Lateinunterricht der gymnasialen Oberstufe. Dabei übt die Platonlektüre anhand einer deutschen Übersetzung, hier einmal ähnlich der Lektüre lateinischer Originaltexte, das skrupulös genaue Lesen. Argumentationslinien zum Gerechtigkeitsdiskurs, die die fragmentarische Überlieferung des 3. Buches der ‚Republik‘ verschüttet hat, müssen, soweit dies mit Grundkursschülern möglich ist, in ihrer bei Platon gewiss ausgeprägteren Komplexität nachgezeichnet werden. Den Schülern muss ein autoritatives Modell der Auseinandersetzung mit dem Problem der Gerechtigkeit vorgeführt werden, wie an den Argumentationsparallelen Platons und Ciceros erkennbar wird. Pegasus 1/2002, 43 Wenden wir uns nun den konkreten Realisierungsproblemen und –voraussetzungen dieses Unterrichtsprojekts zu. Nicht jedes Unterrichtsprojekt kann mit jeder Lerngruppe realisiert werden. Gerade im Lateinunterricht der gymnasialen Oberstufe haben die Unterrichtenden mit Motivlagen der Schüler zu rechnen, die durchaus unterschiedlich sind, in ihrer Unterschiedlichkeit aber im Hinblick auf das Oberstufensystem und auch im Hinblick auf die individuellen Zukunftsperspektiven der Schüler rational begründet werden können: Da trifft der Schüler, der ein eminentes literatur- und kulturgeschichtliches Interesse artikuliert, auf denjenigen, der im Hinblick auf ein künftiges Studium lediglich das Latinum erstrebt, und sitzt dem Schüler gegenüber, der Latein gewählt hat, weil er in anderen Sprachen (noch) schlechter ist. Dies gilt natürlich auch für die Paulsen-Schule in Steglitz, deren Schülerschaft sich aus für ihren Einzugsbereich (Steglitz, Lankwitz, Wilmersdorf, Dahlem, Friedenau) charakteristischen sozialen Milieus rekrutiert: bürgerliche, durchaus bildungsbeflissene Familien, aufstiegsorientiertes Kleinbürgertum, vollintegrierte Immigranten, nur in geringem Maße soziale Problemgruppen6: An der Paulsen-Schule wird Latein als 2. und als 3. Fremdsprache angeboten – und das Angebot, Latein statt Französisch als 2. Fremdsprache zu wählen, wird in den letzten 10 Jahren wieder verstärkt von den Eltern wahrgenommen: Der Anteil der Lateinschüler in den 7. Klassen stieg in diesem Zeitraum von ca. 25% auf ca. 40%. Der Grundkurs Latein, mit dem Cic. Rep. III behandelt wurde, bestand aus 13 Schülern des 13. Jahrganges; 4 von ihnen lernten Latein seit der 7. Klasse (Latein als 2. FS), 9 ab der 9. Klasse (Latein als 3. FS). Die Schüler sind mir seit langem bekannt; ich habe alle auch in der Sek I unterrichtet. So unterschiedlich auch die Motivlagen der Schülerinnen und Schüler in diesem Kurs waren (s.o.!), so deutlich war nach den Erfahrungen der ersten beiden Semester des Kurssystems, dass der die Mitarbeit dominierende Kern des Kurses für das Unterrichtsprojekt offen sein würde7. Die Unterrichtsreihe wurde eingeleitet durch einen doppelten Problemaufriss: Die Schüler entwickelten ein Tableau praktischer und aktueller Probleme, die unter dem Titel der Gerechtigkeit diskutiert werden. Zudem wurden sie eingeführt in Begriffe und Probleme einer Theorie der Gerechtigkeit, die am Beispiel der aristotelischen Unterscheidung von iustitia directiva und iustitia distributiva entfaltet wurde8. Wie kann nun eine deutschsprachige Platonlektüre organisch in den lateinischen Lektüreunterricht eingefügt werden? Der Platon-Text, der 327a bis 367e umfasste, wurde in 7 Lektionen unterteilt (pro Woche neben der Arbeit am Cicerotext 1 bis maximal 12 Reclam-Seiten). Den Schülern wurden Lektüreleitlinien in Form von Arbeitsanweisungen unterschiedlicher Reflexionstiefe gegeben9. Nachdem den Schülern ein erster Lektüreeindruck zur Politeia vermittelt worden war, setzte die parallele Cicerolektüre mit dem Augustin-Referat (civ. 2,21) ein, an die sich die eigentliche Cicero-Lektüre mit folgenden Passagen in der angegebenen Reihenfolge anschloss:
Pegasus 1/2002, 44 Die Auswahl der Textstellen folgt insgesamt den Erfordernissen, die das Konzept erzwingt, einem im Cicerotext fragmentierten Diskurs durch begleitende Platonlektüre einen sinn- und verständnisvermittelnden Rahmen zu geben: Nr. 1-4 beschäftigen sich mit den Argumenten der Gerechtigkeitskritik, die von Philus vorgetragen werden, Nr. 5-6 klärt den philosophiegeschichtlichen Zusammenhang dieser Argumente (Karneades, Skeptizismus, gekoppelt mit einem Schülerreferat), Nr. 7-8 behandelt die Konzeption der Gerechtigkeit als ius naturale. Damit orientiert sich die Anordnung der Texte an der Inhaltsangabe Augustins (civ. 2, 21) und folgt dem bei Platon den Schülern erfahrbaren Modell einer karneadeisch gefärbten Pro-contra-Argumentation. Aus didaktischen Gründen weicht das Textarrangement nur an einer Stelle von der Vorlage der Textausgabe ab: Informationen über Karneades, karneadeische Argumentationsweise und den antiken Skeptizismus (Cic. rep. 3,9 ff.) ergeben für die Schüler erst Sinn, nachdem sie die verstörende, thrasymacheisch unterfütterte Gerechtigkeitskritik aus dem Munde des Philus zur Kenntnis genommen haben. Im Einzelnen sind im Rahmen dieser Grundentscheidungen Variationsmöglichkeiten gegeben. So dürfte Cic. rep. III 17 trotz des interessanten, das Problem der Gerechtigkeit mit der Problem der Stellung der Frau in der Antike verbindenden Inhalts in diesem Rahmen nicht sinnvoll sein – der Rahmenplan Latein bietet andere Möglichkeiten, gender studies zu betreiben, und die Stelle weist ein juristisches Argument auf, das für die Zwecke dieser Reihe zu speziell ist. Von größerem Gewicht dürfte die Überlegung sein, Passagen ab III 20 ins Auge zu fassen, die insinuieren, Gerechtigkeit sei lediglich Schlagwort im politischen Kampf und in privaten Konflikten, in Wirklichkeit beherrsche Eigennutz das Handeln der Menschen. Da die Textmenge, die Schüler bewältigen können, begrenzt ist, dürften Cic. rep. III 27 und III 30 vorzuziehen sein, um die Argumentationsweise des Karneades vorzustellen und Anschluss an die Gerechtigkeitskritik des Thrasymachos, besonders aber an das Hiob-Gleichnis des Glaukon (Plat. pol. 361b ff.) zu gewinnen. Ähnliche Gründe sind ausschlaggebend für die Auswahl der Textstücke aus dem zweiten Teil des Buches ab III 33, in der Laelius mit Rückgriff auf einen naturrechtlichen Gerechtigkeitsbegriff die Gerechtigkeitskritik des Philus zwar nicht schlüssig zu widerlegen, doch durch einen Appell an den römischen Patriotismus und den Rückgriff auf die platonische Lehre von den Seelenteilen obsolet zu machen sucht. Ist im Hinblick auf die Philus-Rede einmal die Entscheidung getroffen, den öffentlich-politischen Gebrauch des Gerechtigkeitsbegriffes auszublenden und besonders die Textstücke heranzuziehen, die einen Bezug zu platonischer Argumentation aufweisen, dann bleiben auch III 34 bis 36 außer Betracht, während die Verbindung von III 34 (die Ausführung der These, Gerechtigkeit sei zu verstehen als ius naturale) und III 37 (Begründung dieser These durch Rückgriff auf die Lehre von den Seelenteilen) nicht nur mit Hilfe der Platonlektüre verständlicher werden können, sondern in der Laelius-Rede den Kern der Argumentation darstellen. Dagegen haben die ab III 34 zu findenden Belege eines aus materiellen Nutzenerwägungen nicht mehr begründbaren Gerechtigkeitsempfindens allenfalls den Stellenwert effektvoller rhetorischer Beweise, ermangeln aber der Strenge einer systematischen Beweisführung nach antiker Schultradition. Insgesamt summiert sich der Lektüreumfang auf ca. 170 Schöningh-Zeilen10, nicht zu wenig, wie die Schüler mir im Rahmen der Evaluation mitteilten – im Hinblick auf den Arbeitsaufwand muss die Anstrengung der Platon-Lektüre berücksichtigt werden. Nach der Grundentscheidung, den Schülern eine ausgedehnte Platon-Lektüre zuzumuten, durfte man von den Schülern nicht - in zeitlicher Parallele - auch noch eine intensive häusliche Vor- oder Nachbereitung der Cicero-Lektüre fordern. Diese erfolgte also ausschließlich im Unterricht, sei es im gelenkten Gespräch, sei es in Partnerarbeit. Statt dessen erhielten die Schüler, wie schon im 1. und 2. Semester, eine großzügig terminierte Übersetzungs- und Kommentaraufgabe zu einem selbst gewählten Textausschnitt aus Ciceros De re publica, um sowohl Gelegenheit zu zusätzlicher sprachlicher Übung zu haben als auch die freie, besonders in der Zeitplanung selbst bestimmte Arbeit zu üben. Pegasus 1/2002, 45 Das Erfordernis der Unterrichtsevaluation mag in der Routine des Unterrichts mit einer Klausur und einem das Semester abschließenden Gespräch, vielleicht der Abiturklausur abgegolten sein. In dieser Cicero und Platon verknüpfenden Reihe habe ich den Schülern zweifellos für den Lateinunterricht Ungewöhnliches zugemutet. Ich habe daher, vor die Frage gestellt, ob die Reihe erfolgreich war, nicht das Ergebnis der Klausur zu Rate gezogen, die konventionell aufgebaut war und die Platon-Lektüre vollständig ausklammerte, sondern am Ende des Semesters den Schülern folgenden Fragebogen ausgehändigt, dessen quantitative Ergebnisse hier bereits integriert sind. Alle Schüler gaben mir einen ausgefüllten Fragebogen zurück. Nur einer enthielt lückenhafte Angaben; andere Schüler notierten z.T. umfangreiche zusätzliche freie Kommentare.
Wir haben in diesem Semester das 3. Buch von Ciceros de re publica und vergleichend damit Platons Politeia (1. und Beginn des 2. Buches) gelesen und uns mit dem philosophischen Problem der Gerechtigkeit beschäftigt. Bitte füllen Sie dazu die 3 Fragebögen aus!
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Pegasus 1/2002, 48 In den Grundlinien ergibt die Auswertung folgendes Bild: Der größte Teil der Schüler hielt den Umfang der Cicero-Lektüre für angemessen. Mehr lesen wollte nur die nach Geläufigkeit der Lektüre beste Schülerin des Kurses, die sogar beabsichtigt, Latein zu studieren. Doch hätte der größere Teil der Kursteilnehmer gerne mehr Grammatik behandelt. Das Bedürfnis nach größerer Intensität der grammatischen Arbeit hat seine Gründe aber offenbar nicht in Schwierigkeiten, die gelesenen Texte überhaupt zu verstehen: Die meisten Schüler hielten den inhaltlichen Anspruch der gelesenen Texte für angemessen. Dem gegenüber hielt die Mehrheit der Schüler den Umfang der Platon-Lektüre für überzogen. Immerhin hält eine der Schüler, die dieses Urteil treffen, dennoch die Platon-Lektüre für "sehr interessant", und 2 von ihnen geben an, nach und außerhalb der Schule Platon vertieft lesen zu wollen. Da eine Reihe von Schülern im freien Kommentar zum ganzen Semester angaben, der Gesamtumfang der Arbeitsbelastung in diesem Kurs sei zu groß gewesen, ist dieses Votum wenigstens zum Teil nicht darauf zurückzuführen, dass generell die Platon-Lektüre abgelehnt wird. Kein Schüler wollte aber noch mehr Platon lesen. Die Auswertung zu Inhalt und Schwierigkeit der Platon-Lektüre zeigt zunächst Selbstverständliches: Kein Schüler hielt sie ohne Hilfen für leicht. Immerhin gibt die Hälfte der Schüler an, auch ohne die Lektürehilfen den Platontext angemessen verstanden zu haben. Alle diese Schüler bemerken jedoch zusätzlich, dass sie ohne die Lektürehilfen oberflächlicher gelesen hätten. 2/3 der Kursteilnehmer bestätigen, dass grundsätzlich die Lektüreaufgaben den Zweck erreichten, für den sie gedacht waren: die gewiss schwierige Lektüre zu erleichtern. Die 3 Schüler, die diesen Zweck nicht als erreicht sahen, standen nach Ausweis ihrer anderen Angaben dem Unternehmen, Platon neben Cicero zu lesen, generell skeptisch gegenüber oder äußerten in den freien Kommentaren grundsätzliche Kritik am Aufbau der Semesterarbeit. Fast alle Schüler - mit einer Ausnahme - fanden die Platon-Lektüre wenigstens teilweise interessant. Die in dieser Aussage zum Ausdruck gebrachte Einschränkung klärt sich durch die freien Kommentare. Mehrfach kritisierten die Schüler, dass der Argumentationsduktus Platons sehr kompliziert, die Argumente selbst z.T. von fragwürdiger Weitschweifigkeit, das Ergebnis schließlich, die Antwort auf die Frage, was Gerechtigkeit eigentlich sei, wie also Gerechtigkeit zu definieren sei, unbefriedigend bleibe. Eines der wesentlichen Ziele der ausführlichen Lektüre Platons ist nach Ausweis der Schüleräußerungen zum größeren Teil erreicht worden: Jeweils eine deutliche Mehrheit von Schülern erklärte, sowohl den Bezug von Cicero- und Platonlektüre deutlich erkannt als auch im besonderen die Cicerofragmente durch die Platonlektüre inhaltlich besser verstanden zu haben. Diejenigen Schüler, die angeben, den Cicerotext durch Platon nicht besser verstanden zu haben, haben zuvor bereits zugegeben, generell Probleme mit dem Anspruchsniveau Ciceros zu haben. Hat nun die Semesterarbeit, gespeist durch die Lektüre antiker Schlüsseltexte, zu einer Klärung und Vertiefung des Verständnisses des Problems der Gerechtigkeit geführt? Nach Ausweis der Evaluation findet die überwiegende Mehrheit der Schüler ein Cicerosemester unter dem thematischen Schwerpunkt des Problems der Gerechtigkeit interessant. Bemerkenswert ist, dass zwar ungefähr die eine Hälfte der Schüler bestätigt, das Problem der Gerechtigkeit genauer verstanden zu haben, die andere Hälfte jedoch angibt, nach der Semesterarbeit noch weniger als zuvor zu wissen, was Gerechtigkeit sei. Zwei von ihnen geben immerhin an, möglicherweise später zur Vertiefung und Fortsetzung der Beschäftigung mit dem Thema der Gerechtigkeit Cicero oder Platon in privater Lektüre wieder zur Hand zu nehmen. Das Ergebnis ist weder überraschend noch grundsätzlich negativ zu bewerten: Die Cicerofragmente lassen den aporetischen Argumentationsduktus des Karneades erkennen, nicht jedoch in ähnlicher Deutlichkeit die Position Ciceros. Die spezifische Anlage des 1. Buches der Politeia, Scheinlösungen zur Gerechtigkeitsfrage zu Pegasus 1/2002, 49 widerlegen und die Oberflächlichkeit des Sophisten zu entlarven, lässt den Schüler, der geneigt ist, nach Ende einer Reihe Definitionen als Ergebnis gesichert nach Hause tragen zu können, ebenso wie der weite Diskussionshorizont, der sich im 2. Buch nach 367e öffnet und im Lateinunterricht natürlich nicht annähernd abzuschreiten ist, enttäuscht zurück. Ich halte diese Enttäuschung für produktiv. Der Schüler hat über die Lektüre von Cicero und Platon einen Teil seiner Naivität abgelegt. Er hat gesehen, dass einfache Lösungen nicht zu haben sind, und er wird im besten Falle selbstständig weiter denken und lesen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag der Schüler, wie zwischen dem Ende der eigentlichen Kursarbeit vor Beginn der Weihnachtsferien und dem Semesterende, also in einem Zeitraum, der für die Schüler durch intensive Abiturvorbereitungen okkupiert ist, weiter zu verfahren sei: Ausgehend von Fragen und Einwänden, ob denn das platonische Konzept des gerechten Staates in der Antike eine praktische Umsetzung erfahren habe und wie begriffs- und problemgeschichtlich der Gerechtigkeitsdiskurs sich nach Cicero entfaltet habe, arbeiteten die Schüler in relativ freier Themensetzung und nur moderat von mir beraten, abgeschlossen lediglich durch einen Arbeitsbericht unter eigener Schwerpunktsetzung unmittelbar vor Semesterende in Gruppen beispielsweise am Thema "Platon, Dionysius und Syrakus", "Der Gerechtigkeitsbegriff im 20. Jahrhundert" (nach meinem Vorschlag am Beispiel von John Rawls), "Gerechtigkeit und Globalisierung" und ähnlichen Themen. Ist dies noch Lateinunterricht? Nach meiner Auffassung ist dies das beste, was Lateinunterricht in der gymnasialen Oberstufe erreichen kann: Durch Lektüre antiker Texte und die Begegnung mit antiker Kultur geschult und problembewusst gemacht, Gegebenheiten der modernen Welt zu analysieren und so Kontinuität und Aktualität aus der Antike stammender Modelle des Denkens und Handelns zu erfahren. Anhang: Klausuren und Korrekturanmerkungen
G Lat 13 Platon, "Der Staat", 7. Lektion 2,4 - 2,9 (= 360e - 367e = S. 128-137)
Pegasus 1/2002, 50GK 13 Latein Hinweise zur Kursarbeit im Semester Ich möchte Ihnen zur Förderung der Transparenz von Kursarbeit und Benotung einige Hinweise geben:
Pegasus 1/2002, 51Anmerkungen 1: Personenbezeichnungen gelten jeweils in der weiblichen und männlichen Form. 2: Ausgew. didaktische Publikationen:J. Blänsdorf: Das Naturrecht in der Verfassung - Von Ciceros Staatstheorie zum modernen Naturrrechtsdenken, in: Hans.Joachim Glücklich: Lateinische Literatur heute wirkend, Bd. II, Göttingen 1987, 32 f. E. Früchtel: Rechtsprinzip oder Menschenbild? Zur Interpretation von Cicero, de re publica III 12-19, in: Anregung 25 (1979), 19-24 T. Lambertz: Das Problem der Gerechtigkeit. Unterrichtsmodell zu Cicero, De re publica 3, 33, in: Anregung 35 (1989), 81-91 Zur fragmentarischen Überlieferung vgl. Reynolds, L.D. (Hg.), Texts and Transmission. A Survey of the Latin Classics, Oxford 1983, S. 131-132 3: Neben dem trivialen Grund, dass die Schülerbibliothek der Paulsen-Schule diese und keine andere Schulausgabe vorrätig hält, sprechen noch weitere Gründe für sie (M. Tullius Cicero, De re publica, vollständige Textausgabe und Erläuterungen v. H. Schwamborn, Paderborn 1971): Schwamborn bietet zwar nicht im eigentlichen Schülerkommentar, doch in den darüber hinaus in dieser Ausgabe zur Verfügung gestellten Anhängen und Erläuterungen reichhaltiges, dem interessierten Schüler sinnvoll Hintergründe vermittelndes Material; gerade die Aufbereitung der fragmentarisch überlieferten Bücher, hier also des 3. Buches, ist nicht nur eigenständig, sondern durchweg gut begründet. Die drucktechnisch gut unterscheidbare Kombination von Cicero-Original, spätantiken Referaten und sinnvoll verbindenden kommentierenden Texten erlaubt dem Schüler auch bei eigenständiger Lektüre, den Aufbau des Buches und den Zusammenhang einer beliebigen Textpassage schnell zu verstehen. Ähnliche Vorzüge weist die Aschendorff-Ausgabe, ganz zu schweigen von den Textauszügen in Ausgaben anderer Verlage, nicht auf. 4: J.L. Ferrary, Le discours de Philus (Cicéron De re publica III, 8-31) et la philosophie de Carnéade, REL 55, 1977, s 128-156; D.E. Hahm, Plato, Carneades and Cicero’s Philus (Cicero Rep. 3, 8-31), CQ N.S. 49, 1999, S. 167-183; dort auch die neuere weiterführende Literatur. 5: Als Kommentar für diesen Zweck sehr gut zu benutzen: W. Kersting, Platons "Staat", Darmstadt 1999; dort auch einschlägige andere Kommentare und Einführungen. Außerdem: La Reppublica I; II e III, trad. e comm. M. Vegetti, Neapel 1998. 6: Arbeitslosigkeit oder andere materielle Probleme offenbaren sich nicht im Verhalten der Kinder, sondern allenfalls im Problem der Finanzierung von Klassenfahrten. Die pädagogische Arbeit an der Paulsen-Schule ist also im Berliner Vergleich durchaus problemarm. 7: Die Zusammenfassung von Zweitsprachlern und Drittsprachlern ab der 11. Klasse wird an der Paulsen-Schule regelmäßig praktiziert und erzeugt in der Unterrichtspraxis keinerlei Probleme. Grammatische Lücken werden in der 11. Klasse geschlossen, und die geringfügigen Routinedefizite der Drittsprachler können durch geeignete zusätzliche Hilfen bei schriftlichen Arbeiten, besonders bei Klausuren, kompensiert werden. 8:Aristot. NE 1129b ff.; W. Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart/Weimar 2000; J. Rawls, A Theory of Justice, Cambridge/Mass. 1971 (dt.: J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975) 9: Textgrundlage der Platonlektüre ist die deutsche Reclam-Ausgabe in der Übersetzung von Karl Vretska, Stuttgart 1982 (UB 8205). Diese Ausgabe vereint mehrere Vorzüge: Sie bietet eine sorgfältige, für Schüler gut lesbare Übersetzung; sie bietet einen reichhaltigen und den interessierten Schüler weiterführenden Erläuterungsteil sowie eine gute und sinnvolle Einleitung; sie ist im Vergleich mit anderen deutschen Übersetzungen unschlagbar preisgünstig (und sie hatte für mich den Vorteil, in Kursstärke in der Schülerbibliothek der Paulsen-Schule zu stehen). Ziel der Leitfragen zur Platonlektüre war es insbesondere, die Schüler zu sehr genauer Platonlektüre im Hinblick auf das Nachvollziehen der Argumentationsweise anzuleiten. 10: S. Anm. 8
Bernd Linke, Paulsen-Gymnasium Berlin
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