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Carola Fengler, Berlin

Lateinunterricht und ausländische Schüler -

ein Erfahrungsbericht

1.         Einleitung

2.         Situation des Unterrichts an der Ernst-Abbe-Oberschule in 

            Berlin-Neukölln

2.1.      Zusammensetzung der Schülerschaft

2.1.1.   "Ausländische" Schüler

2.2.      Lateinangebot der Schule

2.2.1.   Wahlpflichtfach

2.2.2.  Gymnasiale Oberstufe

2.2.3.   Unterrichtsumfang und Organisation

2.2.4.   Unterrichtsmaterial

2.2.5.   Unterrichtsräume

2.3.      Akzeptanz des Angebots

2.3.1.   Schülerumfrage

3.         Sprachliche Aspekte des Lateinunterrichts mit Schülern

            nicht deutscher Herkunftssprache

3.1.      Die Benutzung des Artikels im Deutschen

3.1.1.   Lernen der Deklinationen

3.2.      Differenzierung von mündlichem und schriftlichem Deutsch

3.3.      Problem der Vokabelbedeutung

3.4.      Reduktion des Vokabelpensums

3.5.      Satzbau

3.6.      Valenz von Verben

3.7.      Hilfsverben im Deutschen

3.8.      Zur Bewertung von Verstößen gegen den deutschen Sprachgebrauch

3.9.      Meinungen von Schülern nicht deutscher Herkunftssprache

            zum Nutzen von lateinischem Sprachunterricht

3.10.    Übersetzen von lateinischer Originalliteratur ins Deutsche

4.         Kulturelle Aspekte des Lateinunterrichts mit Schülern

            nicht deutscher Herkunftssprache

4.1.      Interkulturelle Erziehung

4.2.      Aspekte interkultureller Erziehung im Lateinunterricht

4.2.1.   Beispiel aus der Unterrichtspraxis

4.3.      Römische Antike als Teil der Geschichte des eigenen Volkes

5.         Zusammenfassung und Ausblick

6.         Literaturverzeichnis


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1. Einleitung

Kürzlich behauptete eine Kollegin eines Gymnasiums im von "Ausländern" weit entfernten Berlin- Marzahn, man könne Latein nur dann sinnvoll unterrichten, wenn die Schüler vorher die deutsche Grammatik beherrschten. Diese These dürfte weit verbreitet sein. Ebenso wird auch von Fachkollegen oft die Auffassung vertreten, Ziel des Lateinunterrichts sei der Erwerb des Latinums. So gesehen ist der Lateinunterricht in erster Linie ein Selektionskriterium für künftige Studenten und wird dementsprechend fast nur an Gymnasien angeboten. Wer solchen Thesen folgt, nimmt dem Lateinunterricht eine große Zahl potenzieller Interessenten und erhärtet das Vorurteil, Latein sei schwierig. Wenn ein Schüler hört, dass er zuerst die deutsche Grammatik beherrschen muss, um Latein lernen zu können, wird er sicher ein Unterrichtsfach wählen, dass nicht an eine so hohe Voraussetzung gekoppelt ist. Hört der Schüler aber, dass Lateinunterricht immer auch die deutsche Grammatik einübt und den deutschen Wortschatz erweitert, wird sein Interesse für das Fach eher geweckt. Dies gilt besonders für die zunehmende Zahl von Schülern mit nicht deutscher Herkunftssprache: Ein 15jähriger Schüler, der im Elternhaus die mündliche Beherrschung der Muttersprache gelernt hat, in der Schule ab Klasse 1 dann mündliches und schriftliches Deutsch, ab Klasse 5 in der Regel Englisch, ab Klasse 7 Französisch – ein solcher Schüler ist nach meiner Erfahrung in keiner dieser vier Sprachen sicher, wenn er die 9.Klasse besucht. Viele dieser Schüler stammen aus Ländern rund ums Mittelmeer, ihre Familien sind aus Ländern des ehemaligen Römischen Reiches zu uns eingewandert. Kann Lateinunterricht einem solchen "ausländischen" Schüler Nutzen für die Kenntnis der bisher erlernten Sprachen und für das Finden der eigenen kulturellen Identität bieten? Dieser Frage soll im Folgenden an Beispielen aus der Unterrichtspraxis des Ernst-Abbe-Gymnasiums in Berlin-Neukölln nachgegangen werden, das seit einigen Jahren Erfahrungen mit Lateinunterrichts auch für "ausländische" Schüler sammelt. Lateinunterricht kann in dem hier vorgestellten Zusammenhang nur als Fallbeispiel einer Schule dargestellt werden. Ob und in welchem Rahmen diese Erfahrungen auf andere Unterrichtssituationen übertragbar sind, muss zunächst offen bleiben. Ein Erfahrungsaustausch über Lateinunterricht mit Schülern nicht deutscher Herkunft wäre wünschenswert.

 

2. Situation des Unterrichts an der Ernst-Abbe-Oberschule

An der Ernst-Abbe-Oberschule, einem Gymnasium mit der Sprachenfolge Englisch (in der Grundschule ab Klasse 5) und Französisch (am Gymnasium ab Klasse 7) lernen z. Zt. etwa 550 Schülerinnen und Schüler von der 7. Klasse bis zum Abitur. Sie werden unterrichtet von knapp 50 Lehrkräften mit deutscher Muttersprache. Es handelt sich um eine eher kleine, dreizügige Halbtagsschule. Die Schule liegt im verkehrsreichen und dicht besiedelten Norden des Stadtbezirks Berlin-Neukölln. Im Einzugsgebiet der Schule wohnen sehr viele Migranten türkischer Herkunft.

2.1. Zusammensetzung der Schülerschaft

Die Anzahl von Schülern nicht deutscher Herkunftssprache ist an der Ernst-Abbe-Oberschule überproportional hoch und noch immer steigend; er betrug am 21.2.2000 im 7. Jahrgang 82% (!), im 8.Jahrgang 55%, in den 9. Klassen 50%, im 10. Jahrgang 49%, in Klasse 11 und 12 jeweils 36%, im Abiturjahrgang 33%. Der Anteil dieser Schüler an der Gesamtschülerschaft betrug zu diesem Zeitpunkt 55%.1 Zwischen 30% und 50% der Schüler hatte in den vergangenen Jahren beim Eintritt in die Klasse 7 des Gymnasiums keine Gymnasialempfehlung der Grundschule. Oft ist mangelhafte Sprachkompetenz der Schüler im Deutschen ein Grund für die Einschätzung der Grundschule.


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2.1.1. "Ausländische" Schüler

Der Begriff "ausländische" Schüler ist bei näherer Betrachtung sehr komplex. Er umfasst grundsätzlich alle Schüler, in deren Elternhaus nicht oder nicht nur deutsch gesprochen wird, unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Die Erfahrung zeigt, dass die Zahl der Schüler, die einen deutschen Pass besitzen, aber nicht die deutsche Muttersprache sprechen, zunimmt. Im folgenden werden diese Schüler daher als Schüler nicht deutscher Herkunftssprache bezeichnet. Zu diesen Schülern gehören an der Ernst-Abbe-Oberschule u.a. Kinder

- von Migranten aus dem Mittelmeerraum, ein Teil von ihnen bereits in Berlin geboren,

- von Aussiedlern aus Osteuropa, vor allem aus Polen und Russland,

- von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten auf dem Balkan,

- von in Berlin lebenden Ostasiaten.

Neben den unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen dieser Schüler gibt es große Unterschiede in den Strukturen der Herkunftsfamilien und den dadurch mit bestimmten Lebensentwürfen der Jugendlichen. Meine gegenwärtige Lateingruppe im 9. Jahrgang setzt sich z. B. aus Schülern mit türkischer, polnischer, bosnischer, vietnamesischer und nur zwei Jugendlichen mit deutscher Muttersprache zusammen. Eine gesonderte sprachliche Förderung erhalten diese Schüler nicht. Für sehr viele dieser jungen Menschen gemeinsam gilt, dass sie die deutsche Sprache lediglich im Unterricht in der Schule benutzen, in der Freizeit und zunehmend auch in den Schulpausen aber ihre Muttersprache sprechen.

2.2. Lateinangebot der Schule

2.2.1. Wahlpflichtfach

Das Fach Latein wird an der Ernst-Abbe-Oberschule als Wahlpflichtfach in Klasse 9 angeboten. Neben Latein können die Schüler unter den Fächern Biologie, Chemie, Deutsch, Musik, Mathematik und Physik ihr Wahlpflichtfach wählen. In den ersten zwei Wochen nach Unterrichtsbeginn ist ein Wechsel des gewählten Fachs möglich, später je nach gewünschtem Fach erst nach einem Jahr. Da die Sprache Latein die dritte an der Schule unterrichtete Fremdsprache ist und für den Besuch der Oberstufe nur zwei Fremdsprachen erforderlich sind, können die Schüler auch nach den Klassen 10 bzw. 11 den Lateinunterricht beenden.

2.2.2. Gymnasiale Oberstufe

Im Bereich der Oberstufe bietet die Schule Kurse nach dem Interesse der Schüler an. Seit mehreren Jahren wählen die Schüler das Fach Latein sowohl als Grund- als auch als Leistungskurs. Insgesamt erreichte mehr als ein Drittel der Abiturienten das Latinum. Am Leistungskurs Latein des Abiturjahrgangs 2000 nahmen von 61 Abiturienten 13 Schüler teil, am Grundkurs weitere 8 (im 3. Semester bis zum Latinum 10) Schüler des Jahrgangs. Von diesen 21 (bzw. 23) Schülern waren 10 nicht deutscher Herkunftssprache, der Anteil dieser Schüler war im Lateinunterricht also höher als der Anteil an der Gesamtheit des Jahrgangs.

2.2.3. Unterrichtsumfang und Organisation

In allen Jahrgangsstufen erhalten die Schüler je eine Einzel- und Doppelstunde Lateinunterricht in der Woche, im Profil- und Leistungskurs eine weitere Doppelstunde. Der Unterricht wird von vier Kollegen deutscher Muttersprache erteilt, von denen zwei Teilzeitarbeit leisten. An der Schule findet eines der drei in Berlin angesiedelten Fachseminare Latein statt, das von einem Kollegen der Schule geleitet wird. Die Lerngruppen der Schule stehen als Seminarklassen zur Verfügung.


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2.2.4. Unterrichtsmaterial

In Klasse 9 und 10 wird der erste Band des Lehrbuchs "Salvete"2 benutzt, im Basis- und Profilkurs der Klasse 11 lesen die Schüler Übergangslektüre nach Wahl; die im 3. Lehrjahr noch fehlenden grammatischen Phänomene werden den Schülern lektürebegleitend durch von den Kollegen selbst hergestelltes Unterrichtsmaterial vermittelt.

2.2.5. Unterrichtsräume

Der Lateinunterricht findet in wechselnden Räumen statt. Seit 1998 steht dem Fachbereich ein Fachraum zur Verfügung, der mit einer Präsenzbibliothek, Freiarbeitsmaterial und 10 PC-Arbeitsplätzen ausgestattet ist. Die Ausstattung und Wartung der durch ein internes Netz verbundenen PCs obliegt den Fachlehrern. Jede Lateingruppe nutzt den Fachraum an einem Unterrichtstermin pro Woche.

2.3. Akzeptanz des Angebots

Deutete der vorige Abschnitt 2.2. schon darauf hin, dass der Lateinunterricht an der Ernst-Abbe-Oberschule in besonderer Weise von den Schülern angenommen ist, so zeigt sich diese Tatsache auch darin, dass seit Jahren immer zwischen 33% und 50 % des 9. Jahrgangs als Wahlpflichtfach Latein belegen. Dabei entspricht der Anteil von Schülern nicht deutscher Herkunftssprache im Mittel dem Anteil an der gesamten Schülerschaft. Der übrige Teil des Jahrgangs verteilt sich auf die 5-6 anderen angebotenen Kurse des Wahlpflichtfachunterrichts.

2.3.1. Schülerumfrage

Eine anonyme Umfrage unter allen Lateinschülern der Schule in der Zeit von April bis Juli 20003 gibt näheren Aufschluss darüber, was die Schüler am Lateinunterricht besonders schätzen: Grammatik- und Fremdwörterkenntnis wird von über 90% der befragten Schüler als nützlich oder sehr nützlich für andere Fächer bezeichnet. Ausdrücklich genannt wurde von den Schülern der Nutzen von Lateinkenntnissen für die deutsche Grammatik, für Fremdwörter im Bereich der Biologie, für das Vokabellernen im Französischen und Englischen sowie für Fremdwörter im Fach Geschichte. Mehr als 90 % der befragten Schüler würden das Fach wahrscheinlich oder auf jeden Fall wieder wählen. Die Muttersprache der Schüler wurde bei dieser Umfrage nicht erfasst, um die Anonymität zu wahren, dürfte aber angesichts der eindeutigen Ergebnisse auch nur eine höchstens untergeordnete Rolle spielen.

 

3. Sprachliche Aspekte des Lateinunterrichts mit Schülern nicht deutscher Herkunftssprache

Unterricht in modernen Fremdsprachen hat Interaktion und Kommunikation zum Ziel. Diese fällt den Schülern nicht deutscher Herkunftssprache auf einer sehr vereinfachten sprachlichen Ebene nicht schwer, weil sie vom Kindergarten an gewohnt sind, mehrsprachig zu agieren. Sprachanalyse findet auf dieser Ebene kaum statt, und so verfügen diese jungen Menschen oft in keiner der gelernten modernen Sprachen über ausreichende Grammatikkenntnisse, häufig auch über keinen ausreichenden Wortschatz. Bei solchen Sprachproblemen Hilfestellung zu leisten ist eine wichtige Aufgabe von Unterricht: "Jede Planung, Durchführung, Auswertung und Beurteilung von Unterricht muss die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache gleichermaßen berücksichtigen wie die der Kinder deutscher Herkunftssprache. Alle Lehrkräfte müssen befähigt werden, Sprachprobleme im Unterricht wahrzunehmen und methodisch-didaktisch darauf reagieren zu können."4 Lateinunterricht verlangt etwas völlig anderes als der Unterricht in modernen Sprachen: Im Lateinunterricht muss eine sprachliche Vorlage genau analysiert und eine dazu adäquate deutsche Formulierung gefunden werden. Das Umsetzen lateinischer Texte ins Deutsche zwingt den Schüler, auch Wörter und Konstruktionen zu benutzen, die er sonst


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vermieden hätte. Die Aussprache des Lateinischen entspricht dabei weitgehend den Regeln des Deutschen, Kenntnisse der lateinische Grammatik bilden eine gute Grundlage für viele moderne Sprachen. Die folgenden Einzelbeispiele mögen zeigen, welche Chance zur Verbesserung der deutschen Sprachkompetenz der Lateinunterricht besonders Schülern nicht deutscher Herkunftssprache bietet - was er ihnen aber auch abverlangt.

 

3.1. Die Benutzung des Artikels im Deutschen

Im mündlichen Gebrauch der deutschen Sprache meiden Schüler den Gebrauch der Artikel: "Gib ma ('n) Ball!" Im Deutschunterricht wird dem Schüler beim Diktat der richtige Artikel vorgegeben, im Aufsatz kann er sich auf Wörter beschränken, deren Genus er genau kennt. Während im Englischen das Genus der Substantive am Artikel kaum erkennbar ist und sich im Französischen auf das Genus maskulinum und Genus femininum beschränkt, gibt es im Deutschen wie im Lateinischen drei klar voneinander getrennte Genera, im Deutschen erkennbar am bestimmten Artikel, im Lateinischen an der Endung.

3.1.1. Lernen von Deklinationen

Für Schüler nicht deutscher Herkunftssprache ist es eine große Hilfe, wenn bei Deklinationsübungen im lateinischen Anfangsunterricht immer auch das Deutsche dekliniert wird. Beim Lernen lateinischer Substantive wird folglich nicht nur die lateinische Genitiv-Endung und das lateinische Genus im Gedächtnis gespeichert, sondern auch der deutsche Artikel. Die Hervorhebungen machen dem deutschsprachigen Leser deutlich, mit welchen Schwierigkeiten Schüler nicht deutscher Herkunftssprache kämpfen, wenn sie lateinische Formen ins Deutsche übersetzen: domus,-us f - das, ein Haus.: domus pulchra - das schöne Haus, ein schönes Haus / domus pulchrae - des, eines schönen Hauses, die schönen Häuser, (kein Artikel!) schöne Häuser. Die besonders häufigen Fehler beim Gebrauch des deutschen Dativs müssen in diesem Zusammenhang immer wieder geübt werden: domui pulchrae - dem, einem schönen Haus / domibus pulchris - den schönen Häusern, (kein Artikel!) schönen Häusern. Dazu ein Beispiel aus der Lektion VII B des Lehrbuchs "Salvete"5 : "Alii scutum, gladium galeamque habebant, alii reticulum et tridentem." Eine vietnamesische Schülerin übersetzt: "Die einen hatten einen Schild und ein Helm und die anderen einen Netz und einen Dreizack." Sie hat alle Formen als Akkusative erkannt, ihre Fehler liegen eindeutig im Bereich der deutschen Sprache.

3.2. Differenzierung von mündlichem und schriftlichem Deutsch

Auch Schüler, die im mündlichen deutschen Sprachgebrauch recht sicher wirken, scheitern beim Übersetzen an Problemen mit dem Schriftdeutsch: Der Satz "Vita servorum misera erat." wird von einer in Berlin geborenen Türkin mit "Das Leben von den Sklaven war unglücklich." übersetzt. Der korrekte Gebrauch des deutschen Genitivs kommt im gesprochenen Deutsch im Neuköllner Kiez nicht vor; falls der 2. Fall benötigt wird, benutzen die Menschen - auch solche mit deutscher Muttersprache - die Umschreibung mit der Präposition "von". Auch hier muss der Lateinlehrer erklären, korrigieren und die deutsche Sprachkompetenz um den korrekten Genitiv erweitern.

3.3. Problem der Vokabelbedeutung

Ein Problem der Vokabelbedeutung zeigt die Übersetzung der Überschrift der Lektion XI des Lehrbuchs "Salvete"6: "Amicus Rufi de incendio Troiae narrat." - "Rufus' Freund erzählt vom Feuer Trojas." Die Schülerin hat alle Signale richtig entschlüsselt. Sie hat im Vokabelverzeichnis als Übersetzung von incendium die Bedeutungen "Brand, Feuer" gefunden. Sie weiß nicht, dass im Deutschen das Wort "Feuer" für räumlich begrenzte


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Flammen, das Wort "Brand" für großflächige Feuer benutzt wird. Erst durch das Übersetzen des lateinischen Wortes ins Deutsche wird sie gezwungen, genau zu differenzieren und die hier einzig richtige Bedeutung "Brand" anzuwenden. Da solche Übersetzungsprobleme nur bei Schülern nicht deutscher Muttersprache auftreten, gibt es bisher dazu kaum Literatur. Ein kurzer Aufsatz7 zum Problem der Mehrdeutigkeit von Verben der modernen Fremdsprachen half mir als Lehrer immerhin, Probleme der Schüler eher zu erkennen. Viele Schüler sind mit dem bloßen Lernen der Vokabeln überfordert, weil sie oft die im Lehrbuch angegebene deutsche Vokabelbedeutung nicht richtig verstehen. Vielfältige Erläuterungen der Vokabelbedeutungen im Unterricht und das Einbeziehen der vorhandenen Kenntnisse moderner Fremdsprachen sind daher notwendige Ergänzungen des üblichen Vokabellernens.

3.4. Reduktion des Vokabelpensums

Es dürfte klar sein, dass die Zahl der Vokabeln, die gelernt werden müssen, beim Unterrichten von Schülern mit solchen Schwierigkeiten gegenüber herkömmlichem Lateinunterricht beschränkt werden muss. An der Ernst-Abbe-Oberschule verankern die Schüler in den ersten drei Unterrichtsjahren nur die 400 bei den gängigen Schulautoren häufigsten lateinischen Vokabeln8 in ihrem Gedächtnis, für alle übrigen kann ab Mitte der 11. Klasse ein Wörterbuch9 benutzt werden. Statt großer Mengen von Vokabeln werden weniger Beispiele gründlich und mit sehr genauer deutscher Übersetzung gelernt.

3.5. Satzbau

Dazu ein anderes Beispiel aus der Lektion XI des Lehrbuchs "Salvete"10 über den trojanischen Krieg: "Tum autem Graeci ex equo exierunt et tandem oppidum superare potuerunt." Die Übersetzung einer polnischsprachigen Schülerin lautet: "Dann sind die Griechen aber aus dem Pferd herausgegangen und haben endlich gekonnt, die Kleinstadt zu besiegen." Sie hat alle lateinischen Sprachsignale richtig entschlüsselt. Dass ihr dennoch keine korrekte deutsche Übersetzung gelungen ist, hat zwei Ursachen, deren erste dem Schüler mit deutscher Muttersprache als Schwierigkeit wohl gar nicht bewusst wird: Vollverben wie "hoffen", "glauben" etc. werden im Deutschen mit dem erweiterten Infinitiv konstruiert. Der Satz "... und haben endlich geglaubt, die Kleinstadt zu besiegen" wäre korrektes Deutsch. Bei Hilfsverben wie "können" und "sollen" aber benutzt der Deutsche die Konstruktion: "...haben endlich die Kleinstadt besiegen können". Der Schülerin war dieser Unterschied im deutschen Sprachgebrauch bis zu der fehlerhaften Übersetzung nicht bewusst; deutsche Schüler benutzen die genannten Konstruktionen in der Regel intuitiv richtig. Das zweite Problem der vorgelegten Übersetzung ist das Wort "Kleinstadt". Wer die Ausmaße Trojas kennt, wird kaum auf diese Übersetzung kommen. Die Schülerin hatte im Lehrbuch gelernt: oppidum, oppidi n. - "die Kleinstadt". Der Lehrbuchautor wollte vielleicht die Bedeutung dieser Vokabel gegen urbs abgrenzen, war sich aber nicht im Klaren darüber, dass viele heutige Schüler über Troja so gut wie nichts wissen. Da alle Schüler die Vokabel oppidum in der gleichen Weise übersetzt haben, liegt hier kein Problem der Muttersprache, sondern eines der fehlenden Sachkenntnis vor, das der antikenkundige Lehrbuchautor wohl nicht erkannte.

3.6. Valenz von Verben

Vokabeltrainingsphasen im Unterricht verhindern, dass der Schüler mit seinen Sprachproblemen allein zu Hause vor seinem Vokabelverzeichnis sitzt: Das Verb exspectare wird dem Schüler als Lernvokabel des Lehrbuchs "Salvete"11: mit der einzigen Bedeutung "erwarten" angeboten. Folglich übersetzt eine nicht deutsche Schülerin den Satz "Rufus et amici diu exspectant." mit "Rufus und seine Freunde erwarteten lange.".


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Der Lehrbuchautor hat offenbar die Valenz der Verben exspectare und "erwarten" nicht genau genug miteinander verglichen, was wohl dadurch zu erklären ist, dass Lehrbuchautoren bisher nicht davon ausgehen, dass auch Lernende nicht deutscher Herkunftssprache ein Lateinbuch benutzen.

3.7. Hilfsverben im Deutschen

Ein häufig beobachtetes Phänomen ist, dass der Schüler die lateinischen Formen richtig bestimmen kann, an der Übertragung ins Deutsche aber scheitert. Meine Schüler des Leistungskurses haben z. B. bei der Übersetzung indirekter Reden aus dem Lateinischen deutsche Verbtabellen12 benutzen dürfen, um die richtigen Formen des deutschen Konjunktivs zu finden - das lateinische Original zu verstehen, war für die Schüler keine große Schwierigkeit. Zu den Problemen, die die Schüler nicht deutscher Herkunftssprache mit deutschen Hilfsverben und Verben haben, findet sich Fachliteratur13 aus dem neusprachlichen Forschungsbereich.

3.8. Zur Bewertung von Verstößen gegen den deutschen Sprachgebrauch

Bei der Bewertung solcher fehlerhaften deutschen Formulierungen, wie in den Beispielen oben gezeigt, muss die Übersetzung sehr genau analysiert werden, denn es ist nicht immer leicht, einen Fehler eindeutig der Unkenntnis entweder der lateinischen oder der deutschen Sprache zuzuordnen. Es hat sich bewährt, Fehler im deutschen Sprachgebrauch bei richtiger Entschlüsselung der lateinischen Vorlage im Anfangsunterricht in Klasse 9 und 10 lediglich schriftlich berichtigen zu lassen, aber nicht als Fehler zu ahnden. Solche Fehler werden ab Klasse 11 als Verstöße gegen die sprachliche Richtigkeit im Deutschen, nicht als Übersetzungsfehler bewertet.14 Wenn zu früh mit der Bewertung solcher Mängel in der Kenntnis der deutschen Sprache begonnen wird, verlieren die Schüler nicht deutscher Muttersprache rasch die Lust am Lateinlernen, im anderen Fall begreifen sie den Lateinunterricht als Chance für die Erweiterung ihrer Sprachkompetenz in der Basissprache Latein und der Verständigungssprache Deutsch.

3.9. Meinungen von Schülern nicht deutscher Herkunftssprache zum Nutzen von lateinischem Sprachunterricht

Eine türkischsprachige Schülerin bestätigt am Ende der Spracherwerbsphase in Klasse 11 auf die Frage, was der Lateinunterricht ihr als Schülerin nicht deutscher Herkunftssprache genützt hat, noch einmal die oben genannten Aussagen: "...als erstes läßt sich wohl sagen, dass sich meine Grammatikkenntnisse weitaus verbessert haben. Dazu kommt noch, wenn man diese immer anwenden muss, verlernt man sie auch nicht so schnell (dies war bei mir ab der 7.Klasse der Fall)." (Hervorhebung durch den Autor) Mit den Worten "ab der 7. Klasse" meint die Schülerin die Zeit vor Beginn des Lateinunterrichts in Klasse 9, in der sie zwar deutsche, englische und französische Grammatik gelernt hat, diese aber eben nicht immer anwenden musste, wie es beim Übersetzen lateinischer Texte zwingend erforderlich ist. "Ich persönlich sehe Latein als eine Bereicherung an und freue mich, dass der Unterricht im Grammatikteil sehr gut auf andere Fächer übertragbar ist." Eine andere türkischsprachige Schülerin fasst diese Erfahrung knapp zusammen: "Man lernt die deutsche Sprache besser bzw. intensiver. ... Man kann sehr viele andere Sprachen leichter lernen."

3.10. Übersetzen von lateinischer Originalliteratur ins Deutsche

Fachdidaktische Aufsätze gehen bisher von Schülern mit deutscher Muttersprache aus: "Dass gerade bei der Übersetzung ins Deutsche, die niemals eine wortwörtliche sein kann (und will), stets um den bestmöglichen Ausdruck, eine treffende, den Sinn präzise wiedergebende


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Wendung "gerungen" werden muss, führt zu einem deutlichen Mehr an muttersprachlicher Kompetenz, Ausdrucksvielfalt und Sprachgefühl."15 (Hervorhebung vom Autor) Dass dieses Ringen um die gegenwärtig bestmögliche Übersetzung gerade auch Schülern mit nicht deutscher Herkunftssprache zu erheblich erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten im deutschen Sprachgebrauch verhilft, liegt auf der Hand. Der Leistungskurs des Abiturjahrgangs 2000, der sich aus je 6 Schülerinnen mit deutscher und türkischer Muttersprache und einer Jugoslawin zusammensetzte, hat im April/Mai 2000 eine Übersetzung von Catulls carmen 8 erarbeitet, die auch dem des Lateinischen Unkundigen über mehrere Hilfemenüs einen Zugang zum Textverständnis ermöglicht.16 Eine der türkischen Schülerinnen ging nach der Abiturprüfung in ihrer Einschätzung dieses Lateinunterrichts über einen bloß praktischen Nutzen hinaus: "...Latein war für mich sowohl Deutsch, Geschichte als auch Kunst. Allein "Übersetzen" genügt nicht, um diese Sprache zu verstehen. Sprachanalyse, die Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache, Interpretation des Textes und zugleich das Erlangen historischer Hintergründe ermöglichten mir den Zugang zu dieser Sprache. Das Beschäftigen mit den Stilmitteln, den unterschiedlichen Metren und den Vokabeln zeigten mir die Vielfalt und die große Variationsbreite der lateinischen Sprache. Latein ist - wie auch alle Sprachen - eine Kunst, mit der vieles ausgedrückt werden kann." (vgl. dazu 3.9.)

4. Kulturelle Aspekte des Lateinunterrichts mit Schülern nicht deutscher Herkunftssprache

Einen weiteren "Nutzen" des Lateinunterrichts beschreibt eine Schülerin des türkischen Kulturkreises nach der Lektüre von Epigrammen Martials, in deren Verlauf auch soziale und kulturelle Themen besprochen wurden, folgendermaßen: "Durch den Sozialkundeunterricht lernt man unterschiedliche Kulturen kennen, (römische) Antike, Griechenland und durch Gespräche in der Klasse die Kultur der Mitschüler."

Das Kennenlernen anderer Kulturen, wie es von der Schülerin dargestellt wird, ist ein unstrittiges Ziel von Unterricht überhaupt17 und ein wesentliches Ziel des Lateinunterrichts.18 Die KMK-Empfehlung zur interkulturellen Bildung und Erziehung in der Schule vom 25.10.199619 erwähnt mit keiner Silbe den Lateinunterricht. Doch dürfte jedem Lateinlehrer klar sein, dass in jeder Lateinstunde durch die historische Dimension der Texte genau die folgende These der KMK erfüllt wird: "In der Auseinandersetzung zwischen Fremdem und Vertrautem ist der Perspektivwechsel, der die eigene Wahrnehmung erweitert und den Blickwinkel der anderen einzunehmen versucht, ein Schlüssel zu Selbstvertrauen und reflektierter Fremdwahrnehmung. Die durch Perspektivwechsel erlangte Wahrnehmung der Differenz im Spiegel des anderen fördert die Herausbildung einer stabilen Ich-Identität und trägt zur gesellschaftlichen Integration bei. Eine auf dieser Grundlage gewonnene Toleranz akzeptiert auch lebensweltliche Orientierungen, die mit den eigenen unvereinbar erscheinen, sofern sie Menschenwürde und -rechte sowie demokratische Grundregeln achten."20

4.1. Interkulturelle Erziehung

"Auf den Zuzug von Menschen unterschiedlicher Herkunft nach Deutschland waren viele Bereiche der Gesellschaft nicht vorbereitet..."21 So umreißt die KMK treffend die bis heute an vielen Schulen vorherrschende Situation. Erst gegen Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts rückte das Problem der Migrantenkinder in größerer Breite in den Bereich der pädagogischen Diskussion. Dabei stand zunächst die Spracherziehung in der Grundschule im Vordergrund der Diskussion; das Unterrichtsprinzip "Deutsch als Zweitsprache" fand Einzug in die Berliner Schulen22. Als Modellversuch werden an einzelnen Großstadtschulen deutsch-türkische Klassen zweisprachig unterrichtet.23 Eine Fortführung des zweisprachigen Unterrichts am Berliner Gymnasium gibt es nach meiner Kenntnis noch nicht.


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4.2. Aspekte interkultureller Erziehung im Lateinunterricht

Lateinunterricht mit aus deutschen und nicht deutschen Schülern gemischten Lerngruppen ist bis jetzt kein Gegenstand pädagogischer oder fachdidaktischer Diskussion. Die Besonderheit des Lateinunterrichts mit "ausländischen" Schülern soll ein Zitat beleuchten: "Gymnasialbildung vermittelt die bewusste Erfahrung der eigenen Kultur und der Kultur Europas und erzieht zu prinzipiellem Fragen. Sie macht vertraut mit der Geschichte und vermittelt Werte der Literatur und Kunst mit solcher Intensität, dass im intellektuellen wie emotionalen Zugriff erfahrbar wird, inwiefern sie sich für die eigene Kultur und die Kultur Europas als konstitutiv erwiesen haben. Solche Kulturerfahrung macht eigene Identitätsfindung möglich und befähigt - auch auf der Grundlage von Sprachkenntnissen - fremden Kulturen vorurteilsfrei gegenüberzutreten, so dass die bestehende Isolation der Weltkulturen allmählich überwunden werden kann."24 Wie aber verhält es sich, wenn es innerhalb der Lateingruppe einer Schule divergierende "eigene" Kulturen gibt? Die Diskussion unterschiedlicher Lebensentwürfe ist in kulturell bunt gemischten Gruppen nach meiner Erfahrung oft sehr emotional und undifferenziert. Lateinunterricht bietet ein ganz entscheidendes Plus gegenüber dem Gespräch ausschließlich über heutige Kulturen: wenn als zur Gegenwart kontrastierende Folie die Lebensgestaltung von Menschen der Antike benutzt wird, werden die eigenen Lebensentwürfe durch den zeitlichen Abstand gewissermaßen von einer "höheren Warte" aus betrachtet. Dadurch lernen die Schüler, nicht nur die fremde Kultur, sondern auch die eigene kritisch zu betrachten und Unterschiede zu akzeptieren.

4.2.1. Beispiel aus der Unterrichtspraxis

Zwei nicht deutsche Abiturientinnen aus dem LK Latein des Jahres 2000 bereiten während der Prüfungsvorbereitungen ihre Hochzeit vor, die unmittelbar nach den Prüfungen bevorsteht. Bei den deutschen Mitschülerinnen stößt diese Lebensplanung in der direkten Konfrontation auf völliges Unverständnis, zumal die eine der beiden jungen Frauen bekundet, dass sie nach der Hochzeit für ein Jahr im Haushalt der Großfamilie tätig sein wird, ehe sie eine Berufsausbildung beginnen "darf". Die Schülerinnen informieren sich nun gegenseitig über Sitten und Bräuche zur Hochzeit, das Verständnis für den Lebensentwurf der jeweils anderen Kultur bleibt aber zunächst gering. Der Blick auf antike Frauengestalten - Catulls Lesbia, die Frauen der Familie des Augustus, die geraubten Sabinerinnen - mildert in dieser Unterrichtssituation die Schärfe der Konfrontation, erweitert andererseits das Spektrum möglicher Lebenspläne für Frauen (und Männer) damals und heute25. Im Anschluss an diese Phase des Unterrichts gelingt den Schülerinnen eine genauere Begründung der eigenen Position, und Toleranz gegenüber der anderen Kultur fällt ihnen leichter.

4.3. Römische Antike als Teil der Geschichte des eigenen Volkes

Das "vertraute Fremde" der im Lateinunterricht vermittelten antiken Kultur bietet deutschen wie nicht deutschen Schülern eine besondere Chance: für fast alle Schüler - ausgenommen die Jugendlichen ostasiatischer Herkunft - ist die griechisch-römische Antike ein Stück der eigenen, nämlich der europäischen Kulturgeschichte. Polnische und türkische, arabische, mazedonische, serbische und bosnische Schüler finden wie die deutschen Mitschüler Spuren der eigenen Geschichte, oft auch der Herkunftssprache, im gemeinsamen Lateinunterricht. Beispielhaft für das wachsende Bewusstsein türkischer Menschen für bis in die Antike reichende Traditionen äußert Orhan Bingöl: "Die Tradition, sich ein farbenfrohes Zuhause zu schaffen, lebt in der Türkei noch immer fort. Wie sich diese Tradition gebildet und durchgesetzt hat, können uns Wandmalereien und Mosaike aus Altanatolien vor Augen führen. Obwohl die Türkei als Gebiet von vielen antiken Zivilisationen bekannt ist, weiß man im allgemeinen wenig vom Reichtum des Landes an Werken der Mal- und Mosaikkunst."26


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Umso weniger sind sich zu Beginn des Lateinunterrichts Schüler solcher Traditionen bewusst. Erst im Lateinunterricht erfahren sie von ihren Wurzeln, Wurzeln, die archäologische Zeugnisse ebenso einschließen wie Inschriften und Baudenkmäler. Das Markttor von Milet im Berliner Pergamonmuseum beeindruckt z. B. nicht nur viele Touristen, sondern ist auch für die Schüler meiner 9. Klasse interessant: ein Beispiel römischer Staatsarchitektur der Kaiserzeit, gebaut in der antiken Provinz Asia, der heutigen Türkei, ausgestellt heute in Berlin. Im Rahmen einer ersten Exkursion meiner WPF-Gruppe besichtigten wir das Tor, aber nicht nur dies. Ein Exkursionsbericht beginnt folgendermaßen: " Die Lateiner zogen ins Pergamonmuseum, um ihr Wissen noch mehr zu bereichern. Es ging kurz vor 10 Uhr los. Rein in die U-Bahn bis zum "Alex", vorbei am Fernsehturm, dem Neptunbrunnen und der Marienkirche, direkt auf die Museumsinsel, wo auch schon der Herr wartete, der die Führung leitete." Beim Neptunbrunnen entdecken wir Spuren, die uns nach Rom auf die Piazza Navona der Renaissancezeit führen und von dort zu antiken Zirkusspielen. (Natürlich hatten wir dies im Unterricht vorbereitet.) Die europäische Nachkriegsgeschichte wird an der Brunnenfigur sichtbar, die den Fluss Weichsel darstellt. Unsere beiden polnischsprachigen Mitschüler sind persönlich von dieser Geschichte betroffen, die in letzter Konsequenz zur Übersiedlung ihrer Familien nach Berlin führte - übrigens kamen beide als Kleinkinder noch vor der Wende hierher, und sie erinnern sich auch noch an die Flucht. Die Marienkirche beeindruckt die katholischen Schüler durch ihre schlichte (!) Ausstattung, die türkischen Schüler interessieren sich für die Liedertafeln, das Singen von Liedern nach einem Gesangbuch im Gottesdienst ist ihnen bis dahin fremd. Es ist nicht Zeit genug, auf den lateinischen Ursprung vieler Kirchengesänge einzugehen, ein Hinweis auf den lateinischen Text der katholischen Messe muss an dieser Stelle genügen. Aber das Interesse der Schüler ist geweckt, und als wir wenige Wochen später in der Hamburger Petrikirche und am Hamburger Rathaus lateinische Inschriften entziffern, haben diese Latein-Anfängern im ersten Lehrjahr schon einen tieferen Eindruck davon, dass die lateinische Sprache und die antike Kultur in vielen Teilen Europas ihre Spuren hinterlassen haben, auch da, wo die Römer selbst nie hin gelangt sind. Das Entdecken gemeinsamer Wurzeln kann ein Bewusstsein für eine europäische Geschichte schaffen, in der die Sprache Latein - neben Griechisch - in vielfacher Hinsicht bis heute eine große Rolle spielt.

 

5. Zusammenfassung und Ausblick

Lateinunterricht in der Schule kann für junge Menschen nicht deutscher Herkunftssprache in besonderer Weise eine Chance sein,

- Sprachkompetenz im Deutschen zu verbessern,

- Kenntnisse der Grammatik zu vertiefen,

- größere Sicherheit im Umgang mit Fremdwörtern zu erwerben,

- Kenntnisse moderner Fremdsprachen zu reflektieren und ggf. miteinander zu verknüpfen,

- europäische Kulturgeschichte kennenzulernen,

- die eigene kulturelle Identität zu reflektieren.

Diese Ziele können erreicht werden, wenn der Lateinunterricht

- Mängel der deutschen Sprachkompetenz ausgleicht, nicht als Übersetzungsfehler ahndet,

- auf die besonderen Schwierigkeiten der Schüler beim Vokabellernen angemessen reagiert,

- Schwierigkeiten der Schüler durch besondere Formen des Lernens ausgleicht (verstärkte Übungsphasen im Unterricht, Binnendifferenzierung, eigenverantwortliches Lernen),

- Beispiele aus der Kulturgeschichte der Schüler in den Unterricht einbezieht,

- auch lateinische Texte aus späteren als der "goldenen" Epoche im Unterricht behandelt.


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Wenn, wie z. Zt. an der Ernst-Abbe-Oberschule, der Anteil der Schüler nicht deutscher Herkunftssprache 50% übersteigt, wird eine Integration der Schüler in ein deutsches Umfeld unmöglich. Deutsche Schüler geraten in die Rolle einer Minderheit. Für die aus dieser multikulturellen Situation entstehenden Fragen und Probleme hat der Schulträger im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands zu einem Teil Europas politische Verantwortung. Für den Bereich des Gymnasiums, an dem der Lateinunterricht traditionell seinen Platz hat, gibt es bisher weder Empfehlungen noch m. E. ausreichende Hilfestellungen für die Lehrkräfte, die bereits jetzt eine stetig zunehmende Zahl von Schülern nicht deutscher Herkunftssprache unterrichten. Eine Fortführung zweisprachigen Grundschulunterrichts an Gymnasien würde die Übersetzung lateinischer Texte auch z. B. ins Türkische ermöglichen. Für einen solchen Unterricht gibt es aber bisher weder eine Grundlage für die Schule noch Ausbildungsmöglichkeiten an deutschen Universitäten. Die raschen Veränderungen der gesellschaftlichen und schulischen Wirklichkeit in der zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sind nicht umkehrbar, sie erfordern dringend die unterstützende Mitarbeit von Universität, Fachdidaktik und Politik. "Zukunft braucht Herkunft." Das Schulfach Latein kann, wenn es sich unter Bewahrung seiner Traditionen neuen Lerngruppen öffnet27, aufgrund seines noch immer aktuellen Modellcharakters von Sprache und seiner historisch begründeten europäischen Dimension einen wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung leisten und weitere Liebhaber finden.

6. Literaturverzeichnis

Bartsch, W.: Tempus, Modus, Aspekt, Die systembildenden Ausdruckskategorien beim deutschen Verbalkomplex, Frankfurt/Main 1980

Bezirksamt Neukölln von Berlin, Abt. Bildung, Schule und Kultur, SchulOrg1, Gymnasien, Schülerzahlen, Stand 21.2.2000

Bertram, A. u. a.: Salvete, Texte und Übungen, Gesamtband, Berlin 1995

Bingöl, O.: Malerei und Mosaik der Antike in der Türkei, Mainz 1997

Dienstblatt des Senats von Berlin, Teil III - Schulwesen, Wissenschaft, Kultur, Nr. 3 vom 16.3.1989, AV Abitur vom 5.12.88, § 11, Nr.7

Fachbereich Latein auf der Schulhomepage, in URL:

http://www.ernst-abbe.de

Fengler, C.: Fragebogen zum Lateinunterricht, 30 Fragen zum Lateinunterricht an der Ernst-Abbe-Oberschule, Berlin 2000 (unveröffentlicht)

Gogolin, I.: Gutes Deutsch - nur zweisprachig, in: Erziehung und Wissenschaft 6/2000

Heintze, A., Nehr, M., Eksi, M., Mut, E.: Lernfelder-Interkulturelle Erziehung: Zweisprachige deutsch-türkische Erziehung in der Berliner Schule, in: URL:

http://bebis.cidsnet.de/faecher/feld/interkultur/sprache/index.html, Berlin 2000

Kühne, J.: Die 400 wichtigsten Vokabeln, Berlin o. J. (unveröffentlicht, zum internen Gebrauch der Ernst-Abbe-Oberschule)

Kultusministerkonferenz (KMK), Empfehlung der: Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.96, in URL:

http://bebis.cidsnet.de/faecher/feld/interkultur/allgemeines/index.html

Ludolph, M.: Jagdszenen in Vindolana - Latein an englischen Grundschulen, in: Forum Classicum 2/2000, 97-99

Maier, F.: Latein auf gefestigter Basis in die Zukunft, in: Forum Classicum 1/1997, 1-8

Schmude, M. P.: Latein für das 21. Jahrhundert - Grundlagen eines europäischen Gymnasiums, in: Forum Classicum 1/1997, 8-11

Scholtes, G.: Mehrdeutigkeit von Verben als sprachliches und didaktisches Problem, in: Die neueren Sprachen, Grammatikunterricht, Bd. 80, Heft 3, Frankfurt/Main 1981, 223 ff.

Schweers, A.: Frauen- und Männerbilder im alten Rom, in: AU 2/1999, 2-14

 


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Senatsrundschreiben II Nr. 35/1998 Deutsch als Zweitsprache in der Berliner Schule, vom 25.11.98, Berlin 1998

Senatsverwaltung für Schule, Berufsbildung und Sport: Vorläufiger Rahmenplan für Unterricht und Erziehung in der Berliner Schule, Gymnasiale Oberstufe, Latein, gültig ab 1994/95, Berlin 1994

Stowasser J., Petschenig, M., Skutsch, F.: Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, München 1994

Weil, G.: Lernfelder-Interkulturelle Erziehung: Deutsch als Zweitsprache, in: URL:

http://bebis.cidsnet.de/faecher/feld/interkultur/daz/index.html, Berlin 1999

Wendt, H. F.: Langenscheidts Verbtabellen, Deutsch, Berlin 1987

 

Anmerkungen

1. Vgl. Bezirksamt Neukölln von Berlin (2000)

2. Vgl. Bertram u. a. (1995)

3. Vgl. Fengler (2000)

4. Senatsrundschreiben (1998)

5.Bertram u. a. (1995), 30

6.Bertram u. a. (1995), 44

7. Vgl. Scholtes (1981)

8. Vgl. Kühne (o. J.)

9. Vgl. Stowasser, Petschenig, Skutsch (1994)

10.Bertram u. a. (1995), 44

11.Bertram u. a. (1995), 192

12. Vgl. Wendt (1987)

13.Vgl. Bartsch (1980); Scholtes (1981)

14.Vgl. Dienstblatt des Senats von Berlin (1989), §11, 7

15.Schmude (1997), 10

16.Vgl. Fachbereich Latein, in:URL:

http://www.ernst-abbe.de

17.Vgl. KMK (1996), in URL:

http://bebis.cidsnet.de/faecher/feld/interkultur/allgemeines/index.html

18.Vgl. Senatsverwaltung für Schule (1994), 19

19.Vgl. KMK (1996), in URL:

http://bebis.cidsnet.de/faecher/feld/interkultur/allgemeines/index.html

20.KMK (1996), in URL:

http://bebis.cidsnet.de/faecher/feld/interkultur/allgemeines/index.html

21.KMK (1996), in URL:

http://bebis.cidsnet.de/faecher/feld/interkultur/allgemeines/index.html

22.Vgl. Weil (1999), in: URL:

http://bebis.cidsnet.de/faecher/feld/interkultur/daz/index.html

23.Vgl. Gogolin (2000); Heintze u. a. (2000) in: URL:

http://bebis.cidsnet.de/faecher/feld/interkultur/sprache/index.html

24.Maier (1997), 6

25.Vgl. Schweers (1999)

26.Bingöl (1997), 7

27.Vgl. Ludolph (2000)

 

 

 

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