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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 57

Dorothea Weiß

Catull, c. 8. und der Übersetzungsvergleich

 

1. Was ist eine gute Übersetzung?

Jegliches Erlernen alter Sprachen beginnt in der Regel mit der Übung des Übersetzens. Die Beschäftigung mit der lateinischen Sprache kann ohne Übersetzungsarbeit kaum gelingen. Dennoch wird die Übersetzung als solche selten unmittelbar thematisiert.(1) Für einen Vergleich von Übersetzungen ist die Auseinandersetzung mit der Frage, was eine gute Übersetzung ausmacht, welchen Kriterien sie genügen muss und an welchen grundsätzlichen Maximen sie sich ausrichten kann, jedoch eine grundlegende Voraussetzung. Deshalb sollen zu Beginn dieses Beitrags zunächst einige Probleme des Übersetzens und besonders Fragen des Übersetzens aus dem Lateinischen grob umrissen werden. Der Philologe und Übersetzer Wolfgang Schadewaldt beendete einen Vortrag zum Übersetzen mit folgendem Satz: „Ich bin mir bewußt, daß es mehr Erwägungen als Lösungen waren, die ich Ihnen in dieser Stunde dargeboten habe. Eben dieses liegt im Wesen der Frage nach dem Übersetzen begründet.“(2) Damit sind wesentliche Probleme des Übersetzens auf den Punkt gebracht. In den vergangenen Jahrzehnten nahm das Interesse an den theoretischen Problemen des Übersetzens zu.(3) Doch einfache Antworten oder gar ein Konsens in zentralen Fragen des Übersetzens werden wohl nie gefunden werden können.

 

Schwierigkeiten der literarischen Übersetzung

Literarische Texte sind durch eine enge Verknüpfung von Inhalt und Form gekennzeichnet. Ein Autor verdeutlicht Aussagen durch eine bewusste und gezielte Instrumentalisierung der Sprache. Sie wird benutzt, um Assoziationen zu wecken. Durch die Verwendung bestimmter Begriffe, Stilmittel, Satzstellungen, Wortfelder, kurz: durch die Verdichtung der Sprache bekommt der Leser Raum zur Interpretation. Dies bedeutet aber zugleich, dass, je größer die literarische Qualität des Originals ist, je mehr Schichten zu einem kunstvollen Gesamttext verwoben sind, desto größer auch das Ausmaß der Textverzerrung und des Informationsverlustes bei einer Übersetzung ist.

Moderne Übersetzungen versuchen sich in der Regel an einigen Grundsätzen zu orientieren, die man als eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner auffassen kann. So darf ein Übersetzer nicht nach Belieben kürzen oder hinzufügen. Er darf nicht versuchen, das Original zu überbieten, und sollte erst recht nicht versuchen, es zu parodieren.(5)


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Dies hat auch zur Folge, dass ein Übersetzer nicht, im Gegensatz zu einem Literaten oder gar Dichter, aus einer endlosen Fülle von Möglichkeiten schöpfen kann, sondern dass er sich an den strengen Rahmen der ausgangssprachlichen Vorlage und der zielsprachlichen Sprachnorm zu halten hat.

 

Kann man poetische Texte übersetzen?

Besonders komplex sind poetische oder lyrische Texte. Sie stellen die höchste Stufe der sprachlichen Verdichtung dar. „Wörter, Metrum, Rhythmus sind nicht mehr Ornament und Aufputz eines Sinnes, der auch anders ausdrückbar wäre, sondern sie sind so unauflöslich miteinander verbunden wie die beiden Seiten des Saussureschen Blattes Papier.“(5) Ist Dichtung deshalb per se unübersetzbar? Offensichtlich nicht – wie könnten sich sonst viele anderssprachige Dichter in deutscher Übersetzung in unseren Bibliotheken und Bücherregalen finden? Je stärker ein Gedicht durchformt ist, desto schwieriger lässt es sich in eine andere Sprache übertragen. Sollte bei der Übersetzung deshalb die Sinn- oder die Formtreue stärker gewichtet werden, oder gibt es gar einen Mittelweg? Soll ein Gedicht möglichst treu, Wort für Wort nachgebildet werden, auch auf die Gefahr hin, dass es dann für deutsche Hörer sehr fremd klingt? Oder liegt der Schwerpunkt auf dem Sinn eines Gedichtes? Wie hält man es mit Stilmitteln und der Versform eines gedichteten Textes? Rufen die formalen Mittel, die ein Autor wählte, wenn man sie eins zu eins in eine andere Sprache überträgt, dieselben Assoziationen und Bilder hervor, gesetzt den Fall, dass sie übertragbar sind? Werden sie als solche überhaupt vom zielsprachlichen Leser wahrgenommen?

Jeder Übersetzer metrischer Texte muss eine Grundsatzfrage beantworten: Ist er der Meinung, dass eine Übersetzung grundsätzlich in der Lage ist, bei ihren Lesern dieselben, oder wenigstens annähernd dieselben Bilder und Emotionen hervorzurufen, die sie bei den zeitgenössischen oder ausgangssprachlichen Lesern hervorrief? Oder geht er davon aus, dass dies sowieso nicht möglich sei, und versucht stattdessen unter Verzicht auf Übertragung der Metrik und der Stilmittel den Inhalt so genau wie möglich wiederzugeben? Die Antworten der Übersetzer und Übersetzungstheoretiker sind sehr unterschiedlich. Eine lautet: Eine Versübersetzung, bei der Reimvokale des Originals bewahrt werden, sei allen anderen Lösungen vorzuziehen, weil Vokale für das emotive Gefüge wichtig seien.(6) Dagegen werden Übersetzungen von Versen oft gerade durch den Zwang des Verses sehr unpoetisch, denn es sind Umstellungen, Auslassungen und Füllwörter nötig. So muss diese Frage auch weiterhin offen bleiben und darf nicht mit einem ‚richtig’ oder ‚falsch’ abgetan werden. Vieles hängt vom Geschick des Übersetzers ab – und sicher kann es gelingen, auch im Zwang eines Verses einen ‚guten’ deutschen Text zu verfassen, der dem Original, soweit eine Übersetzung dies eben kann, nahe kommt.


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Überlegungen zur Übersetzung altsprachlicher Texte

Zu den allgemeinen Schwierigkeiten des Übersetzens gesellen sich bei lateinischen oder griechischen Texten noch zusätzliche Probleme: Die zeitliche Distanz zwischen Autor und Übersetzenden ist sehr groß, sprachliche, inhaltliche und kulturelle Differenzen kommen noch stärker zum Tragen. Die Fremdheit der Texte kann bisweilen Ausmaße annehmen, die es geradezu unmöglich zu machen scheinen, eine angemessene Übertragung in die deutsche Sprache anzufertigen.

In der Tradition des Übersetzens altsprachlicher Texte gibt es unterschiedliche Ansätze, wobei sich zwei Hauptrichtungen beobachten lassen.(7) Zum einen gibt es das Übersetzen als Appropriation. Dieses Verfahren ist gekennzeichnet durch die Inbesitznahme des Fremden. Die Übersetzung verleibt sich zur Erweiterung ihres eigenen Sprach- und Literaturschatzes das Fremde ein, vom ursprünglichen ‚Objekt’ bleibt danach nichts oder nur wenig übrig. In dieser Art übersetzten die ersten römischen Literaten aus dem Griechischen, das Mittelalter wiederum nutzte antike Texte als eine Art Steinbruch für völlig neue, eigene Werke. Auch die Bibelübersetzungen der frühen Neuzeit in Europa waren Akte der Appropriation, da sie zwar dem Originaltext zugewandt waren, aber zugleich eine klare Orientierung an ihrer jeweiligen Zielsprache aufwiesen.

Ganz anders geht eine Übersetzung vor, die mit dem Begriff der Assimilation beschrieben werden kann. Bei dieser Art der Übertragung verzichtet der Übersetzer auf eine Ersetzung oder einen Identitätswechsel, stattdessen entsteht eine Art doppelte Identität. Zu diesen Übersetzungen zählen als Extrembeispiel die Interlinearübersetzungen des Mittelalters. Für den deutschsprachigen Raum war einige Jahrhunderte später die Homer-Übersetzung von Johann Heinrich Voss die erste wichtige und erfolgreiche Übertragung, die diesem Grundsatz folgte.(8) Seiner Übersetzung merkt man an, dass sie nicht ‚deutsch’ klingt. „Die Demonstration der Menschenrechte des Anderen in der Übersetzung“(9) gewann an Bedeutung, dem Leser sollte eine neue, fremde Welt erschlossen werden. Diese Art des Übersetzens wurde für das Ende des 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum zur maßgeblichen Form. Übrigens haben sich nur wenige Klassische Philologen in Bezug auf ihre eigene Übersetzungstätigkeit öffentlich geäußert. Doch sind diese wenigen Zeugnisse der Auseinandersetzung deshalb umso lesenswerter und können auch im Lateinunterricht wichtige Impulse für die Auseinandersetzung mit Fragen des Übersetzens bieten.(10)


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Leitfragen einer Übersetzungskritik

Wenn es im Folgenden darum gehen soll, Übersetzungen miteinander zu vergleichen, so sind Kriterien vonnöten, anhand derer ein Vergleich möglich ist. Die Analyse jeder einzelnen Übersetzung mit Hilfe dieser Kriterien erlaubt dann, eine Einschätzung und Kritik insgesamt vorzunehmen. Grundlegendes Ziel einer Übersetzung ist es, die Mitteilung eines ausgangssprachlichen Textes so unverändert wie möglich in der Zielsprache wiederzugeben. Eine Übersetzungskritik muss also die Mitteilung(en) des Originals und die der Übersetzung miteinander vergleichen und die festgestellten Unterschiede bewerten. Bei einer Übersetzungskritik kann es nicht darum gehen, den Einfallsreichtum eines Übersetzers zu beurteilen oder Missverständnisse anzukreiden, sondern es sollte die Frage beantwortet werden, ob er einen Originaltext angemessen übersetzt hat.(11)

Um Unterschiede zwischen Original und Übersetzung festzustellen, müssen diese zunächst erkannt werden, anschließend ist stets nach Gründen des Übersetzers für diese Änderungen zu fragen. Es bietet sich an, dafür verschiedene Betrachtungsebenen zu unterscheiden, anhand derer Fragen für eine Kritik abgeleitet werden können. Die abschließende Einschätzung einer Übersetzung sollte sich davor hüten, Bewertungen wie ‚richtig’ oder ‚falsch’ vorzunehmen, es sei denn, es finden sich tatsächliche „Fehler“ in der Übersetzung. Koller schlägt eine sehr hilfreiche Skala vor, die die Beurteilungen „ädaquat“, „nicht adäquat“, „weniger adäquat, aber möglich“ und „kaum tolerierbar“ beinhaltet.(12) Denn so, wie eine Übersetzung stets subjektiv ist, wird auch eine Übersetzungskritik trotz aller objektiv überprüfbaren Unterschiede stets eine subjektive Komponente haben: ‚Gefallen’ oder ‚Nicht-Gefallen’ einer Übersetzung wird stets mitschwingen. Diese subjektiven Einflüsse auf eine Übersetzungskritik lassen sich durch eine genaue Arbeit an den Texten weitgehend eindämmen, doch sollten sie wahrgenommen werden und mit deutlicher Kennzeichnung auch einfließen.

Abschließend lässt sich die als Kapitelüberschrift gestellte Frage nach einer ‚guten Übersetzung’ nicht eindeutig beantworten. Übersetzungen können, solange sie nicht tatsächlich gravierende Fehler enthalten, je nach Kontext, Publikum und Übersetzerintentionen ‚gut’ oder ‚schlecht’ sein. So wie es nicht die eine Übersetzung eines Textes geben kann, gibt es auch nicht die gute Übersetzung. Dennoch lässt sich individuell feststellen, ob man eine Übertragung für angemessen hält oder ob ihre Formulierungen gut getroffen sind.

 

Übersetzungstheoretische Ansätze im Unterricht

Die Beschäftigung mit der Theorie des Übersetzens stellt im Unterricht ein gewisses Problem dar, denn ihre Ansätze fußen in der Regel auf komplexen Vorüberlegungen, die von Schülern nur schwer in kurzer Zeit bewältigt werden können. Dennoch sollte auf diesen Aspekt nicht verzichtet werden, sondern stattdessen der Weg einer sinnvollen Reduktion auf Kernprobleme eingeschlagen werden. Sehr gute Vorschläge dazu bietet Nickel.(13)


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Seine Auswahl erscheint jedoch umfangreich und auf eine umfassendere und vor allem sehr zeitintensive Beschäftigung mit dem Übersetzen zugeschnitten. Außerdem verzichtet er vollständig auf Texte derjenigen Vordenker, die die Theorie des Übersetzens aus den alten Sprachen überhaupt erst begründet haben: Schleiermacher, Humboldt, Wilamowitz-Moellendorff, Schadewaldt und jüngst Fuhrmann. Im Anhang 2 befindet sich deshalb eine Auswahl von Texten und Fragestellungen, die unter Umständen für eine solche übersetzungstheoretische Beschäftigung im Unterricht benutzt werden können - Ergänzungen und Auslassungen dazu müssen in jedem Fall abhängig vom Kurs und von zeitlichen Rahmenbedingungen vorgenommen werden.

Falls die Zeit für Lektüre und Auswertung dieser Texte nicht reicht, sollten in einem Unterrichtsgespräch dennoch einige Begriffe und grundsätzliche Überlegungen angestellt werden, die eine fruchtbare Arbeit am Übersetzungsvergleich ermöglichen. Ein Verzicht auf jegliche theoretische Beschäftigung mit Fragestellungen des Übersetzens an dieser Stelle ist kaum vertretbar, da sich eine günstigere Gelegenheit für diese notwendigen Auseinandersetzungen nur schwer finden wird. Herauszuarbeitende Aspekte sollten dabei das grundsätzliche Problem der Übersetzbarkeit und Äquivalenz sein, die historische Gebundenheit von Autor und Übersetzer, sowie die Intentionen, die hinter einer Übersetzung stehen können. Schließlich sollten die Begriffe des ‚zielsprachenorientierten’ und ‚ausgangssprachenorientierten’ Übersetzens erläutert und die dahinter stehenden Konzepte verdeutlicht werden. Textpragmatische Überlegungen können mit eingeknüpft werden.

 

2. Der Übersetzungsvergleich

Ein Übersetzungsvergleich kann ganz pragmatische Beweggründe haben: Man kann eine Übersetzung für einen bestimmten Zweck suchen, ein historisches Interesse an Sprache haben und anhand des Vergleichs Veränderungen der deutschen Sprache beobachten oder untersuchen, ob Textstellen aus ideologischen oder historischen Gründen mit Hilfe der Übersetzung geglättet wurden. Lassen sich besonders große Unterschiede zwischen Übersetzungen desselben Textes feststellen, dann deutet das darauf hin, dass das Original in irgendeiner Weise Schwierigkeiten bereitet. Dies können eine korrupte Überlieferung, unterschiedliche Konjekturen oder lateinische Formulierungen sein, die im Deutschen interpretierend ausformuliert werden müssen. Im lateinischen Text kann ein Begriff oder eine semantische Einheit stehen, für die es mehrere Übersetzungsmöglichkeiten gibt oder die im Deutschen aufgrund ihrer Andersartigkeit erläutert werden muss.(14) Darüber hinaus erkannte bereits Humboldt einen didaktischen Effekt, den die Lektüre mehrerer Übersetzungen haben kann: „Auch lernt der Theil der Nation, der die Alten nicht selbst lesen kann, sie besser durch mehrere Uebersetzungen, als durch eine, kennen. Es sind eben so viele Bilder desselben Geistes; denn jeder giebt den wieder, den er auffasste, und darzustellen vermochte; der wahre ruht allein in der Urschrift.“(15)


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Jede Übersetzung stellt nur eine Deutung des Originals dar. In einem Vergleich verschiedener Übersetzungen kann der „übereinzelsprachliche Inhalt“(16) herausgefiltert werden, der die sonst nicht greifbare Bedeutungsvielfalt des Originals besser umreißt. Da es nicht möglich ist, das Sinnpotential eines Textes voll auszuschöpfen, und somit auch alles Gemeinte in einer Übersetzung wiederzugeben, kann die Synopse mehrerer Übersetzungen die Einschränkung einer einzelnen Übersetzung und ihrer Deutungen erweitern und sprachliche Nuancen schärfer konturieren. Durch die Verschiedenheiten der Übersetzungen lässt sich gleichsam die Sinn-Einheit des Originals ahnen. Der Vergleich verschiedener Übersetzungen wird stets das eigene Verständnis des Originals erweitern und vertiefen, vielleicht auf Schwierigkeiten aufmerksam machen, die man selbst bisher übersah und vor allem den Blick für die Vielschichtigkeit eines lateinischen Textes schärfen.

 

Der Übersetzungsvergleich im Lateinunterricht

Leider wird im Lateinunterricht das Übersetzen selbst nur selten im Unterricht problematisiert, der meist von grammatischer und sprachlicher Dekodierung sowie Fragen zum Inhalt dominiert wird. Dabei sollte jedoch gerade auf die Auseinandersetzung mit dem Übersetzen als dem Hauptgeschäft des Lateinunterrichts nicht verzichtet werden, um durch die Reflexion dieses Vorganges eine bewusste Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten und Grenzen des Übersetzens bewusst zu machen. Die Verknüpfung von theoretischer und praktischer Beschäftigung kann dabei auch zu einer Verbesserung der eigenen Übersetzungen beitragen. Denn wenn die Schüler verstehen, warum das Übersetzen notwendig ist und welche Schwierigkeiten es zugleich in sich birgt, bekommt ihr eigenes Übersetzen eine neue Motivation und Zielsetzung.

Hauptsächlich wird man sich auf die Arbeit mit bereits vorhandenen Übersetzungen konzentrieren. Vor allem für die Beschäftigung mit literarischen Fragestellungen sind sie gut geeignet, da sie eine Schwerpunktverschiebung von sprachlichen und grammatikalischen Problemen hin zum Inhalt der Texte ermöglichen. Ein wichtiges Ziel ist, dass die Schüler einen Einblick in die Schwierigkeiten bekommen, mit denen Übersetzungen immer behaftet sind. Dabei sind die Vorzüge des kontrastiven oder dialektischen Lernens im Allgemeinen offensichtlich(17): Da der Übersetzungsvergleich gerade das Nicht-Identische und das Subjektive hervorhebt, können Schüler Unterschiede leicht erkennen und eine kritische Haltung gegenüber einer einzelnen Übersetzung gewinnen. Eine Übersetzung ist das „Resultat einer individuellen Auseinandersetzung und der individuellen Aneignung einer im Original reflektierten Welt“(18), in der der Übersetzer sein Verständnis und seine Deutung des Textes darlegt.


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Somit setzt man sich bei einem Übersetzungsvergleich mit der geistigen Welt, den Voraussetzungen, Grenzen, Fähigkeiten und Intentionen sowohl des Autors als auch des Übersetzers auseinander. Zugleich zeigt der Übersetzungsvergleich die Möglichkeiten und Grenzen einer Sprache auf und „befreit von der naiven Erfahrung, daß die Welt so ist und so sein muß, wie sie in der Muttersprache benannt wird.“(19) Darüber hinaus bietet sich hier eine gute Gelegenheit zur Sprachreflexion.(20) Schüler kennen durch eigene Übersetzungserfahrung sicherlich die Situation, dass sie einen lateinischen Text zwar verstehen, aber nicht übersetzen können, weil ihnen eine adäquate Übertragung des von ihnen Verstandenen ins Deutsche nicht gelingt. Auch diese Erfahrung kann in einem Übersetzungsvergleich in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden, indem reflektiert wird, was nicht übersetzt werden kann und warum es nicht übersetzt werden kann.(21) In einem Übersetzungsvergleich können daher die Schüler sprachliche Feinstruktur und inhaltliche Nuancierung, die in einer Übersetzung nicht abgebildet werden kann, konturieren und dadurch die Ganzheit des Originals erfassen. Deshalb hat der natürlich zeitaufwendige Übersetzungsvergleich an inhaltlich zentralen oder interpretatorisch schwierigen Stellen seine besondere Berechtigung, denn er fördert die Erarbeitung und das tiefe Verständnis dieser Stellen. Gerade durch dieses Verfahren können Schüler zu der Erkenntnis gelangen, dass nur das Original und nicht seine Übersetzung wirkliches Verständnis für den Text und eine vertiefende Interpretation einer Textstelle ermöglicht.

Die Schüler können durch den Übersetzungsvergleich erkennen, dass Sprache zwei Normen unterworfen ist. Dies sind zum einen zwingende Regeln, die kaum Ausnahmen zulassen, zum anderen Konventionen, die fast immer angewandt werden, von denen man aber eventuell abweichen kann. Die jeweiligen Normen zweier Sprachen sind dabei nie deckungsgleich und der Umgang mit der Differenz zwischen beiden bestimmt maßgeblich die entstehende Übersetzung. Auch für das eigene Übersetzen kann dies Konsequenzen haben: Den Schülern sollte klar werden, dass sie ihre eigenen Übersetzungen so anfertigen müssen, dass sie den Regeln der deutschen Sprache weitgehend folgen und von anderen verstanden werden können, zugleich aber Besonderheiten der lateinischen Sprache - so weit möglich - beibehalten werden sollten, um den Gedankenfluss nicht zu verändern.

 

Der Übersetzungsvergleich am Beispiel von Catull, c. 8

Ein Vergleich von Übersetzungen ist desto ergiebiger, je dichter das Original komponiert ist. Dies spricht für Catull: Gerade seine Gedichte zeugen von literarischer Brillanz. Hinzu kommt, dass es ihm in vielen seiner Gedichte auf beeindruckende Weise gelingt, die Unmittelbarkeit seiner Gefühle mit Hilfe seiner Sprache auszudrücken, die enge Verknüpfung zwischen Inhalt und Form erreicht bei ihm bisweilen einmalige Meisterschaft.


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Durch den Übersetzungsvergleich kann die Pointiertheit und Verknüpfung zwischen Inhalt und Sprache in Catulls Gedichten kontrastierend dargestellt werden und es wird deutlich, dass ein solches Kunstwerk in einer anderen Sprache nie vollständig funktionieren und seine Wirkung entfalten kann. Für den Übersetzungsvergleich ist dieser Text aus vielen Gründen sehr gut geeignet: Er ist sprachlich relativ leicht zu erschließen und wird inhaltlich die Schüler ansprechen, da sein Thema von zeitloser Brisanz ist und seine Leser leicht erreicht. Mit 19 Versen handelt es sich um ein überschaubares, aber dennoch längeres Gedicht. Zahlreiche stilistische Besonderheiten und die sprachliche Struktur sind für den Autor typisch und bieten viele Anknüpfungspunkte für einen Übersetzungsvergleich. Es enthält einige ‚Problemstellen’, deren Wiedergabe im Deutschen nicht ohne weiteres möglich ist. Es zählt zu den bekanntesten Gedichten Catulls und wurde oft übersetzt. Vor allem für sprachliche Betrachtungen und Reflexionen über die Besonderheiten der Dichtung hält dieser Text genügend Anhaltspunkte bereit, ohne durch zu große Komplexität die Schüler zu überfordern.

Der Kritik und dem Vergleich der hier zusammengetragenen achtzehn Übersetzungen des Catull-Gedichtes könnte ein ganzes Buch gewidmet werden. Dafür ist jedoch weder an dieser Stelle noch im Lateinunterricht Zeit und Platz. Deshalb soll hier nur aufgezeigt werden, welche Ansatzpunkte für einen Vergleich lohnend sein könnten: Eine Anordnung nach metrischen und nichtmetrischen Übertragungen bietet sich nicht an, da lediglich eine der achtzehn Übersetzungen nichtmetrisch ist, die meisten anderen zumindest in Blankversen, meist in Hinkjamben verfasst wurden. Eine weitere Möglichkeit der Auswahl könnte die Zusammenstellung von ‚Übersetzungsfamilien’ sein. Den meisten Übersetzungen kann man anmerken, auf welchen früheren Übersetzungen sie basieren. So scheint beispielsweise K. W. Ramler zahlreiche nachfolgende Übersetzungen stark beeinflusst zu haben.(22) Interessant wäre es ebenfalls, eine genaue Analyse der drei unterschiedlichen Übersetzungen Fischers vorzunehmen.(23)

Den größten formalen Kontrast bietet die Prosa-Übersetzung eines Gedichtes, weshalb in jedem Fall eine solche ausgewählt werden sollte. Da diesem Kriterium unter den zusammengetragenen Übersetzungen nur die von Michael v. Albrecht entspricht, kann auf sie kaum verzichtet werden. Darüber hinaus sprechen noch andere Gründe für seine Übertragung: Sie ist die jüngste unter den analysierten und dürfte zur Zeit im deutschsprachigen Raum zu den meistgelesenen Catull-Übersetzungen zählen. Außerdem ist sie sehr stark am Original orientiert und kann als ausgangssprachenorientierte Übersetzung bezeichnet werden. v. Albrecht hat in der Regel den Sinn des Gedichtes gut erfasst und gibt seine Deutung in verständlichem Deutsch wieder. Als zweite, stark kontrastierende Übertragung bietet sich die von Volker Ebersbach an. Es handelt sich um eine metrische Übertragung, die von einer deutlichen Zielsprachenorientierung geprägt ist: Bei dem Versuch, in modernes Deutsch ‚einzubürgern’, entschied sich der Übersetzer häufig für Varianten, die den Sinn des Originals verfälschen.


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Dies dürfte für Schüler schnell ersichtlich sein. Als dritter Vergleichstext bietet sich die Übertragung von Otto Weinreich an. Auch seine Übersetzung erfreut sich einer weiten Verbreitung. Weinreich orientierte sich tendenziell an der Zielsprache, dies wird unter anderem durch gelegentlich andere Wortstellung als im Original deutlich. Ihm gelingt die metrische Nachahmung sehr gut. Interessant ist an seiner Übertragung, dass auch in einer insgesamt gelungenen und am Sinn und Inhalt des Originals orientierten Übersetzung ein gravierender Deutungsfehler in v. 17 vorliegt. Hieran können Schüler erkennen, dass eine genaue Untersuchung der gesamten Übersetzung nötig ist, um eine fundierte Kritik anzufertigen.

Für einen leistungsstarken Kurs bieten sich sicherlich weitere Einsatzmöglichkeiten: Fischers Übertragungen sind vor allem für eine Untersuchung unter stilistischen Gesichtspunkten interessant. Schusters Übersetzung ist ein Beispiel für eine stark vom Zeitgeist beeinflusste Übersetzung, in der Begriffe verwendet werden, die völlig irreführende Assoziationen wecken. Die Übertragung von Helm ist interessant, weil sie den schlichten Stil Catulls nachahmt und ausgangssprachenorientiert ist, dabei aber Stilmittel des Originals weitgehend unberücksichtig lässt. Brod schließlich wählte ein anderes Metrum, nämlich Blankverse, für seine Übertragung und versucht sich sehr am Original zu orientieren, sodass seine Übersetzung auch nach beinahe 100 Jahren nicht veraltet wirkt.

 

3. Methodische Überlegungen, Fragestellungen und Umsetzungsvorschläge für einen Übersetzungsvergleich von c. 8

Die Übersetzung des Originals

Wenn sich die Schüler bereits selbst um eine Übersetzung bemüht haben, werden sie schneller in der Lage sein, Schwerpunkte und Problemstellen in den Übersetzungen anderer zu erkennen und zu beurteilen. Diese Übersetzung sollte zugleich bereits Material für den Vergleich sammeln. So empfiehlt es sich, den Gedichtaufbau zu analysieren.(24) Dann sollte eine stilistische Untersuchung des Textes vorgenommen werden, die folgende Auffälligkeiten herausschälen könnte: Der Text wird unter anderem durch die parallel konstruierten v. 3 und 8 sowie die gleichen Satzanfänge von v. 14 und 19 strukturiert, er enthält zahlreiche Alliterationen(25), in v. 5 erscheinen zwei Flexionen von amare, in v. 7 intensivieren volebasnolebat den inhaltlichen Gegensatz, Formen von obdurare und rogare werden mehrmals verwendet, nunc ebenfalls signifikant an gleicher Satzstelle in v. 16 und 17 benutzt. Auch die Bedeutungsbreite des Sprachbildes fulserecandidi soles der v. 3 und 8 sollte beim Übersetzen problematisiert werden. Daneben werden die Schüler selbst bemerken, dass es einige Stellen gibt, die nicht eins zu eins ins Deutsche übertragen werden können, da die zugrunde liegenden Strukturen in beiden Sprachen nicht deckungsgleich sind.(26)


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Es empfiehlt sich, für die Analysen des Originals und der Übersetzungen sowie den abschließenden Vergleich eine konstante Reihenfolge im Vorgehen festzulegen, die in einer Art Liste aufgeführt werden kann. So erscheint es sinnvoll, vom Großen, also dem Gedichtaufbau, der Struktur des Textes sowie äußerlichen Auffälligkeiten auszugehen. Hier kann die zuvor erstellte Gliederung Anhaltspunkte bieten. Daran könnte sich die Untersuchung von Stilmitteln anschließen, die schließlich in eine semantische Analyse und die Betrachtung einzelner Begriffe und Wortgruppen mündet. Abschließend sollte dann in jedem Fall ein Blick auf das ganze Werk angeschlossen werden, in dem vor allem Stimmungen und Gesamteindruck des einzelnen Textes beziehungsweise im Vergleich der Texte miteinander untersucht werden.

 

Analyse und Kritik der Übersetzungen

Im ersten Schritt sollte die gesamte Übersetzung gelesen und formale Auffälligkeiten geklärt werden:

Schließlich sollte überprüft werden, ob die Versmaße von Original und Übersetzung übereinstimmen. Auch ein erster Eindruck in Bezug auf die Wortwahl und die grundsätzliche Ausdrucksweise des Übersetzers sollte hier geschildert werden: Erscheint sein Deutsch altmodisch oder modern, wirkt sein Text wie ein ‚normaler’ Text, oder wirkt er dichterisch und poetisch?

Wie bereits ausgeführt, müssen nun die Ebene der Satzstruktur, Wortstellung und Formbildungen des Originals und der jeweiligen Übersetzung miteinander verglichen werden. Hier muss zuerst der Satzbau untersucht werden:

Schüler sollten auf die besondere Betonung der Anfangs- und Endstellung von Versen und Sätzen hingewiesen werden. Nach einer Zuordnung von Wortblöcken zueinander kann überprüft werden, ob Worte ausgelassen oder hinzugefügt werden, und ob es dafür erkennbare Gründe gibt. Vielleicht fallen Stellen auf, an denen ein lateinisches Wort mit mehreren deutschen Worten, oder umgekehrt mehrere lateinische Worte mit nur einem deutschen Wort wiedergeben wurden.



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Die bereits während der Übersetzung zusammengetragene Liste der Stilmittel des Originals kann nun die Untersuchung der stilistischen Gestaltung der Übersetzungen erleichtern:

Hier schließt sich fließend die Betrachtung semantischer Unterschiede an. Denn bereits die Auffassung und Wiedergabe von sprachlichen Bildern ist ein sowohl stilistisches als auch semantisches Problem. Beim Blick auf die Bedeutung einzelner Worte und Wortgruppen können folgende Aspekte untersucht werden:

Die Eingrenzung der Bedeutungen einzelner Worte stellt ein zentrales Problem des Übersetzens dar. Nickel hat für die vier wesentlichen Möglichkeiten der Bedeutungsveränderung folgende Bezeichnungen vorgeschlagen: die Bedeutungsverengung, die Bedeutungsverschiebung, die Bedeutungsentstellung oder aber die Bedeutungsabschwächung.(27) Häufig wird den Schülern die semantische Bandbreite einer lateinischen Vokabel nicht bekannt sein – hier ist eine intensive Arbeit mit dem Wörterbuch, gegebenenfalls mit Unterstützung des Lehrers, unerlässlich. Wichtig ist es, den Schülern klar zu machen, dass die Bedeutung eines Wortes aufgrund seines Kontextes festgelegt wird.

Nun kann der Blick wieder auf das ganze Gedicht gerichtet werden, um die einzelnen Beobachtungen in Hinsicht auf das Textganze einzuordnen. Hier sollte nicht im Vordergrund stehen, ob jede grammatische Einzelheit erfasst und wiedergegeben wurde, sondern inwieweit der Originaltext insgesamt in der Übersetzung wiederzuerkennen ist.



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Es kann nicht Aufgabe des Übersetzers sein, Unschärfen des Autors auszubessern, dessen Inhalte zu korrigieren oder nachzuholen, was der Autor ‚versäumt’ hat. Dies sollte in einer Übersetzung also auch weder ‚gesucht’ noch ‚gefunden’ werden können.

 

Vergleich der Übersetzungen

Eine gründliche Analyse des Originals und der einzelnen Übersetzungen bildet die beste Voraussetzung für einen effizienten und erkenntnisreichen Vergleich. Da in der Vorarbeit durch die Konzentration auf Wortgruppen und Einzelworte Details bereits herausgearbeitet wurden, sollte der Vergleich aller Übersetzungen nun nicht zu kleinschrittig erfolgen. Es empfiehlt sich, die bereits mehrfach genannte Reihenfolge vom ersten Eindruck und formalen Aspekten über metrische, stilistische, syntaktische und semantische Details hin zum Gesamteindruck und der Wirkung des Textes einzuhalten.

Bei allen Teilschritten des Vergleichs sollte folgende Fragestellung immer zu Grunde liegen: Welche Unterschiede gibt es zwischen den Übersetzungen? Welche Wirkung haben sie? In welchem Verhältnis stehen sie zum Original? Bei den drei vorgeschlagenen Übersetzungen wird beim ersten Eindruck sofort die unterschiedliche Darbietung der Texte auffallen. Während Weinreich einen Absatz einfügt und damit das Gedicht in Strophen aufteilt, gibt Ebersbach den Text in fortlaufenden Versen wieder. Die Übersetzung v. Albrechts hingegen ist im Fließtext abgedruckt. Dadurch erscheint das Gedicht nicht mehr gegliedert, die Einteilung in Abschnitte wird schwieriger. Auch ein Vergleich des Umgangs mit dem Metrum des Originals wird unterschiedliche Ergebnisse aufzeigen, über die diskutiert werden sollte. Hier ist auch die persönliche Meinung der Schüler gefragt: Gefällt ihnen die Nachdichtung in deutschen Hinkjamben? Erscheint ihnen die Wirkung mit der des lateinischen Metrums vergleichbar?

Beim Vergleich von Satzbau und Wortstellung sollten die Gesamtergebnisse der Analysen verglichen werden, das erneute intensive Eingehen auf Einzelheiten könnte schnell ermüden. Unerlässlich ist an dieser Stelle allerdings eine gründliche Beschäftigung mit semantischen Fragen sowie den unterschiedlichen Interpretationen, die sich in den Übersetzungen spiegeln.


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Hier könnte die Liste der Problemstellen, die die Schüler beim Anfertigen ihrer eigenen Übersetzung gesammelt haben, die Stichpunkte zum Vergleich bieten. Dabei sollte den Schülern auffallen, dass es zwei wesentliche Ursachen für sehr unterschiedliche Übersetzungen geben kann: Entweder bietet das Original inhaltlich viel Platz zu eigenen Deutungen, beziehungsweise interpretiert der Übersetzer in seinem Sinne das Original aus, oder aber im lateinischen Text stehen Wendungen, die aufgrund ihrer sprachlichen oder grammatischen Struktur umgeformt werden müssen, um im Deutschen verständlich zu sein.

Es empfiehlt sich auch hier, eine Visualisierung vorzunehmen, um Unterschiede besser zu verdeutlichen und vergleichen zu können. Naheliegend ist die Erstellung einer Tabelle. In der ersten Spalte befinden sich die Wendungen des Originals, in den folgenden Spalten die entsprechenden Worte oder Wortgruppen der Übersetzer. Eine solche Zusammenstellung schärft und sensibilisiert den Blick für das Verständnis des Originals. Sie kann je nach Unterrichtssituation vollständig gemeinsam erarbeitet werden, oder aber als Arbeitsblatt für die Schüler bereits vorbereitet werden. Auch nach Beispielen für Bedeutungsverengung, -verschiebung, -entstellung und -abschwächung kann hier nochmals eingehender gesucht werden. Sicherlich ist das selbständige Erkennen von schwierigen Stellen etwas zeitaufwendiger, dafür dürfte dann der Lerneffekt aber auch größer sein. Besonders, weil das Verfahren des Übersetzungsvergleichs den Schülern viel Raum für eigenständiges Arbeiten bei hohen Lernerfolgen und wenig Frustration bietet, sollte versucht werden, die Zeit hierfür zu schaffen.

Schließlich sollten die Schüler sich der Stimmung und der Gesamtaussage des Catull-Gedichtes und seiner Übersetzungen zuwenden. Stellen sie hierbei deutliche Unterschiede fest? Welche der Übersetzungen trifft die Stimmung am besten? An dieser Stelle sollte nochmals zusammengetragen werden, ob es sich bei den Übersetzungen um ziel- oder ausgangssprachenorientierte Übersetzungen handelt. Im Kurs kann darüber diskutiert werden, welche Ausrichtung sich als angemessenste Übersetzungsart für das vorliegende Gedicht eignet. Auch können die unterschiedlichen Intentionen der Übersetzungen herausgearbeitet werden. Für welchen Kontext eignet sich welche der gewählten Übersetzungen am besten?

Als abschließende Frage könnte in der Klasse diskutiert werden, ob sich für die Schüler durch den Vergleich der Übersetzungen dieses Gedichtes ihr grundsätzliches Verhältnis zu Übersetzungen verändert hat und inwieweit ihnen die Lektüre des Originals überhaupt wichtig erscheint. Im günstigsten Fall werden die Schüler selbst erkennen, dass ein wahres Verständnis und eine tiefer gehende Interpretation nur durch das Übersetzen des lateinischen Textes erreicht werden kann, dass Übersetzungen hingegen lediglich den Weg zum Verständnis erleichtern können, aber nicht müssen. Eine Übersetzung schildert stets nur das Verständnis des Übersetzers und zeigt eine Facette des Originals.


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Schließlich sollte den Schülern deutlich werden, dass sie mit einem Übersetzungsvergleich zwar ein ‚objektives’ Verfahren anwenden, und dass deshalb bei der Beschreibung der Texte auch das Bemühen um sachliche Kriterien und Beurteilungen gefordert ist. Dennoch dürfen, ja sollen sie ihre eigene Meinung bezüglich der Übersetzungen haben. Denn ihre eigene Wahrnehmung von Literatur ist genauso subjektiv, wie eine jede Übersetzung subjektiv geprägt ist. Wenn es gelingt, die eigene Vorliebe oder Ablehnung einer bestimmten Übersetzung auch kritisch zu begründen, dann entsteht die Möglichkeit, über Literatur, die Zusammenhänge zwischen Form und Inhalt, die Wirkung, die diese sprachlichen Mittel auf uns haben, intensiv zu diskutieren.

 

Erweiterungsmöglichkeiten

Falls zusätzliche Übersetzungen hinzugezogen werden, die deutliche zeitliche Unterschiede in ihren Formulierungen erkennen lassen, könnte ein Arbeitsauftrag lauten, die Übersetzungen chronologisch nach der vermuteten Entstehungszeit zu sortieren.(28) Dadurch würden die zeitliche Gebundenheit und die damit verbundenen unterschiedlichen Anforderungen an Übersetzungen verdeutlicht. Die Schüler könnten darüber nachdenken und diskutieren, warum Übersetzungen altern können.

Schließlich seien auch noch zwei Beispiele für die kreative Fortsetzung des Übersetzungsvergleiches aufgeführt. So schlägt Seele vor, fünf Übersetzungen verschiedenen Stils zu analysieren und zu vergleichen. Anschließend sollen die Schüler versuchen, selbst jeweils in diesen Stilen fünf Übersetzungen einer anderen, nicht zu langen Textpassage, anzufertigen.(29) Dieses Verfahren verlangt von den Schülern nicht nur eine klare Auseinandersetzung mit den Unterschieden verschiedener Übersetzungen, sondern fordert zur eigenen Nachahmung des Originals heraus. Ein ähnlicher Arbeitsauftrag könnte die Beschäftigung mit den übersetzungstheoretischen Ansätzen vertiefen und abrunden, indem man die Schüler auffordert, Übersetzungen des Gedichtes anzufertigen, die an den Maximen von Humboldt oder Wilamowitz-Moellendorff orientiert sind, beziehungsweise die eine eindeutige zielsprachliche oder ausgangssprachliche Orientierung haben.

Eine weitere Möglichkeit wäre, im Anschluss an den Vergleich der Gedichte die Schüler aufzufordern, erneut eine Übersetzung anzufertigen, in der sie die untersuchten vorherigen Übersetzungen als ‚Steinbruch’ benutzen. Sie sollen die jeweils treffendste Übertragung eines Verses oder einer Passage heraussuchen und gegebenenfalls noch mit eigenen Übersetzungen zu einer ‚Best-Of’-Übersetzung wie in einem Mosaik zusammenfügen. Ziel dieser Übersetzung sollte sein, den Inhalt und das Gemeinte des Catull-Gedichtes nach ihrer eigenen Interpretation so treffend wie möglich wiederzugeben.


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Wenn einige dieser Übersetzungen dann im Unterricht vorgestellt werden, wird sich sehr schnell zeigen, dass erneut sehr unterschiedliche Ergebnisse entstanden sind und dass keine Übersetzung der eines anderen gleicht.

 

4. Fazit

Im Lateinunterricht kann mit Hilfe des Übersetzungsvergleichs die Reflexion und Auseinandersetzung mit dem Übersetzen deutlich gefördert werden. Wenngleich dieses Verfahren etwas aufwendiger ist, wird ein gezielter und gut vorbereiteter Einsatz Ergebnisse zeigen, die den Übersetzungsvergleich zu einer überaus geeigneten Methode im Lateinunterricht machen.

Wichtigstes Ziel des Übersetzungsvergleichs im Lateinunterricht ist, die Schülerinnen und Schüler für die Problematik der Übersetzbarkeit poetischer und anderer Texte zu sensibilisieren. Ihnen sollte deutlich werden, dass wesentliche Teile eines Gedichts eigentlich nicht übersetzbar sind, sondern dass eine Übersetzung vielmehr stets nur eine Deutung des Originals sein kann. Dadurch kann eine kritische Haltung gegenüber Übersetzungen anderer gefördert werden, die für den Lateinunterricht, aber auch für andere Sprachen und Literaturerfahrungen nützlich und wichtig ist. Am Ende einer Unterrichtseinheit zum Übersetzungsvergleich sollen die Schülerinnen und Schüler jedoch nicht entmutigt das Übersetzen als unmögliche Aufgabe betrachten. Stattdessen können sie erkennen, dass die Beschäftigung mit dem Original und das bewusste Bemühen um eine angemessene Wiedergabe, eingedenk der Grenzen des Übersetzens, die Auseinandersetzung, Diskussion und Interpretation von lateinischer Literatur interessant und spannend macht.



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5. Literaturverzeichnis

Textausgaben & Kommentare

 

Sekundärliteratur


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Anhang 1: Text und Übersetzungen
Anhang 2: Texte zur Übersetzungstheorie
Anhang 3: Drei ausführliche Übersetzungskritiken zu Catulls c. 8

 

Dorothea Weiss
Greifswalder Straße 190
10405 Berlin
Email: DorotheaWeiss@gmx.de

 

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(1) Zumindest gibt es in der philologischen Fachliteratur kaum Veröffentlichungen, die sich mit der ‚Übersetzung’ aus der lateinischen in die deutsche Sprache befassen. Doch auch in der fachdidaktischen Literatur sieht es nur wenig besser aus. Stellvertretend und zusammenfassend sei hier der Aufsatz von M. Fuhrmann, Die gute Übersetzung. Was zeichnet sie aus, und gehört sie zum Pensum des altsprachlichen Unterrichts?, in: AU 35/1 (1992), 4-20 genannt. Doch liegt hier der Schwerpunkt auf dem ‚Übersetzen’, nur wenige widmen sich der ‚Übersetzung’, wie Fuhrmann, Gute Übersetzung, 5, anmerkt: „Die Übersetzungstheorie der altsprachlichen Didaktik bleibt […] sozusagen der Infrastruktur der eigentlichen Übersetzungsarbeit verhaftet, und sie pflegt dort aufzuhören, wo für den geübten oder gar professionellen Übersetzer die Schwierigkeiten erst richtig anfangen.“ (Vgl. ferner Anhang 2.)

(2) W. Schadewaldt, Das Problem des Übersetzens, in: H. J. Störig (Hg.), Das Problem des Übersetzens, (Wege der Forschung Bd. VIII), Darmstadt 1963, 249-267, 266.

(3) Einen Überblick über die sehr umfangreiche und vielfältige Übersetzungswissenschaft bieten F. Apel/A. Kopetzki, Literarische Übersetzung, (Sammlung Metzler, Bd. 206), Stuttgart/Weimar 22003 sowie N. Greiner, Übersetzung und Literaturwissen­schaft, (Grundlagen der Übersetzungsforschung, Bd. 1), Tübingen 2004. Mit dem Schwerpunkt der literarischen Übersetzung beschäftigt sich J. Albrecht, Literarische Übersetzung. Geschichte, Theorie, kulturelle Wirkung, Darmstadt 1998. Immer noch lesenswert ist darüber hinaus W. Wilss, Übersetzungs­wissenschaft, (Wege der Forschung 535), Darmstadt 1981, der verschiedene Richtungen der Übersetzungswissen­schaft mit zentralen Aufsätzen in einem Sammelband zusammenfasst.

(4) Diese Regeln nennt zumindest Seele, Römische Übersetzer, Nöte, Freiheiten, Absichten. Verfahren des literarischen Übersetzens in der griechisch-römischen Antike. Darmstadt 1995, 10.

(5) K. Reichert, Die unendliche Aufgabe. Zum Übersetzen, München/Wien 2003, 49.

(6) Vgl. J. Levý, Übersetzung als Entscheidungsprozess, übers. von W. Wilss, in: W. Wilss (Hg.), Übersetzungswissen­schaft, (Wege der Forschung 535), Darmstadt 1981, 219-235 (Erstdruck 1967), 231. Mit welch unterschiedlichen Emotionen Vokale verbunden sein können, hat zum Beispiel W. Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute, in: ders., Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur in zwei Bänden, Bd. II: Antike und Gegenwart, Zürich/Stuttgart 1970, 650-671, 662 für Ausrufe im Griechischen und Deutschen beeindruckend gezeigt.


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(7) Vgl. hier und im Folgenden Reichert, 25ff.

(8) Er übersetzte 1781 die Odyssee und 1793 die Illias.

(9) Reichert, 35.

(10) Grundlegend äußerten sich zu dieser Frage: W. v. Humboldt, Einleitung zu „Agamemnon“, in: H. J. Störig (Hg.), Das Problem des Übersetzens, (Wege der Forschung Bd. VIII), Darmstadt 1963, 71-96; F. Schleiermacher, Methoden des Übersezens (nach einem Vortrag gehalten am 24.6.1813 in der Königlichen Akademie der Wissenschaften Berlin), in: H. J. Störig (Hg.), Das Problem des Übersetzens, (Wege der Forschung Bd. VIII), Darmstadt 1963, 38-70; U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen?, in: H. J. Störig (Hg.), Das Problem des Übersetzens, (Wege der Forschung Bd. VIII), Darmstadt 1963, 139-169, sowie W. Schadewaldt in den bereits genannten Aufsätzen und M. Fuhrmann, Gute Übersetzung.

(11) Vgl. K. Reiß, Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik. Kategorien und Kriterien für eine sachgerechte Beurteilung von Übersetzungen, München 31986, 12 und H. Offermann, Zur Catull-Lektüre. Verstehen durch Vergleichen, in: U. Gößwein/G. Jäger/H. Offermann (Hgg.), Lateinische Dichterlektüre II. Unterrichtsprojekte zu Martial, Terenz, Catull, (Auxilia), Bamberg 1982, 58-87, 63.

(12) W. Koller, Anmerkungen zu Definitionen des Übersetzungs„vorgangs“ und zur Übersetzungskritik, in: W. Wilss (Hg.), Übersetzungswissenschaft, (Wege der Forschung 535), Darmstadt 1981, 263-274 (Erstdruck 1974), 272.

(13) Nickel, Lateinisch Deutsch, 27-46.

(14) Besonders interessant scheint dies bei normativen römischen Wertbegriffen zu sein, deren Übersetzung ins Deutsche stets eine Festlegung auf eine bestimmte Interpretation und damit oft auch auf einen wissenschaftlichen (Forschungs-)Standpunkt bedeutet. Vgl. auch A. Klinz, Der Übersetzungsvergleich als Interpretationshilfe und Mittel zum Textverständnis. Ein Versuch anhand eines ciceronischen Redetextes (Cic. Pomp. 40-42), in: AU 24/4 (1981), 77-90, 81.

(15) Humboldt, 87. Es ist offensichtlich, dass dieser Effekt auch für die, die ‚die Alten selbst lesen’ können, eintreten wird.

(16) E. Coseriu, Falsche und richtige Fragestellungen in der Übersetzungstheorie, in: W. Wilss (Hg.), Übersetzungswissenschaft, (Wege der Forschung 535), Darmstadt 1981, 27-47 (Erstdruck 1976), 32.

(17) Grundlegend und überzeugend stellte diese D. Lohmann, Dialektisches Lernen. Die Rolle des Vergleiches im Lernprozeß, Stuttgart 1973 zusammen. Insbesondere weist er darauf hin, dass der Vergleich nicht nur die Lösung eines Problems fördert, sondern überhaupt erst das Problembewusstsein weckt. (13)

(18) R. Nickel, Vergleichendes Lernen im lateinischen Lektüreunterricht, in: AU 5 (1978), 6-18, 13. Auch Schadewaldt, Problem des Übersetzens, 265, weist darauf hin, dass sich sowohl Übersetzer als auch Leser bewusst sein müssen, dass sie je etwas Individuelles schaffen und lesen.

(19) Nickel, Vergleichendes Lernen, 13.

(20) Vgl. Nickel, Übersetzungsvergleich, in: Lexikon zum Lateinunterricht, Bamberg 2001, 294-6, 294.

(21) Vgl. Fink, 38.

(22) K. W. Ramler, Oden aus dem Horaz Nebst einem Anhang zweier Gedichte aus dem Katull und achtzehn Liedern aus dem Anakreon, Nachdruck der Ausg. von 1787, Eschborn 1992. Ausdrücklich weisen auf die Benutzung dieser Vorlage E. Mörike, Werke und Briefe, (Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 8, Teil 1), Stuttgart 1976, 12 (Übersetzung c. 8: 180) und M. Brod, C. Valerius Catullus, Gedichte, Deutsch von M. Brod, München/Leipzig 1914, hin. Auffällig ist, dass aber auch in den Übersetzungen von Weinreich, Catull. Liebesgedichte und sonstige Dichtungen, Lateinisch und Deutsch, neu übers. und hg. von O. Weinreich, (Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft. Lateinische Literatur, Bd. 1), Hamburg 1960 und Eisenhut, Catull, Lateinisch-deutsch, übers. und hg. von W. Eisenhut, München 51960, und Heyse, Catull’s Buch der Lieder in deutscher Nachbildung, übers. von T. Heyse, hg. von A. Herzog, Berlin 21889 und Fischer (siehe nächste Fussnote) obdurare wie bei Ramler mit „standhaft sein/bleiben“ übersetzt wurde. (Vgl. Anhang 1)


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(23) Diese drei Übersetzungen finden sich in: Catull, Gedichte, lat./dt. übertragen von C. Fischer, Söcking 1948; Catull, Liebesgedichte, lat./dt. übers. von C. Fischer, Wiesbaden/Berlin 1955 und Catull, Gedichte, lat./dt. übertragen von C. Fischer, mit Zeichnungen von B. Bachem, Frankfurt a. M./Leipzig 1995. (Vgl. Anhang 1)

(24) Dabei könnte folgendes Bild entstehen: v. 1-2 Selbstanrede Catulls, v. 3-8 Erinnerung an schöne gemeinsame Vergangenheit, eingerahmt durch die parallelen Verse 3 und 8, v. 9-11 Gegenwärtige unglückliche Lage und Selbstaufforderung, v. 12-14 Selbstüberzeugung zum Abschied vom Mädchen, v. 15-18 Anklagende Fragen an Lesbia, v. 19 erneute Selbstaufforderung zu Entschlossenheit. Vgl. H.-J. Glücklich, Catull. Gedichte, (Exempla), Göttingen 41999, 24, dort ist der lateinische Text bereits gegliedert abgedruckt.

(25) In v. 2 auf „p-“, v. 11 auf „ob-“, v. 13 „r-“.

(26) Dies liegt vor allem bei den vier passivischen Verbformen in v. 5, 14, 16 und 17 vor.

(27) Nickel, Lateinisch Deutsch, 14f.

(28) Für ein solches Vorgehen böten sich beispielsweise die Übersetzungen von Ramler, Möricke, Brod, Heyse, Amelung, Helm oder Schuster an.

(29) Vgl. A. Seele, Vergnügliches Übersetzen, in: AU 35/1 (1992), 21-33, 32.