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Fritz Felgentreu

Vergil und die Aeneis


2013 Jahre und einen Tag nach der Geburt Vergils beantwortet der englische Dichter T.S. Eliot am 16. Oktober 1944 in einem berühmten Essay die Frage „Was ist ein Klassiker“ am Beispiel Vergils. Eliot entwickelt dort ein bestimmtes Profil des universalen Klassikers und kommt zu dem Schluss, dass in der europäischen Literatur allein Vergil eine solche Stellung behauptet. Das bedeutet nicht, dass Eliot Vergil für den besten Dichter aller Zeiten hielt: nur eben für den einzigen, wie er sagt, „absoluten Klassiker“. Heute aber scheint uns das Bewusstsein für die epochale Bedeutung Vergils und der Aeneis abhanden gekommen zu sein. Vergil ist von einem Autor der Gebildeten zu einem Autor der Gelehrten geworden.

Die Gründe für diese Neubewertung anzudeuten, wird eine Zielsetzung meines Vortrags sein: Sie liegt einerseits in den besonderen Eigenschaften des Dichters Vergil begründet, andererseits in seinem Verständnis von Literatur und ihrem Verhältnis zu gesellschaftlicher Wirklichkeit. Als Folie für die Ergebnisse dieser Fragestellung soll ein erneuter Rückgriff auf T.S. Eliot am Ende stehen. Zuvor aber möchte ich Ihnen einen Überblick über Leben und Werk des Dichters, über die Entstehungsbedingungen der Aeneis und über ihren Inhalt liefern und zumindest schlaglichtartig einen Eindruck von ihrer Bedeutung vermitteln.

(I) Geboren wurde Vergil am 15. Oktober des Jahres 70 v. Chr. in einer vergleichsweise friedlichen Zeit. Die konkurrierenden Militärmachthaber Marius und Sulla waren tot. Das Verlangen nach offenem Kampf zwischen der Vertretern der Oligarchie und den so genannten Popularen hielt sich in engen Grenzen, obwohl der Streit zwischen den Parteien weiter schwelte. Den Konsulat teilten sich zwei spätere Triumvirn: der schneidige junge General Pompeius und Crassus, der reichste Mann Italiens. Cicero, Mitte dreißig, klagte in Rom als Anwalt der Sizilianer gegen einen ehemaligen Gouverneur der Insel; sein spektakulärer Triumph über den korrupten Verres sollte sich als ein Meilenstein seiner Karriere erweisen. Caesar war dreißig Jahre alt und bereitete sich darauf vor, zum ersten Mal für eines der höchsten Staatsämter zu kandidieren. Sein Weg zum Konsulat begann 68 v. Chr. mit der Quaestur.

Vergil gehörte also nicht der gleichen Generation an wie die führenden Männer des späteren Bürgerkriegs. Auch seine Herkunft prädestinierte ihn kaum zu besonderer Größe:

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sein Vater soll als Geschäftsmann zu bescheidenem Wohlstand gelangt sein. Die Familie stammte aus der ursprünglich keltisch besiedelten Po-Ebene; Vergils Heimatdorf Andes lag in der Nähe von Mantua. Größere Schlussfolgerungen lassen diese mehr oder weniger gesicherten Daten nicht zu: früher hat man sich noch getraut zu behaupten, Vergil sei so naturverbunden gewesen, weil er vom Dorf kam und vermutlich keltische Vorfahren hatte – aber heute können wir uns zu solchen Einsichten nicht mehr durchringen. Eines jedenfalls ist klar: seine Familie konnte sich für ihren Sohn die besten Schulen und anschließend ein Studium der Rhetorik und der Philosophie in Rom und Neapel leisten.

Der Bürgerkrieg, der im Jahre 49 begann, wurde für den jungen Dichter zum ständigen Begleiter: als Caesar den Rubikon überschritt, war Vergil gerade zwanzig Jahre alt, als Antonius sich am 1. August 30 das Leben nahm, war er beinahe 40. Seine Familie wurde direkt in Mitleidenschaft gezogen: Hinweise in den Eklogen machen es wahrscheinlich, dass das Landgut bei Mantua im Jahre 41 konfisziert und an Veteranen verteilt wurde.

Den Hintergrund, vor dem Vergils Werke entstehen, bildet also zum einen die Bildungs-, zum anderen die Kriegserfahrung. Über den Krieg muss hier zunächst nichts weiter gesagt werden, außer dass er nicht erst Vergil auf den in Rom immer etwas anrüchigen Gedanken gebracht hat, es könnte dankbarere Tätigkeitsfelder als die Politik geben. Die Bildung Vergils ruht auf vier Säulen: der Schulbildung, die ihren Schwerpunkt im Nationalepos der Römer, den Annalen des Ennius, hatte, der griechischen Bildung, deren Dreh- und Angelpunkt Homer war und blieb, der hellenistischen Philosophie und der modernen Literatur des frühen 1. Jh. v. Chr.

Auf diesem Gebiet war gerade in Italien alles in Bewegung. Als Vergil heranwuchs, hatte die lateinische Sprache mit Caesar und Cicero die größten Meister ihrer Prosa gefunden. Als ein zeitgenössisches Vorbild Vergils ist der philosophische Dichter Lukrez hervorzuheben, der eine epikureische Welterklärung in lateinischen Hexametern geschaffen hatte. Und mit Dichtern, wie Catull einer war, setzten sich die Qualitätsstandards der hellenistischen Dichtung in Rom durch. In dieser Zeit wurde in der lateinischen Literatur der Grundsatz verankert, dass große Dichtung immer ein Ergebnis harter Arbeit ist. Ein gelehrter Dichter, ein poeta doctus, wird keine Silbe dem Zufall überlassen. Planmäßig und mühevoll konstruiert er die Sinnebenen seiner Texte über ein Anspielungsgeflecht, das bei gesuchten mythologischen Herleitungen beginnt und im intertextuellen Verwirrspiel endet. So entstehen Gedichte, an denen naive und intellektuelle Leser gleichermaßen ihre Freude haben.

Wir können uns den dreißigjährigen Vergil als einen Destillierkolben vorstellen, in dem eine Mischung aus Homer und Ennius, aus griechischen Dichtern des Hellenismus,

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aus Catull, Lukrez und Epikur langsam gärt und zur Reife gelangt, während um ihn her die Welt seiner Jugend im Chaos versinkt. In dieser Lebensphase veröffentlicht Vergil sein erstes Meisterwerk, ein Gedichtbuch mit zehn kurzen bukolischen Gedichten, den Eklogen. Hier gelingt Vergil etwas, das stets der besondere Ehrgeiz römischer Literaten war: nämlich eine bisher unerschlossene griechische Gattung in die lateinische Literatur zu überführen: die Hirtendichtung, die auf den Sizilianer Theokrit zurückgeht.

Obwohl die Eklogen sich fundamental von der Aeneis unterscheiden, weisen sie bereits mehrere für Vergil charakteristische Züge auf. Zum einen ist die lange Entstehungszeit von Bedeutung. Der poeta doctus produziert langsam und mit größter Sorgfalt. Wir gehen heute davon aus, dass Vergil etwa drei Jahre brauchte, um die Eklogen zu schreiben, ein Gedichtbuch von insgesamt 827 Versen. Das entspricht etwa drei Versen in vier Tagen: eine Langsamkeit, die wir nicht mit Trägheit verwechseln dürfen. Literatur, die so entsteht, ist für den raschen Konsum ungeeignet. Sie ist dazu gemacht, dass der Leser immer wieder zu ihr zurückkehrt und bei jeder Lektüre etwas Neues und Wertvolles entdeckt. Zum Zweiten erleben wir Vergil hier erstmals als Parteigänger Octavians, des späteren Augustus, den er aber noch nicht beim Namen nennt. Und zum Dritten werden die Eklogen zum ersten Mal dem besonderen Schicksal Vergils gerecht, Vorstellungen von dauerhafter Nachwirkung zu formulieren, ohne dass er dieses Ergebnis hätte planen oder gar steuern können. Die vierte Ekloge kündigt in prophetischen Tönen die Rückkehr des Goldenen Zeitalters an und knüpft ihre Vision an die Geburt eines Heil bringenden Kindes. Die Christen, für die es nicht einfach war, ihren Glauben mit dem Erbe Roms in Einklang zu bringen, konnten später gar nicht anders, als in diesem Text einen Beweis für das Wirken des allmächtigen Gottes und in Vergil einen römischen Jesaja zu sehen – eine Interpretation, die viel dazu beitrug, die überragende Stellung Vergils bis weit über das Ende des römischen Reiches hinaus abzusichern.

An diesem Punkt verdient eine Schlüsselfigur für die Entwicklung der augusteischen Dichtung wenigstens en passant eine Würdigung: C. Cilnius Maecenas, der Prototyp aller steinreichen Förderer großer Begabungen. Maecenas war genauso alt wie Vergil, stammte aber aus etruskischem Uradel und war einer der wohlhabendsten Männer seiner Zeit. Mit Augustus verband ihn ein enges Vertrauensverhältnis: ohne ein staatsrechtlich definiertes Amt zu bekleiden, war er seit der Mitte der dreißiger Jahre der Stellvertreter des Princeps in der Hauptstadt. Er dilettierte selbst ohne bleibenden Erfolg als ein hochgradig manierierter Schriftsteller, der uns aus den Quellen als eine merkwürdige Mischung aus kühlem Machtpolitiker und überfeinertem Dandy entgegentritt.

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Zugleich war Maecenas aber offenkundig auch ein großherziger Förderer der Kunst, als Kritiker fähig, überragende Begabungen zu erkennen, und als Mensch fähig, sie an sich zu binden und für seine Ziele zu gewinnen. Die größten Namen, die wir in seinem Umfeld finden, sind der Elegiker Properz, Horaz und Vergil. Sie alle verbindet ihr Engagement für die von Augustus geschaffene neue Ordnung des Staates und ihr hoher Anspruch an literarische Qualität.

Im Umfeld des Maecenas ist eine Sammlung von Werken entstanden, auf die in den nächsten zweitausend Jahren die Ideologen imperialer Herrschaft immer wieder zurückgreifen sollten. Bei aller Unterschiedlichkeit in Themenwahl, Gattung und Stil kam im Maecenaskreis eine einheitliche Tendenz zum Tragen, die das Reformwerk des Augustus mit Nachdruck unterstützte – bei Vergil erstmals in seinem zweiten Meisterwerk, den Georgica, einem Lehrgedicht über die Landwirtschaft von knapp zweitausend Versen, an denen Vergil etwa zehn Jahre gearbeitet hat. Die Landwirtschaft, in klassizistisch einfacher Sprache behandelt, erscheint als das richtige Thema, um eine Rückbesinnung auf die ältesten Werte Roms zu propagieren: Vergil stellt das Leben der Bauern als Gegenentwurf zu der Gesellschaftsform dar, die im Bürgerkrieg ihre Legitimität eingebüßt hatte.

Im Proömium des dritten Buches der Georgica kündigt Vergil nun sein letztes und größtes Vorhaben an. Der Sprecher will einen Marmortempel errichten, in dessen Mitte das Bild des Augustus stehen soll: in medio mihi Caesar erit (3, 16). Die poetologische Metapher ist als Ankündigung eines weiteren dichterischen Werkes zu verstehen. Von Horaz wissen wir, dass Augustus und Maecenas sich von den Dichtern des Maecenaskreises mehrfach ein Epos auf den neuen Kaiser gewünscht haben. In den Georgica zeigt Vergil nun scheinbar seine Bereitschaft an, auf diesen Wunsch einzugehen. Was daraus wurde, ist bekannt: Das Augustusepos blieb letztlich ungeschrieben, aber wohl kaum aus politischen Gründen. Vielmehr können wir vermuten, dass ungeschminktes Herrscherlob sich nicht mit den Qualitätsmaßstäben vertrug, die Horaz und Vergil an ihre Werke anlegten; auch wäre das Leben des Augustus kein wirklich geeigneter Stoff für ein Epos gewesen. Wenn Vergil eine Augusteis schreiben wollte, konnte das nicht auf direktem Wege geschehen.

In den letzten zehn Jahren seines Lebens ließ Vergil sich deshalb auf das bis dahin ehrgeizigste Projekt der lateinischen Literatur ein: ein Gedicht, das als Gegenstück zu Homer konzipiert wurde und das die Annalen des Ennius als Nationalepos ersetzen sollte. Der ungeheure Anspruch, der hinter einem solchen Vorhaben stand, wurde im Maecenaskreis kontrovers diskutiert. Das Selbstbewusstsein der Augusteer entsprach ihrer tatsächlichen Bedeutung: sie wussten, dass sie es mit den besten Dichtern der Griechen aufnehmen konnten. Aber genügte ihre Kunst auch, um den Wettkampf mit der halbmythischen Gestalt Homers aufzunehmen?

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Und lohnte es sich überhaupt, dem dichterisch längst überholten Ennius, der den gebildeten Römern emotional so viel bedeutete, eine neue Interpretation der römischen Geschichte entgegenzusetzen? Vergil selbst soll am Ende seines Lebens nicht mehr davon überzeugt gewesen sein. Als er im Jahre 19 v. Chr. in Brindisi im Sterben lag, verlangte er angeblich, das unvollendete Manuskript zu zerstören. Si non è vero, è ben trovato; denn nichts unterstreicht besser, welche Anforderungen Vergil an sich selbst stellte, als das Ansinnen, ein Werk zu vernichten, das vom Zeitpunkt seiner Veröffentlichung an als das Beste galt, was jemals auf Latein geschrieben wurde.

(II) Die Aeneis ist ein Versepos, das in zwölf Büchern davon berichtet, wie nach dem Untergang Trojas die Überlebenden unter der Führung des Aeneas ihre neue Heimat in Italien finden, sodass ihre Kolonie die Keimzelle für das zukünftige Rom werden kann. Unvollendet ist die Aeneis nur in dem Sinne, dass Vergil nicht mehr die Zeit für die Endredaktion hatte. Deshalb treffen wir gelegentlich auf halbfertige Verse, die als Platzhalter für eine endgültige Lösung stehen geblieben sind. Die Erzählung der Aeneis hingegen ist abgeschlossen. Wir können uns also einen zuverlässigen Überblick über Inhalt und Gliederung des Textes verschaffen.

Die Handlung der Aeneis vollzieht sich in einer Zeitspanne von wenigen Monaten; durch Rückblicke auf vergangene und Ausblicke auf künftige Ereignisse aber umspannt der Text einen Zeitraum vom Untergang Trojas bis zur Gegenwart Vergils. Die auffälligsten Gliederungseinheiten sind dabei die Bücher, von denen jedes durchschnittlich 800 Verse lang ist. Die Länge eines Buches war geeignet für eine mit modernen Konzerten vergleichbare, abendfüllende Rezitation. Vergil hat den Stoff in mehreren einander überlagernden Gliederungsebenen kunstvoll arrangiert. Die Aeneis gliedert sich also nicht nur in ihre zwölf Bücher, sondern auch in Werkdrittel von je vier Büchern (Karthago, die Reise nach Italien und der Krieg) und in ihre Hälften: die Suche nach und den Kampf um die verheißene Heimat.

Den Gattungsregeln des Epos entsprechend verzichtet Vergil auf die Darstellung der Vorgeschichte und wählt den Einstieg in medias res (Hor. ars poet. 148): Nach dem Proömium verschlägt ein von ihrer alten Feindin, der Göttin Juno, erregter Sturm die Trojaner an die Küste des heutigen Tunesien. In der phönizischen Kolonie Karthago gewährt die Stadtgründerin Dido den Vertriebenen ihre Gastfreundschaft. Venus, die Mutter des Aeneas, weckt in ihr die Liebe zu dem Trojaner, um ihn vor der notorischen Heimtücke der Phönizier zu schützen.

Bei einem Gastmahl in Karthago berichtet Aeneas in einer großen Rückblende vom Untergang Trojas, seiner Flucht mit seinem Vater Anchises und mit Ascanius, seinem Sohn,

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sowie von den anschließenden Irrfahrten seines Volkes. Ein Orakel weist schließlich den Weg nach Italien. Während ihrer Fahrt stirbt Anchises auf Sizilien und wird dort bestattet.

Die Karthago-Episode endet im vierten Buch mit dem heute bekanntesten Teil der Aeneis. Erzählt wird die Geschichte von Dido und Aeneas, deren Liebe enden muss, als Jupiter Aeneas an seinen Schicksalsauftrag erinnert. Heimlich verlässt Aeneas Karthago. In maßloser Verzweiflung verflucht Dido die Trojaner und ersticht sich auf dem Scheiterhaufen mit dem Schwert des Geliebten.

Der Tragödie folgt ein entspannendes Moment. Auf ihrer Reise machen die Trojaner am Todestag des Anchises auf Sizilien Station. Aeneas veranstaltet festliche Spiele. In Italien angekommen, sucht Aeneas die Sibylle von Cumae auf. In ihrer Begleitung wandert er in die Unterwelt, um den Rat des Schattens seines Vaters einzuholen. Auf dem Weg begegnet er auch dem Schatten Didos, die sich schweigend von ihm abwendet. Anchises zeigt Aeneas im Elysium die Seelen der künftigen Helden Roms, deren Kette bis in die Zeit des Augustus reicht.

Die zweite Werkhälfte beginnt mit der Ankunft der Trojaner an ihrem Bestimmungsort im Raum der Tibermündung. Der König Latinus ist bereit, die Ansiedlung der Heimatlosen zu dulden, und will Aeneas seine Tochter Lavinia zur Frau geben. Um das zu verhindern, schickt Juno die Furie Allecto zu Lavinias Bräutigam, dem Rutulerprinzen Turnus. Turnus ist entschlossen, sich dem Fatum in den Weg zu stellen, und sammelt Verbündete gegen die Trojaner. Ein Missgeschick des Ascanius bei der Jagd nach einem zahmen Hirschen wird zum casus belli.

In dieser angespannten Lage sucht Aeneas Verbündete im Volk des Evander, das an der Stätte des späteren Rom siedelt, und bei den Etruskern. Venus bittet Vulcanus um neue Waffen für ihren Sohn. Auf dem goldenen Schild, den Vulcanus schmiedet, finden sich prophetische Darstellungen der Zukunft Roms bis zur Schlacht bei Actium.

Noch in Abwesenheit des Aeneas beginnen die Kampfhandlungen. Die Trojaner Nisus und Euryalus schleichen sich in das Lager der Italer und kommen dabei ums Leben. Als Aeneas mit seinen Verbündeten endlich eintrifft, tötet Turnus Pallas, den Sohn Evanders, im Kampf und erbeutet dessen Waffen. Aeneas erschlägt den grausamen Italerfürsten Mezentius, dessen Waffen er dem Mars weiht. Die verlustreichen Kämpfe dauern an, bis es Nacht wird. Erst im letzten Buch kommt es nach weiteren Verwicklungen zum entscheidenden Zweikampf zwischen Turnus und Aeneas. Der siegreiche Trojaner will Turnus Gnade erweisen. Da erkennt er aber, dass der Rutuler die Waffen des Pallas trägt:

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Aeneas nimmt Rache, und der Tod des Turnus setzt der Erzählung ein abruptes Ende.

(III) Schon die Übersicht macht deutlich, dass der markanteste Einschnitt in der Mitte liegt. Er trennt zwei Werkhälften, die mit den Epen Homers korrespondieren. Die erste Werkhälfte – wenn man so will, ein Reiseepos – entspricht der Odyssee, das Kriegsepos in der zweiten Werkhälfte der Ilias. Schon diese Aufteilung zeigt, wie eng sich Vergil an Homer anlehnt. Auch im Detail greift die Aeneis auf zentrale Motive und berühmte Szenen der homerischen Epen zurück. Vergil will, dass der Leser den Moment, in dem Aeneas sich Dido zu erkennen gibt, mit dem großen Auftritt des Odysseus am Hofe des Königs der Phäaken vergleicht. Wie Odysseus sucht Aeneas den Eingang zur Unterwelt auf, um sich von dem Wissen der Toten leiten zu lassen. Wie Achill nimmt er Rache an dem Feind, der die Beutewaffen seines erschlagenen Freundes trägt. Wie Achill empfängt er eine Rüstung aus der Hand seiner göttlichen Mutter. Der Katalog italischer Helden im siebten Buch verbindet die Wesenszüge des Schiffskatalogs und der Mauerschau der Ilias, und Aeneis wie Ilias enthalten ausführliche und bedeutungsvolle Beschreibungen der Abbildungen auf dem Schild ihrer Helden. Auch Skylla und Charybdis, Äolus und Polyphem lässt Vergil Revue passieren, sodass der Leser zu keinem Zeitpunkt das homerische Gegenstück aus den Augen verliert.

Deshalb wird zumindest der Klassische Philologe die Aeneis auch stets vor dem Hintergrund Homers lesen und interpretieren — eine keineswegs zwingende Zugangsweise. Denn eine nicht zu unterschätzende Stärke der Aeneis liegt darin, dass dieser voraussetzungsreiche Text wie jede große Erzählung auch von einem Leser ohne Vorbildung mit Spannung und Genuss rezipiert werden kann. Ein Beispiel dafür, wie Vergil ganz unterschiedliche Leserkreise gleichzeitig anzusprechen vermag, ist die Polyphem-Episode im dritten Buch: Als die Trojaner an der Küste Siziliens in der Heimat des Zyklopen landen und einen dort zurückgelassenen Gefährten des Odysseus auflesen, erleben sie von Ferne, wie der geblendete Polyphem sich dem „wohlbekannten Strand“ nähert (3, 657). Litora nota petit: das Wort erklärt sich unmittelbar aus dem Zusammenhang; denn Polyphem, der sein ganzes Leben dort verbracht hat, kennt auch als Blinder den Strand noch wie seine Westentasche. Aber der homerkundige Leser darf sich hier auch mit einem Augenzwinkern an die eigene Leseerfahrung erinnert fühlen: schließlich gibt es in der gesamten antiken Literatur nur wenige Orte, die jedermann so bekannt sind wie die Zyklopeninsel der Odyssee.

Weniger deutlich fassbar ist für uns das zweite große Vorbild Vergils, die Annalen des Ennius, von denen heute nur noch Fragmente überliefert sind. Es handelte sich dabei um ein historisches Epos, das die römische Geschichte von ihren Anfängen mit Aeneas bis in die unmittelbare Gegenwart des Verfassers,

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das heißt bis über den zweiten Punischen Krieg hinaus darstellte. Die Annalen waren für die gebildeten Römer das Nationalepos ihres großartigen Staates; Cicero bezeichnet den Verfasser oft schlicht und selbstverständlich als „unser Ennius“ (noster Ennius – z.B. Pro Archia 22). Ennius hatte für die Römer eine Bedeutung, die mit der Homers für die Griechen vergleichbar war. Wie Homer war er der eigentliche Vater der lateinischen Dichtersprache. Er hatte den griechischen Hexameter in der lateinischen Literatur etabliert und er hatte ein großes Epos von einer solchen Reife und Qualität vorgelegt, dass es sich fast zweihundert Jahre lang konkurrenzlos behaupten konnte.

Veraltet allerdings war im 1. Jh. v. Chr. die Verstechnik des Ennius und ein wesentlicher Teil seines Vokabulars. Seine vielleicht zu Beginn des 2. Jh. noch als glanzvoll empfundenen Manierismen wirken auf einen am klassischen Stil geschulten Geschmack befremdlich, ja geradezu als Verletzung einer Gattung, die Pathos und würdevolle Getragenheit anstrebt. Deshalb sind manche Verse nur als abschreckendes Beispiel für den Missbrauch eines Stilmittels erhalten geblieben. Man vergleiche etwa die Lautmalerei bei Vergil („dumpf grollte der Berg“: magno cum murmure montis) mit der bei Ennius: „Und die Trompete machte mit schrecklichem Getön Täterätä“ (at tuba terribili sonitu taratantara dixit).

Die Aeneis ist nun trotz ihrer grundlegend anderen Konzeption ein aus demselben historischen Bewusstsein wie die Annalen geborenes Werk. Dass es gelungen ist, alle einschneidenden Ereignisse der römischen Geschichte in den Zusammenhang des Aeneas-Stoffes einzubetten, beweist zunächst vor allem das Erzähltalent Vergils. Aber alles, was Ennius wichtig war, ist auch in der Aeneis vorhanden, und mehr: die Gründung Roms als eine Verheißung, gespiegelt in der Beschreibung des Aufbaus von Karthago, die Auseinandersetzung mit den Völkern Italiens, der Punische Krieg, den Vergil als eine späte Rache der verratenen Dido in Aussicht stellt; und über Ennius hinausgreifend, erkennen wir in der Kriegshandlung, der Selbstzerfleischung von Völkern, die zum Zusammenwachsen bestimmt sind, auch eine Reflektion des Bürgerkriegs und in Aeneas den Typus des Augustus, der als Agent der Schicksalsmächte die Gegensätze überwinden wird.

Und wie den homerischen Epen, so folgt die Aeneis auch dem Ennius oft noch im Detail. Wir kennen, zumeist aus antiken Vergil-Kommentaren, einzelne Textpassagen die unmittelbar auf Ennius Bezug nehmen. Der oben zitierte Vers ist dafür ein Beispiel. Denn die Furcht erregende Tuba des Ennius ertönt auch bei Vergil — nur ohne Täterä. Im neunten Buch beginnt der Krieg mit einem Trompetensignal: „Und in der Ferne stieß die Trompete aus klingender Bronze ihren schrecklichen Ton aus: dann erhob sich der Kriegsschrei und hallte vom Himmel her wider“ (at tuba terribilem sonitum procul aere canoro / increpuit, sequitur clamor caelumque remugit).

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An vielen Stellen aber können wir einen Bezug auf Ennius nur noch erahnen. Besonders die Schilderung einzelner Kämpfe hat oft ein ennianisches Gepräge, ohne dass eine direkte Imitation heute noch nachweisbar wäre.

Die enge Anlehnung an die beiden Klassiker des Epos zeigt, welchen Anspruch die Aeneis stellt. Vergil wollte neben dem unvergleichlichen Homer gelesen werden, eine Zumutung, die von den griechischen Dichtern stets abgelehnt worden war und die zumindest ein Überlegenheitsgefühl gegenüber denjenigen verrät, von denen die Römer das Dichten gelernt hatten. Und Vergil wollte neben Ennius gelesen werden, einer Art Nationalheiligtum, das den gebildeten Römern viel bedeutete – eine ganz andere Art von Zumutung; denn hier verlangt der überlegene Literat von seinen Lesern, einen Platz in ihren Herzen frei zu machen, der bisher Ennius vorbehalten war.

Konnte der Ehrgeiz Vergils Erfolg haben? Man stelle sich einen modernen Autor vor, der programmatisch den Anspruch erhebt, mit einem neuen Drama den ganzen Shakespeare und Goethes Faust zu ersetzen. Welche Chancen würden wir ihm einräumen? Vergil jedenfalls war ein sofortiger und durchschlagender Erfolg beschieden. Die Aeneis war vom Zeitpunkt ihres Erscheinens an der neue Maßstab, nicht mehr Ilias und Odyssee. Bis heute ist sie der klassische Text der lateinischen Literatur überhaupt. Den alten Ennius hat sie so vollständig überflüssig gemacht, dass er wahrscheinlich schon im 4. Jh. nach Christus verloren war. Und dennoch scheint die Aeneis, so erfolgreich sie auch war, den eigenen Qualitätsansprüchen Vergils in ihrem unfertigen Zustand nicht genügt zu haben. Die Frage, ob er seinen persönlichen Standards hätte gerecht werden können, wenn er dafür mehr als nur zehn Jahre Zeit gehabt hätte, muss offen bleiben. Der von der lateinischen Zivilisation geprägte Erdteil jedenfalls hat die Aeneis neben der Bibelübersetzung des Hieronymus, der Vulgata, und dem Corpus Iuris immer als ein Kernstück seines kulturellen Erbes betrachtet.

(IV) Warum also scheint die Aeneis ihr Beharrungsvermögen in den letzten sechzig Jahren seit T.S. Eliot verloren zu haben? Die Frage erlaubt mehrere Antworten, von denen ich die gewissermaßen textimmanenten zuerst nennen möchte.

Der erste und einfachste Grund liegt in dem, was der Hamburger Latinist Walther Ludwig in Abwandlung des Wortes Blutarmut die Lateinarmut der Gesellschaft genannt hat. Vergil ist ein Meister der lateinischen Dichtersprache. Wer also in den ästhetischen Genuss der Vergillektüre kommen will, der muss entweder diese Sprache erlernen, oder er braucht einen Übersetzer, der das Deutsche so beherrscht wie Vergil seine Muttersprache. Die lateinische Dichtersprache beherrschen heute aber (anders als zu Zeiten T.S. Eliots) nur noch wenige Angehörige der gebildeten Bevölkerungsschicht,

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und seinen kongenialen Übersetzer hat Vergil (anders als Shakespeare) nicht gefunden. Wahrscheinlich hat Vergil den Zeitpunkt verpasst, sich einbürgern zu lassen: Was Johann Heinrich Voss nicht geschafft hat, dürfte heute erst recht niemandem mehr glücken.

Ein zweiter Grund liegt in der Poetik des poeta doctus. Vergil braucht nicht unbedingt den gebildeten Leser, der seine Anspielungen versteht, aber er geht doch davon aus, dass er ihn hat. Wiederholte Frustrationserlebnisse bei der Lektüre werden einen Leser jedoch letztlich abschrecken. Eine Poetik, die auf gelehrte Anspielungen baut, ist deshalb selbst in der Postmoderne noch unmodern, wenn nicht wenigstens (wie bei Umberto Eco) eine zünftige Krimihandlung über Durststrecken hinweghilft. Frustrierend ist dabei nicht nur das Unverständnis, sondern gerade für den interessierten Leser auch die unbefriedigte Neugier auf das, was ihm da wohl entgangen sein könnte.

Auch die zentrale Aussage der Aeneis selbst scheint heute problematisch. Vergils Geschichtsbild ist teleologisch. Besonders die beiden prophetischen Passagen, die Heldenschau im sechsten und die Schildbeschreibung im achten Buch, laufen auf ein Ende der Geschichte hinaus, darauf, dass unter Augustus die Gegensätze aufgehoben und das Römische Reich in einen dauerhaften Zustand friedlichen Gedeihens überführt worden ist. Denn, wie W.H. Auden in seinem Gedicht „No, Vergil, No“ zu Recht bemängelt hat, einen Ausblick auf zukünftige Ereignisse kann nur derjenige mit den Helden aus der Familie des Augustus und mit der Schlacht bei Actium enden lassen, der keine weiteren Ereignisse mehr erwartet.

Wir nehmen heute weniger an diesem scheinbaren Denkfehler Anstoß als an der Absicht, die sich dahinter verbirgt. Es fällt dem modernen Leser schwer zu akzeptieren, dass Vergil in seinem ehrgeizigsten Werk eine Aussage angelegt haben soll, die einseitig den Kaiser Augustus unterstützt, den Mann, der als blutiger Sieger die Republik endgültig abgeschafft und über das freie Rom die Autokratie gesetzt hat. Das Europa der Königreiche kannte solche Bedenken noch nicht. Wir hingegen erwarten von guter Literatur eine gewisse Widerständigkeit und Kritikfähigkeit gegenüber gesellschaftlichem und politischem Unrecht. Hans Magnus Enzensberger hat deshalb Vergil und Horaz vorgeworfen, mit ihnen beginne „die Geschichte der Poesie als politischer Affirmation in allem Ernst“ – eine Kritik, die der Bereitschaft, sich auf Vergil einzulassen, in Deutschland sehr abträglich gewesen ist. Die aus der Ablehnung totalitärer Propaganda geborene Vorstellung, gute Literatur müsse kritisch sein, ließ Vergil als einen Literaten erscheinen, der seine geistige Unabhängigkeit verloren hatte. Dass in der Aeneis der Plan der Schicksalsmächte, der allein dem Leid der Menschen einen Sinn gibt, auf die segensreiche Herrschaft eines aufgeklärten Despoten hinausläuft, widerstrebt entschieden unserem politischen Temperament.

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Für den Statusverlust Vergils kommt in Deutschland ein vierter Grund hinzu, der für andere Teile Europas nicht gilt: die hohe Identifikation des Geisteslebens mit griechischen Vorbildern seit Schleiermacher und Winckelmann. In Deutschland wirkt das sinnlose Vorurteil, Homer sei der bessere Autor, weil aus ihm die Kraft ursprünglicher Kreativität spreche, bis heute nach. Abgesehen davon, dass das Zauberwort „besser“ für den Vergleich großer Literatur ungeeignet ist, entkoppelt diese besondere Tradition im Selbstverständnis deutscher Intellektueller unsere Vergilerfahrung von der anderer abendländischer Nationen.

Aber es gilt nicht nur für Deutschland, dass die Präsenz Vergils in der westlichen Welt nur noch schwach spürbar ist. Als Schulautor hat Cicero sich behauptet, und Augustins Confessiones werden gelesen, weil in seiner Selbsterfahrung eine zeitlose Modernität zum Tragen kommt. Dass jedoch selbst Ovid heute beliebter ist als Vergil, obwohl auch er ganz poeta doctus bleibt, muss uns angesichts der Vorgeschichte in Erstaunen versetzen. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass Ovid bei aller Themenfülle immer der leicht ins Zynische abgleitende Erotomane seiner frühen Elegien geblieben ist. Sex sells.

Eine weitere Erklärung ergibt sich aber zugleich aus dem ernsthaften Anliegen der Metamorphosen, dem Geschichtsbild Vergils den immerwährenden Fluss der Verwandlungen entgegenzusetzen. Auch diese Position Ovids trifft auf eine dankbare Zeitströmung, die ich als die Enthistorisierung der Wissenschaften bezeichnen möchte. Wenn T.S. Eliot Vergil als den Klassiker par excellence anspricht, weil er als Klassiker einer toten Sprache für alle Kulturnationen Europas die gleiche Verbindlichkeit entwickeln konnte, dann gilt das nur, solange uns ein historisches Bewusstsein erhalten bleibt. Selbst in den Geisteswissenschaften aber nimmt dieses Bewusstsein ab. Was heute in der Wissenschaft modern ist und unter dem Klammerbegriff der Interdisziplinarität zusammengefasst werden kann, untergräbt die Stellung Vergils nachhaltig. Wenn wir als wissenschaftler nicht mehr vermitteln, welche Texte unsere Kultur aus welchen Gründen maßgeblich geprägt haben, wie sollen dann unsere Studenten dieses Wissen oder auch nur die Neugier darauf an ihre Schüler weitergeben? Die Enthistorisierung der Wissenschaft hat eine Enthistorisierung der Bildung zur Folge. Dass damit gleichzeitig auch das Niveau der Bildung sinkt, will ich nicht gesagt haben. Jedenfalls liegt hier eine Ursache dafür, dass Vergil von einem Autor der Gebildeten zu einem Autor der Gelehrten geworden ist.

(V) Nach all den Begründungen, die ich angeführt habe, um zu erklären, was uns den Zugang zu Vergil erschwert, werden sie mir eine Frage nicht ersparen: Sollte man ihn trotzdem heute noch lesen, und wenn ja, warum? Was das angeht, möchte ich Sie beruhigen. Die Aeneis ist auch heute noch ein Buch, das seine Leser reich belohnen kann.

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Über seine ästhetische Qualität möchte ich mich hier nicht äußern — was ich zu sagen hätte, wäre ungefähr so hilfreich wie die Erklärung, warum Beethovens Eroica schöne Musik ist. Über das Taktgefühl und den Geschmack Vergils hat T.S. Eliot mehr gesagt, als dass ich noch etwas Wesentliches beizusteuern hätte.

Aber gerade der Punkt, der in den vergangenen Jahrzehnten ein Ärgernis gewesen ist, sollte die Aeneis für uns zu einem aufregenden Erlebnis machen. Denn eingebettet in eine spannende Handlung, getragen von glaubwürdigen Charakteren, bietet Vergil etwas, das es in der Literatur unserer Zeit nicht gibt: einen systemnahen politischen Autor von großem Können und vollkommener moralischer Integrität. In unserem eigenen politischen System, der freiheitlichen Demokratie, ist ein solcher Autor seit Walt Whitman Desiderat geblieben; und einen Epiker unserer Freiheit hat es überhaupt noch nicht gegeben.

Vergils Bedeutung für das römische Selbstverständnis kann uns helfen zu verstehen, was ein solcher Autor in unserer Zeit leisten müsste. Das Alte Europa hatte Vergils Vorstellung von der pax Romana verinnerlicht und jedes mächtige Land hat auf seine Art versucht, daran anzuknüpfen. Wie aber würde ein Epos oder ein Roman aussehen, mit dem ein Talent vom Format Vergils dem Neuen Europa, das noch im Entstehen begriffen ist, gerecht werden könnte?

Ich gäbe viel dafür, einen solchen Autor zu erleben. Bis es soweit ist, will ich mich darauf beschränken, Ihnen Vergil mit einem Gedanken Nietzsches anzuempfehlen, der vom Nutzen und Nachteil der Historie sagt, er „wüsste nicht, was die Klassische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäß – das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit – zu wirken". Was Nietzsche hier von einer ganzen Wissenschaft behauptet, lässt sich nahtlos auf die Aeneis übertragen. Sie dient uns nicht mehr dazu, das Eigene in seiner Tradition zu verorten, aber wir können mit Vergil das Fremde dem Eigenen gegenüberstellen, um aus der Gegenüberstellung Verständnis und Orientierung zu gewinnen.



Dr. Fritz Felgentreu
Freie Universität Berlin
Seminar für Klassische Philologie
Ehrenbergstr. 35
14195 Berlin (Dahlem)
(ffelge@zedat.fu-berlin.de)


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Literatur:

Th. S. Eliot, Was ist ein Klassiker? Frankfurt 1963 (Edition Suhrkamp 33) (engl. Originalausgabe: What is a Classic? An address delivered before the Virgil Society on the 16th of October 1944, London 1945).

W. Ludwig, Über die Folgen der Lateinarmut in den Geisteswissenschaften, Gymnasium 98, 1991, 139–158.

H. M. Enzensberger, Poesie und Politik, in: ders., Einzelheiten, Frankfurt a.M. 1962, 334–353.

N. Horsfall, A Companion to the Study of Vergil, Leiden 1995 (Mnemosyne suppl. 151).