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                                       Pegasus-Onlinezeitschrift V/1 (2005), 28

Markus Schauer

Friedrich Immanuel Niethammer und der bildungspolitische Streit des Philanthropinismus und Humanismus um 1800

 

Um 1800 hatten die alten Sprachen mit Legitimationsproblemen zu kämpfen, die den heutigen in mancher Hinsicht vergleichbar sind. Das 17. und 18. Jahrhundert war von einem beachtlichen Niedergang der deutschen Lateinschulen gekennzeichnet, die Nationalsprachen traten in Literatur und Wissenschaft in den Vordergrund, die französische Sprache verdrängte die lateinische als internationale Sprache, die Naturwissenschaf­ten gewannen an den Universitäten an Eigenständigkeit, an der Schule begannen sich neue Fächer wie moderne Sprachen, Mathematik, Physik, Geschichte und Geographie zu etablieren. Der Rationalismus der Aufklärung und die politisch-wirtschaftliche Situation nach der Französischen Revolution begünstigten die Stärkung realkundlicher Fächer. Dies führte zu einer Auseinandersetzung zwischen den sog. Humaniora und den Realia, also zwischen den altsprachlichen und naturwissenschaftlichen Fächern, (1) um die Vorherrschaft an der Schule, die an heutige Kontroversen um die Legitimation des Altsprachenunterrichts erinnert.

In Bayern war eine der bedeutendsten Schlüsselfiguren des damaligen bildungspolitischen Disputs Friedrich Immanuel Niethammer, der in dieser Situation den Auftrag erhielt, ein Reformprogramm für das gesamte Schulwesen zu konzipieren, was auch die Bestimmung der Fächerkanones der einzelnen Schularten und die Erstellung von Lehrplänen für die höheren Schulen einschloss. Niethammer sollte also sowohl das Institutionelle als auch das Inhaltliche völlig neu organisieren, und er tat das, indem er eine bildungstheoretische Grundlage erarbeitete, die seine Reform wie aus einem Guß erscheinen lässt. In seiner Schrift Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit – im folgenden kurz Streit genannt fasst Niethammer die Diskussionen seiner Zeit zusammen, erarbeitet einen Kompromiss und macht dieses Ergebnis zur Ausgangsbasis seiner Reformen.

Niethammers Rolle in Bayern entspricht der Wilhelm von Humboldts in Preußen: Beide hatten etwa dieselbe ministeriale Stellung inne, beide initiierten eine Reform des Schulwesens, beide entwarfen bildungstheoretische Konzepte – und beide scheiterten:   Humboldt im Grunde schon nach knapp einem Jahr, Niethammers Reformen wurden nach acht Jahren gekippt. Gemeinsam ist beiden auch, dass sie eine Zwischenstellung in der damaligen Diskussion Humaniora versus Realia einnahmen, und obwohl beide einen vermittelnden Standpunkt vertraten, in dem Aspekte der realistischen und der humanistischen Strömung einander ergänzten, wirkten sie de facto als Wegbereiter dessen, was wir heute unter dem Begriff Neuhumanismus verstehen.

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Der folgende Beitrag ist dem Reformer und Bildungspolitiker Niethammer gewidmet, der in der heutigen Wahrnehmung ein wenig im Schatten seines 'großen Bruders' Humboldt steht.

Daher sollen zunächst in einem ausführlichen und detaillierten Porträt Niethammers Leben nachgezeichnet und zugleich die institutionellen, sozialen und geistigen Rahmenbedingungen seiner Zeit sichtbar gemacht werden. Im zweiten Teil stellen wir dar, wie Niethammer, aus den zahlreichen zeitgenössischen Strömungen schöpfend, auf die damalige Bildungsdebatte theoretisch reagierte und im Schulwesen reformpolitisch agierte.  

 

Erster Teil

Die historischen Rahmenbedingungen

Niethammers Lebensspanne umfaßt eine Zeit, die von zahlreichen historischen Umbrüchen geprägt wurde. Geboren drei Jahre nach dem Ende des Siebenjährigen Kriegs (1763), gestorben kurz vor der Märzrevolution von 1848, erlebte er als Zeitzeuge die Französische Revolution, das Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, den Wiener Kongress und die Zeit des Vormärzes, um nur einige Stichpunkte zu nennen.

Niethammer hatte nicht als freier Philosoph, sondern als von Montgelas berufener Beamter seinen bildungstheoretischen Entwurf geschrieben. Von Bedeutung für die Konzeption von Niethammers Reformprogramm ist auch der Wandel, der unter dem Einfluss der Französischen Revolution (2) in der staatlichen Verwaltung stattfand. Seit den Zeiten des aufgeklärten Ab­solutismus hatte es in den Monarchien der deutschen Reformzeit grundsätzliche Änderungen der Sozial-, Wirtschafts- und Bildungspolitik gegeben: "Erst diese Reformphase leitete Deutschland hinüber vom agrarisch und feudal bestimmten Ständestaat, der in den meisten Territorien durch den Absolutismus weitgehend modifiziert worden war, zum modernen li­beralen Verfassungsstaat und zur Freisetzung der wirtschaftlichen Kräfte im Zeitalter der Industrialisierung." (3) Eine entscheidende Rolle spielten hierbei die Neuorganisation der Bürokratie und das "seit dem 18. Jahrhundert grundlegend gewandelte Beamtentum […], das in jener Epoche, wie auch bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein, das eigentliche Ferment des Fortschritts in Deutschland darstellte. Dieses Beamtentum führte und gewann den ‘latenten Klassenkampf zwischen Feudalismus und Bürokratie‘ [H. H. Hofmann].” (4) Vor diesem historischen und sozialgeschichtlichen Hintergrund entwarf Niethammer als Zentralschulrat sein Reformprogramm für das Unterrichtswesen. Es war eine Zeit, in der innovative Minister und Staatskanzler, die den oft überforderten Souveränen zur Seite standen und für diese die Regierungsgeschäfte organisierten – hier sind etwa Männer wie Stein, Humboldt, Reitzenstein, Hardenberg oder in Bayern der für Niethammer zuständige Montgelas zu nennen –,

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angeregt von den Ideen der Französischen Revolution oder der Deutschen Aufklärung bzw. der jüngst erstarkenden Strömung des Neuhumanismus, energisch Reformen im Finanz-, Verwaltungs-, Militär- und Schulwesen in Gang zu setzen versuchten. Die Beweggründe für diese Reformpolitik entsprangen verschiedenen Motiven: So musste das Überleben der Staaten gesichert werden, die gegen das aus der Französischen Revolution hervorgegangene Volksheer Napoleons keine Chance hatten, waren doch ihre Staats-, Heeres- und Gesellschaftsorganisationen obsolet geworden. Es galt nun, die breiten Schichten des Volkes für die Sache des Staates gewinnen, um eine vergleichbare militärische Macht gegen Frankreich aufbauen zu können. Ein konsolidiertes Finanzwesen und eine effektivere Verwaltung, die neue zentrale Institutionen schuf, waren hierfür gleichermaßen Bedingung. Aber nicht nur die Sachzwänge der äußeren und inneren politischen Lage spielten eine Rolle, sondern auch die Ideale der Aufklärung und des Neuhumanismus flossen in die praktischen Überlegungen ein, die die Staatsräson verlangte. Da vor allem das Beamtentum, das sich vermehrt aus dem Bürgertum rekrutierte, der maßgebliche Träger der Reformpolitik war, lag es nahe, dass in diesen Jahren verstärkt grundsätzliche Überlegungen zur Gestaltung des allgemeinen Bildungswesens geäußert wurden, die eine angemessene Ausbildung kompetenter Beamter würde garantieren können. (5) In diesem Zusammenhang war auch die Frage brisant, ob die schulische Ausbildung den noch bestehenden Standesunterschieden im Sinne einer restaurativen Bildungspolitik Rechnung tragen oder aber zu einer Nivellierung der ständischen Unterschiede beitragen sollte. (6)

Zum Werdegang Niethammers

Friedrich Immanuel Niethammer (7) (in zeitgenössischen Briefen taucht auch die Schreibweise Niedhammer auf) wurde am 6.3.1766 im württembergischen Beilstein bei Heilbronn als ältestes von 15 Kindern eines protestantischen Pfarrers geboren; er besuchte die dortige Lateinschule; 1780 trat er in die niedere Klosterschule zu Denkendorf ein, wo er vor allem in den drei alten Sprachen (Latein, Griechisch und Hebräisch) ausgebildet wurde; 1782 erfolgte der Wechsel an eine höhere Klosterschule zu Maulbronn, 1784 trat er in das Tübinger Stift ein, das nach ihm seine späteren Freunde Hölderlin, Hegel und Schelling besuchen sollten. Am 25.9.1786 legte er die Magisterprüfung ab, um bis zum Frühjahr 1790 Theologie und Philosophie an der Tübinger Universität zu studieren. (8)

In seiner Jugend wurde Niethammer vom Weltbild seines orthodoxen Pfarrelternhauses und des württembergischen Pietismus in den Klosterschulen und im Stift geprägt, doch kam er über seine Lehrer Schnurrer und Storr mit dem Gedankengut der Aufklärung in Kontakt; durch letzteren wurde er zum Studium Kants angeregt. In Tübingen erlebte er auch die Französische Revolution, die er mit gewissen Vorbehalten durchaus positiv bewertete. (9)

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Als sein Bedürfnis nach freierer Beschäftigung mit der Philosophie zunahm, verließ Niethammer Tübingen und schrieb sich am 14.5.1790 an der Universität in Jena ein, um bei dem zehn Jahre älteren Karl Leonhard Reinhold, einem ausgewiesenen Kenner Kants (10), Philosophie zu studieren. Weitere Reinhold-Schüler waren Franz de Paula von Herbert (nach ihm ist der sog. Herbert-Kreis benannt), Sohn eines Klagenfurter Industriellen, Johann Benjamin Erhard und Novalis, mit denen Niethammer zeitlebens in freundschaftlichem Kontakt blieb.

Nach einem kurzen Intermezzo als Hauslehrer in Gotha, wozu ihn der Ablauf seines Stipendiums im Sommer 1791 genötigt hatte, kehrte Niethammer auf Betreiben Friedrich Schillers im Herbst nach Jena zurück, wo er nun eine Dissertation De vero relevationis fundamento 1792 verfaßte; darin setzte er sich mit Fichtes erstem Werk, Über den Versuch einer Kritik aller Offenbarung, auseinander, (11) das zuerst unter dem Namen Kants erschienen war. Niethammer erhielt die Venia legendi und wurde Ende 1793 zum außerordentlichen Professor der Philosophie ernannt, wobei die Stelle allerdings unbezahlt war.

1794 wurde Niethammer von Herbert für einige Monate nach Klagenfurt eingeladen, das er jedoch wenig später verließ: Er hatte sich mit einer Schildwache angelegt – die Hintergründe sind nicht bekannt. Ein Mensch, der sich stets anpasst, war Niethammer offenbar nicht – er besaß ein "aufbrausendes Temperament". (12)

Ab 1774 lehrte Niethammer als Honorarprofessor wieder in Jena, im Wintersemester 1795/96 las er über die Kritik der reinen Vernunft; allmählich nahm jedoch der Idealismus Fichtes, dessen Philosophie zunehmend an Popularität gewann, Einfluss auf sein Denken.

Im Jahre 1797 hatte Niethammer die junge Witwe des Theologieprofessors Döderlein, Rosina Eleonore v. Eckardt, geheiratet, die den sechsjährigen Sohn Ludwig mit in die Ehe brachte, 1798 schenkte sie Niethammer einen Sohn, Julius.

In diesen Jahren wurde Niethammers Haus ein Treffpunkt der Gelehrten, was auch damit zusammenhing, dass Niethammer ab 1795 die Redaktion des Philosophischen Journals übernommen hatte, das unter der Mitwirkung von Fichte, Reinhold und Schelling eines der führenden philosophischen Organe Deutschlands wurde. (13) 1797 löste der Beitrag Entwicklung des Begriffs der Religion von Friedrich Karl Forberg (1770–1848) den sog. Atheismusstreit aus, in dessen Folge Forberg seine Professor in Jena aufgeben musste. (14) Für Niethammer trat schützend Schiller ein, so dass er am 10.3.1798 zum außerordentlichen Professor der Theologie ernannt werden konnte, nachdem er im Jahr zuvor eine theologische Dissertation eingereicht hatte.

Niethammer war von den Größen seiner Zeit umgeben: Hölderlin, der Niethammer als seinen "philosophischen Mentor" bezeichnete, (15) verkehrte in seinem Haus (1794/95), Schelling, der 1798 in Jena Professor der Philosophie wurde, wohnte 1794 einige Zeit in Niethammers Wohnung, (16) die Gebrüder Schlegel standen mit ihm in Kontakt – August Wilhelm Schlegel wurde in Jena 1798 außerordentlicher Professor für Ästhetik –, in Schiller hatte Niethammer einen verläßlichen Fürsprecher (17),

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Goethe nahm September bis Oktober 1800 einen Kursus in ‘kritischer Philosophie' bei Niethammer, und Hegel, der 1801 nach Jena kam, knüpfte eine lebenslange Freundschaft mit Niethammer, (18) der auch die Taufpatenschaft von Hegels jüngerem Sohn Immanuel übernahm.

Trotz aller gesellschaftlichen, publizistischen und wissenschaftlichen Aktivitäten, die Niethammer an den Tag legte, war er mit der erreichten beruflichen Stellung unzufrieden, und dies nicht ohne Grund, hatte er doch während seines zehnjährigen universitären Wirkens in Jena die meiste Zeit die finanziell undankbare Stellung eines Extraordinarius inne. Man versprach ihm, auf Schillers Fürsprache hin, 1803 die nächste vakant werdende Professur, doch Herzog Karl August berücksichtigte Niethammer nicht, so dass dieser 1804 gekränkt ins bayerische Würzburg übersiedelte, als er am 5.7.1804 zum Professor der Moral und Religionsphilosophie berufen wurde, ein Lehrstuhl, der das Amt des Konsistorialrates implizierte. Es folgten weitere Ämter: 1805 wurde Niethammer Oberschulkommissär für Franken und Oberpfarrer der evangelischen Gemeinde Würzburg. (19)

Doch war Niethammer längeres Wirken an der Würzburger Universität nicht vergönnt, denn als Würzburg nach dem Frieden von Preßberg 1805 an die Habsburger fiel, wurde die evangelisch-theologische Fakultät ein Opfer der Restaurationspolitik. Niethammer blieb aber Oberschulkommisär für Franken und wurde 1806 nach Bamberg versetzt. In dieser Funktion bewährte er sich in solchem Maße, dass der leitende Minister des Kurfürsten Maximilian Joseph, Graf Max von Montgelas, Niethammer am 28.2.1807 zum Zentralschulrat protestantischer Konfession nach München berief, wo er unter Freiherr von Zentner, dem Minister des Inneren, als unmittelbarem Vorgesetzten die Angelegenheiten der obersten Schulbehörde vertrat. (20) Seine Aufgabe bestand in der Ausarbeitung eines mehrgliedrigen Schulsystems inklusive entsprechender Lehrpläne. In diesem Zusammenhang veröffentlichte Niethammer 1808 die theoretische Schrift Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unsrer Zeit, welche die einflussreichste seiner Arbeiten werden sollte. Zugleich erschien sein Allgemeines Normativ der Einrichtung der öffentlichen Unterrichtsanstalten in dem Königreiche, das die rechtliche Grundlage für die Durchführung der Reformen bildete; danach wurde die Schulpolitik bis 1816 gestaltet. (21) In diesem Normativ wurden u.a. die verschiedenen Schultypen (Norm. I), mögliche Schulfolgen (Norm. I § 6-9), die Gesamtstundenzahlen für Schüler und Lehrkräfte (Norm. II), (22) die Fächerkanones (Norm. III § 5) und für die höheren Lehranstalten, die sog. Studieninstitute, die Anzahl, z. T. auch Standorte und in groben Linien die Lehrgegenstände, z.B. Autorenkanones, festgelegt (Norm. III). (23)

Katholische konservative Kreise betrieben indes Agitationen gegen Niethammers Schulpolitik, doch Niethammer gelang es, seinen Rivalen Joseph Wiesmayr, dessen philanthropinistische Tendenzen aufweisender Lehrplan von 1804 durch den Niethammerschen abgelöst wurde, (24) politisch auszuschalten: Wiesmayr wurde 1811 in den katholischen Oberkirchenrat versetzt.

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Doch 1816 wurde das Normativ durch den neuen Studienplan der Mittelschulen ersetzt. (25) Von nun an nahm der Einfluss Niethammers auf die Schulpolitik beständig ab, sein Tätigkeitsbereich wurde mehr und mehr die protestantische Theologie. (26) 1817 beschäftigte er sich anlässlich des Reformationsjubiläums intensiver mit Luther – 1818 war er Rat am neuen protestantischen Oberkonsistorium; in der Schulpolitik setzten sich jedoch Friedrich Wilhelm Thierschs (1784–1860) bayerische Schulordnungen von 1829/30 durch. (27)

Von Niethammer hört man von nun an wenig; 1845 stritt er im hohen Alter gegen den sog. Kniebeugenerlass Ludwigs I., der auch Protestanten gebot, bei Prozessionen und Feldmessen vor der emporgehaltenen Hostie bzw. der vorbeigetragenen Monstranz niederzuknien.

Am 1.4.1848 starb Niethammer im Alter von 82 Jahren in München, wo er 41 Jahre zunächst als Schulreformer, dann als Theologe gewirkt hatte. (28)

Niethammer hat sich bis 1808, dem Erscheinungsjahr seines Streits, mit den wichtigsten Strömungen der Philosophie in Gestalt ihrer Begründer bzw. herausragender Vertreter auseinandergesetzt. (29) Er ist sowohl Zeitzeuge der Kantischen Philosophie, der Philosophie der Aufklärung schlechthin, in die er vor allem durch den großen Kantianer Reinhold eingeführt wurde, als auch Zeitzeuge des die Kantische Philosophie einseitig rezipierenden Deutschen Idealismus, der den Dualismus zwischen dem Kantischen ‘Ding an sich' und den geistigen ‘Denk- und Anschauungsformen' des Menschen zugunsten einer Philosophie entschied, in der die Welt nur in geistiger Form existiert. Der Idealismus wurde Niethammer in seinen zwei Hauptrichtungen jeweils von den Begründern dieser Richtungen in persönlichem Kontakt vermittelt: Fichte, der vom ‘Ich' des Menschen ausgeht und einen idealistischen Subjektivismus vertritt, sagte Niethammer mehr zu als Schelling, dessen ‘Identitätsphilosophie' von einer nur in geistiger Form existierenden Natur ausgeht, die vom menschlichen Geist nur deshalb erkannt werden kann, weil sie ihrem Wesen nach mit dem menschlichen Geist identisch ist. Und Niethammer kannte auch den Vollender des Deutschen Idealismus, Hegel, dessen dialektische Philosophie im 19. Jahrhundert bis zur Rückbesinnung auf Kant im Neukantianismus das einflussreichste System werden sollte. Durch Novalis kam er mit einem Vertreter der Romantik in Berührung, die eine emotionale Ge­genbewegung zum strengen Rationalismus des 18. Jahrhunderts in Gang setzte. (30)

Nicht in Kontakt kam Niethammer hingegen mit dem vor allem in England und Frankreich auflebenden Positivismus, der sich auf die Erkenntnis und Erforschung der sinnlich wahrnehmbaren Welt konzentrierte und der Forderung nach vorwiegend realkundlicher Forschung entsprungen ist, die seit der Französischen Revolution die Bildungspolitik und Wissenschaft in Frankreich und den französisch beeinflussten Territorien dominierte.

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Zweiter Teil

Der Philanthropismus und Neuhumanismus vor ihrem geistesgeschichtlichen Hintergrund

Bevor wir Niethammers Streit näher betrachten, wollen wir kurz die pädagogischen Strömungen des Philanthropismus und Neuhumanismus in ihrem geistesgeschichtlichen Zusammenhang vorstellen, nicht zuletzt deshalb, weil Niethammer in seiner Schrift nicht daran gelegen war, ein exaktes historisch-authentisches Bild dieser beiden Richtungen zu zeichnen, sondern versucht, deren Hauptthesen gleichsam vergröbert, schematisiert und überspitzt herauszuarbeiten, um die prinzipiellen Unterschiede schärfer fassen zu können.

Nach gängiger Einteilung 'herrscht' um 1800 in Deutschland die 'Klassik'. Es kann hier nicht näher auf die Problematik der Epocheneinteilung und -bezeichnungen eingegangen werden, doch soviel sei angemerkt: Epochen und Epochengrenzen sind keineswegs von jener Einheitlichkeit und Ein­deutigkeit, wie geistesgeschichtliche Schemata gelegentlich glauben machen. Vielmehr ist von einer Vielzahl einander überlagernder und überlappender Strömungen auszugehen, die zudem in den einzelnen kultur-, so­zial-, religions-, wirtschafts-, technik- und wissenschaftsgeschichtlichen Bereichen unterschiedlich einsetzen und verlaufen.

Für die Jahre um 1800 etwa werden gewöhnlich folgende Strömungen unterschieden, deren einzelne Epochenbegriffe jeweils ein Problem für sich sind: 'Aufklärung', 'Klassik' und 'Klassizismus': z.B. Johann Wolfgang Goethe (1749–1832); 'Althumanismus': z.B. Gottfried Hermann (1742–1848) und seine Schüler Karl Lachmann (1793–1851) und Friedrich Ritschl (1806–1876); 'Neuhumanismus': z.B. Friedrich Christian Gottlob Heyne (1729–1808) und seine Schüler Friedrich August Wolf (1759–1824) und Wilhelm von Humboldt (1767–1835); 'Philanthropinismus': z.B. Johann Bernhard Basedow (1724–1790), Ernst Christian Trapp (1745–1818), Johann Heinrich Campe (1746–1818); Beginn des 'Historismus': z.B. Johann Gottfried von Herder (1744-1803); 'Romantik': z.B. Ludwig Tieck ( 1773-1853). (31)

Bereits aus dieser dürren Aufzählung wird deutlich, dass eine schematische Chronologie wenig sinnvoll ist, da z.B. der Althumanismus mit Hermann und seinen Schülern den Neuhumanismus überlebt hat. Viele Persönlichkeiten sind im übrigen auch vom heutigen Standpunkt aus nicht eindeutig einem 'Ismus' zuzuordnen, z.B. Friedrich Gedike (1754-1803) oder August Boeckh (1785-1867). Neben der Epocheneinteilung a posteriori stellt sich außerdem die Frage nach dem Epochenbewußtsein der jeweiligen Zeitgenossen. Niethammer z.B. kennt den Begriff des Neuhumanismus nicht, sondern spricht lediglich vom Humanismus, dessen Konzeption er in einer Weise entwirft, die aus heutiger Sicht nicht dem althumanistischen Ansatz entspricht.

Diese Andeutungen genügen, um die Vielfalt der Strömungen um 1800 und die Problematik ihrer Binnendifferenzierung ins Bewusstsein zu rufen.

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Vor diesem Hintergrund ist Niethammers Schrift über den Humanismus und Philanthropinismus entstanden, deren große Antithese damit eine grobe Vereinfachung der tatsächlichen Bildungsdebatte dieser Zeit darstellt.

Es war Niethammer, der den Begriff des ‘Humanismus' als erster prägte, worunter er die konservativere humanistische Pädagogik seiner Zeit verstand. Heute unterscheidet man gewöhnlich drei Humanismen: (32) den ersten italienisch-lateinischen Humanismus der Renaissance, den zweiten deutsch-griechischen Humanismus, den als erster F. Paulsen als Neuhumanismus benannte, (33) und den sog. Dritten Humanismus, den W. Jaeger begründete. (34) Niethammer versteht unter dem Begriff des Humanismus in seinem Streit vor allem jene Strömung, die heute Neuhumanismus genannt wird. (35) Dieser sog. Neuhumanismus verbindet die Liebe zu den klassischen, vor allem zur griechischen Sprache, und zur antiken als vorbildlich verstandenen Kultur mit einem anthropologisch fundierten Bildungskonzept, dessen höchstes Ziel in der durch literarisch-ästhetisch-historische Bildung voll entfalteten Individualität des schönen und guten Menschen liegt. Bezeichnend ist das – im Gegensatz zum Renaissance-Humanismus – ausgeprägte Bedürfnis, die Beschäftigung mit der Antike zum einen philosophisch zu legitimieren und zum anderen in den Fachwissenschaften der Altertumskunde zu institutionalisieren. Der Neuhumanismus betont die Ausbildung der formalen, sprachlichen Seite, wobei den handwerklichen, praktischen Fertigkeiten ein tendenziell geringerer Stellenwert beigemessen wird. (36)

Der Begriff des Philanthropinismus (oder Philanthropismus) leitet sich vom Namen der 1744 in Dessau von Johann Bernhard Basedow gegründeten Schule der ‘Menschenfreundschaft', des sog. Philanthropinums, ab und bezeichnet eine optimistische pädagogische Bewegung, deren höchstes Ziel in der sittlichen Ausbildung und Erziehung zur Nächstenliebe besteht, die noch über die Liebe zum Vaterland, zur Familie oder Nachbarschaft gestellt wird. (37) Der Philanthropinismus hat sich neben der ethischen Formung des Menschen eine praxisbezogene, spielerische Ausbildung der Kinder zur Aufgabe gemacht, die in Niethammers Kritik am Philanthropinismus auf den bloßen Zweck verkürzt erscheint, die Schüler lediglich die praktischen Fertigkeiten zu lehren, die für das bürgerliche Berufsleben Nutzen haben.

 

Niethammers Schriften: Der Streit und das Normativ

Es kann in diesem Rahmen nicht den vielfältigen philosophischen und pädagogischen Einflüssen nachgegangen werden, die im Streit zum Tragen gekommen sind. (38) Stattdessen seien die Eigenart und die wesentlichen Thesen des Streits kurz vorgestellt und in Bezug gesetzt zum konkreten Reformvorschlag für das Schulwesen, wie er im Allgemeinen Normativ der Einrichtung der öffentlichen Unterrichtsanstalten in dem Königreiche vorgelegt und realisiert wurde.

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Wenn man die Niethammersche Bildungsreform mit heutigen Schulreformen vergleicht, fallen sogleich zwei wesentliche Unterschiede in der Verfahrensweise ins Auge: Niethammer entwarf nicht etwa einen Reformplan allein für das Gymnasium (bzw. der Oberstufe desselben etc.) oder für die Grundschule, wie das heute geschehen würde, sondern er formierte die gesamte Schullandschaft neu und zwar sowohl hinsichtlich der Lehrpläne als auch in der institutionellen Gestaltung. Und der zweite entscheidende Unterschied seiner Reformen besteht darin, dass er sie philosophisch bzw. anthropologisch fundierte. Sein Streit liefert die philosophische Begründung für seinen Entwurf des Schulwesens – eine Form der Legitimation, die man heute in dieser Grundsätzlichkeit in der Schulpolitik wohl kaum findet. (39) Hier ist Niethammers Umgang mit den großen Philosophen seiner Zeit spürbar – sein Jenenser Freund Schelling hatte denn auch eine wohlwollende Rezension zum Streit verfasst. (40)

Das Eigenartige an Niethammers theoretischer Schrift besteht darin, dass historische Philosophiegeschichtsschreibung und systematisches Philosophieren miteinander verbunden sind, und zwar dergestalt, dass Niethammer von zwei real existierenden pädagogischen Strömungen ausgeht, um deren anthropologische Ansätze herauszuarbeiten, allerdings weniger historisch-authentisch, als modellhaft, um so die entscheidenden Prinzipien besser zu erfassen. Niethammer schematisiert also die Geistesströmungen seiner Zeit, indem er sie kontrastiert und auf ihre Kernaussagen reduziert. Dieses Verfahren ist nicht etwa als eine Nachlässigkeit bzw. Ungenauigkeit zu werten, sondern Niethammer legitimiert sein Verfahren ausdrücklich damit, dass er auf diese Weise die vielfältige pädagogische Diskussion seiner Zeit in den Griff bekomme.

Bemerkenswert ist auch die Art der Gegenüberstellung dieser beiden Richtungen. Niethammer hat zu diesem Zwecke zwei Spalten angelegt, in denen nach systematischen Fragestellungen die Grundsätze des Humanismus und des Philanthropinismus stichpunktartig und plakativ nebeneinander gestellt werden (Streit, 76–84). Zunächst wird "ueber den Zweck des Erziehungsunterrichts", dann "ueber die Mittel des Erziehungsunterrichts" gehandelt. So kommt jeweils neben der These des einen Systems die Gegenthese des anderen zu stehen. Diese antithetische Anordnung, auch in der optischen Gestaltung, erinnert an einen Abschnitt aus der Kantischen Critik der reinen Vernunft, wo ebenfalls aus heuristischen Gründen These und Gegenthese, in Spalten nebeneinander gestellt, ausgeführt werden. (41) Kant bemerkt über dieses sein Verfahren: "Diese Methode, einem Streite der Behauptungen zuzusehen, oder vielmehr ihn selbst zu veranlassen, nicht, um endlich zum Vorteile des einen oder des andern Teils zu entscheiden, sondern, um zu untersuchen, ob der Gegenstand desselben nicht vielleicht ein bloßes Blendwerk sei, […] kann man die skeptische Methode nennen." (a.a.O., 411f.). Dass der Kantianer Niethammer hier Anregung für seine Methode bzw. Darstellungsform gewonnen hatte, ist nicht unwahrscheinlich, man vergleiche nur die Aussage Kants "einen Streit selbst zu veranlassen" mit Niethammers Bemerkung "es ist hier weniger nöthig, den Frieden zu bringen als den Krieg." (Streit, 5). (42)

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Niethammers Vereinfachungen der philosophiehistorischen Realität schlagen sich auch in der Terminologie nieder. Niethammer unterscheidet zwei Grundrichtungen der Pädagogik: Den Humanismus, womit er die gesamte ältere Pädagogik meint einschließlich jener zeitgenössischen Bildungsauffassung, die die Alten Sprachen in das Zentrum der höheren Bildung stellt – und den Philanthropinismus, unter dem Niethammer nicht nur die Pädagogik versteht, die im Basedowschen Institut des Philanthropinums vertreten wurde, sondern auch jene – mithin durch die neuen französischen Bildungsideale beeinflusste – bildungspolitische Bewegung, die ein praxisbezogenes, zweckorientiertes Bildungssystem fordert, das "allerneueste pädagogische Evangelium" ( Streit , S. 9), dessen Ursprünge Niethammer in der philanthropinistischen Philosophie sah. Im Grunde fasst Niethammer alle pädagogischen Strömungen, die auf die allgemeine Ausbildung des sprachlich-logischen Intellekts ("Bildung der Vernunft", S. 63) abzielen, unter dem Schlagwort Humanismus zusammen, alle pädagogischen Ansätze, die das Erlernen von berufsbezogenen, praktischen Fertigkeiten ("Bildung zum Beruf", S. 63) als die zentrale Aufgabe der Schule betrachten, unter dem Schlagwort Philanthropinismus. Diese Dichotomie wird der tatsächlichen Komplexität der damaligen pädagogischen Diskussion nicht gerecht, ergibt aber ein geeignetes theoretisches Konstrukt (vgl. Niethammers Begriff der "Abstraktion"), anhand dessen Niethammer seine grundsätzlichen Überlegungen verdeutlicht.

Niethammer stellt die These auf, dass im Grunde beide Philosophien von einem dualistischen Menschenbild ausgehen, das der menschlichen Natur einerseits animalischen Charakter, andererseits rationalen Charakter beimesse, und je nach dem, welchen Aspekt man bei der Erziehung stärker berücksichtige, werde man einer der beiden großen Richtungen in der Pädagogik den Vorzug geben: "Der Hauptgegensatz, auf den es bei der Beurtheilung der entgegengesetzten Unterrichtssysteme ankömmt, liegt unstreitig in der Idee des Menschen selbst und seiner Bestimmung, oder vielmehr in der willkürlichen Construction des Begriffes vom Menschen […] In den Hauptbeziehungen, in denen die Idee des Menschen verschieden aufgefaßt werden kann, ist deshalb auch der Hauptgegensatz der beiden Unterrichtssysteme [sc. des humanistischen vs. des philanthropinistischen] zu suchen: in dem Gegensatz von Geist und Thier, Vernunft und Kunstverstand, Rationalität und Animalität, die in dem Menschen zu einem wunderbaren Ganzen verknüpft sind." (S. 36f.).

Niethammer kritisiert beide Ansätze als prinzipiell einseitig, weil sie der "zweifachen Natur und Bestimmung des Menschen” (S. 37) nicht gerecht würden, misst aber der humanistischen Konzeption den höheren Rang bei, da diese vornehmlich den edleren Teil des Menschen ins Auge fasse (S. 74). Der Einseitigkeit der pädagogischen Systeme kann nur abgeholfen werden, wenn man die "metaphysischen Elemente des Begriffs vom Menschen" (S. 66) in richtigen Einklang miteinander bringt. Die verfehlten pädagogischen Konzepte haben ihre Ursache also in einem verfehlten Konzept vom Wesen des Menschen. Ausgangspunkt einer der menschlichen Natur angemessenen Pädagogik und Bildungskonzeption muss demnach in der Korrektur der anthropologischen Theorie bestehen.

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Und Niethammer sucht die Einseitigkeit der beiden Extreme zu beseitigen, indem er ein Menschenbild entwickelt, in dem sich die beiden Gegensätze harmonisch vereinigen. Er betont, dass die Einheit des animalischen und rationalen Teils im Menschen nicht gleichsam in einer bloßen Addition bestehe, sondern dass durch das Miteinander der beiden Teile, die sich gegenseitig beinflussten und modifizierten, trotz aller Doppelnatur eine Ganzheit entstehe: "Nach dieser Forderung den Begriff des Menschen aufgefaßt, muß einleuchtend werden, was nicht zu oft erinnert werden kann, daß der Mensch nicht nur Vernunft allein noch Thier allein, sondern auch nicht beides nebeneinander, sondern durchaus beides als Eines, und insofern überhaupt weder Vernunft, noch Thier, sondern ein Drittes aus beiden, durch Vernunft modificirte Thierheit und durch Thierheit modificirte Vernunft, sey; die Vernunft in ihm durchaus an Thierheit (an sinnlichen Bewußtseyn), und Thierheit durchaus an Vernunft (an rein geistiges Bewußtseyn) gebunden: der Leib durchaus ein Tempel des heiligen Geistes, der Geist durchaus umschlossen von der Welt, dem Tempel Gottes." (S. 67). (43)

Der Streit lässt erkennen, dass Niethammers Neigung eher einer wissenschaftlich-philosophischen Betrachtungsweise galt als etwa einer rein bürokratisch betrachteten Neuordnung des Schulwesens. Im Grunde war Niethammers Ziel stets die universitäre Karriere gewesen, doch kam er vom "Schulkarren", vor den man ihn gespannt hatte, wie er sich in einem Brief an Hegel äußerte, nicht mehr los. (44)

Im Normativ setzte nun Niethammer seine theoretischen Erkenntnisse in konkrete Richtlinien für die Praxis um. Sein in der Theorie postuliertes dualistisches Menschenbild, in dem die "animale Natur" und die "geistige Natur" (Streit, 37f.) des Menschen in einem interaktiven, dialektischen Verhältnis zueinander stehen, spiegelt sich in dem Konzept eines grundsätzlich zweigleisig angelegten Bildungsangebots wider. Zum einen entwirft er einen ganz auf der Basis des Altsprachenunterrichts aufbauenden Bildungsweg, der von der Primärschule, die die Grundlage im Lateinischen legen soll (Norm. I § 6, I), über das Progymnasium, das vor allem der griechischen Sprache gilt (Norm. I § 6, IIa), zum Gymnasialinstitut führt, in dem nun "Gegenstände der Speculation und des intellectuellen Wissens" und des "gelehrten Sprachstudiums" unterrichtet werden sollten (Norm. I § 8 IIIa). Zum anderen eröffnete Niethammer einen gleichberechtigten, parallelen Bildungsgang, der von der Volksschule über die Realschule, die "materielle Naturkenntniße" und "technische und artistische Fertigkeiten" zu vermitteln hat (Norm. I § 6, IIb), zum Realinstitut, in dem das Gewicht auf "die Gegenstände der Contemplation und des materiellen Wissens" gelegt werden soll (Norm. I § 8, IIIb). Während das Gymnasialinstitut also dem "speculativen Studium der Ideen" dient, d.h. einem verstandesbetonten Unterricht, der sich vorwiegend mit abstrakten Gegenständen wie Alten Sprachen und Philosophie befasst, bevorzugt das Realinstitut das "contemplative Studium der Ideen” (Norm. I § 8, IIIa-b), d.h. einen vorzugsweise auf real- und naturkundliche Gegenstände bezogenen Unterricht, der im Hinblick auf philosophische Themen eher elementar und anschaulich gehalten ist.

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Entscheidend ist, dass beide Bildungswege gleichermaßen zur Immatrikulation an einer Universität (bzw. an einem Lyceum) berechtigen (Norm. I § 8, Anfang). Das ist umso bemerkenswerter, als in der Realschule bzw. im Realinstitut kein Latein gelehrt wurde, so dass sozusagen ein Hochschulzugang ohne ‘Latinum' möglich war.

So ergibt Niethammers Normativ folgende Organisation des Schulwesens:

Überdies gewährleistete eine gewisse Durchlässigkeit des Systems, dass ein Schüler seiner Neigung und Begabung entsprechend den eingeschlagenen schulischen Bildungsgang ändern konnte. So war es möglich, von der Realschule in das Progymnasium überzutreten oder nach dem Besuch des Progymnasiums auf ein Realinstitut zu wechseln.

Einen in sich geschlossenen und von diesen höheren Bildungsschulen abgetrennten Schultyp stellten die Volksschulen dar, die "die jedem Menschen unerläßliche Bildung zur Aufgabe" hatten (Norm. I § 1). (45) Allerdings war ein Übertritt von der Volksschule an die Realschule nicht ausgeschlossen (Norm. I § 2). (46)

Durch seine vermittelnde Position im Streit zwischen Humanismus und Philanthropinismus, die in der Theorie die Doppelnatur des Menschen betont und die sich praktisch in der Gleichberechtigung der Gymnasial- und Realinstitute sowie der großen Durchlässigkeit innerhalb der Bildungsgänge niederschlägt, macht Niethammer zweierlei deutlich: Zum einen liegt ihm daran, durch das Angebot von unterschiedlichen Bildungswegen der individuellen Begabung des einzelnen gerecht zu werden, zum anderen sieht er die Aufgabe der Schule nicht nur in der Vorbereitung der Schüler auf Beruf und Gesellschaft, sondern auch in einer zweckfreien "reinen Fortbildung der Vernunft" (Streit, S. 128).

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Die damalige Bildungsdebatte, die sich vor allem um die Fragen drehte, ob die Schüler Realia oder Humaniora lernen, ob sie berufsbezogen oder zweckfrei bzw. wissenschafts­propädeutisch ausgebildet werden sollten, und "ob das Kind zum Menschen oder zum Bürger zu erziehen sey" (Streit, S. 333), entschied Niethammer zugunsten des Individuums und dessen spezifischer Begabung. Diese machte er zum Ausgangspunkt seiner schul­reformerischen Überlegungen: "Das Unterrichtsbedürfniß wird entschieden durch die Individualität der Lehrlinge; die darnach eingerichtete Bildung entscheidet den künftigen Beruf. Dies ist der natürliche Gang, der sich nicht nach Willkür umkehren läßt." (Streit, S. 205). Damit bezieht Niethammer auch Stellung in der Frage nach dem Verhältnis des Schulsystems zur Gesellschaft, insbesondere auf die Frage, ob die schulische Ausbildung und Erziehung die Ungleichheit der noch bestehenden ständischen Ordnung berücksichtigen soll: Wenn allein Begabung und Neigung für Bildungsweg und Berufswahl den Ausschlag geben, dann dient die Schule zwar der Gesellschaft insofern, als sie ihre Schüler, seien es zukünftige Gelehrte, seien es zukünftige Gewerbsleute, auf ihre bürgerliche Aufgabe vorbereitet, sie steht jedoch der starren Gesellschaftsordnung eigenständig gegenüber, weil sie sich von ihr keine Vorentscheidungen über den Bildungsweg der Schüler diktieren lässt, sondern allein den Anlagen der Schüler Rechung trägt: "Der Wege zur Bildung sind mancherlei, und die verschiednen Individuen sollen die verschiednen Wege gehen." (Streit, S. 153).

Niethammer hat sowohl den humanistischen wie auch den philanthropinistischen Ansatz in seiner reinen Form als einseitig abgelehnt, stattdessen die natürlichen Anlagen des Menschen, die seiner Meinung nach Mischformen dessen darstellen, was die beiden anderen pädagogischen Strömungen jeweils als alleinige Natur des Menschen postulierten, zur Grundlage seiner Bildungstheorie gemacht, und er hat in der praktischen Umsetzung ein Schulsystem geformt, dessen institutionelle Strukturen nicht die der Gesellschaft abbildeten, sondern diese relativierten. (47)

Seine Reform wurde 1816 aufgehoben, sein bildungstheoretischer Ansatz und seine Kritik an der Einseitigkeit auch des Humanismus geriet indes so in Vergessenheit, dass Thiersch, dessen allein humanistisch orientierter Lehrplan den Niethammerschen abgelöst hat, über Niethammer schreiben konnte, dass dieser "die Sache des Humanismus auf unseren gelehrten Schulen siegreich durchgeführt hat." (48)

 

Ausblick

Niethammers Streitschrift über den Philanthropinismus und Humanismus gibt nicht nur Einblicke in die Bildungsdebatte seiner Zeit, die in gewisser Hinsicht mit den gegenwärtigen Kontroversen um eine adäquate Schulbildung vergleichbar ist, sondern ist insofern aktuell, als zahlreiche Legitimationsansätze des altsprachlichen Unterrichts, die auch heute ins Feld geführt werden, der damaligen Bildungsdebatte entstammen. Dies ist jedoch mit einem gewissen Manko verbunden: Auch heute noch wird der altsprachliche Unterricht häufig mit den Schlagworten der damaligen Diskussion verteidigt,

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wobei jedoch der geistesgeschichtliche Hintergrund, dem diese Schlagworte entnommen sind, ein völlig anderer war. Daher braucht man sich nicht zu wundern, wenn so manche Argumentation zugunsten des altsprachlichen Unterrichts in unseren Tagen nicht mehr greift. Vielmehr wäre es an der Zeit, in ähnlich umfassender Weise wie Niethammer und Humboldt eine Art anthropologische Standortbestimmung des modernen Menschenbilds vorzunehmen, um auf dieser Basis dem neuen Bildungsauftrag der heutigen Schulen gerecht zu werden. An Legitimationen des Altsprachenunterrichts würde es dennoch nicht fehlen.

 

Dr. Markus Schauer
Freie Universität Berlin
Seminar für Klassische Philologie
Ehrenbergstr. 35
14195 Berlin
(Dahlem)
(schauer@zedat.fu-berlin.de)

 

__________________________ 

(1) Diese Antithese wurde in der Bildungsdebatte mit verschiedenen Schlagwörtern gefüllt, z.B.: Worte versus Sachen, Brotwissenschaften versus Schöne Wissenschaften etc.

(2) Vgl. z.B.: U. A. J. Becher, Politische Gesellschaft. Studien zur Genese bürgerlicher Öffentlichkeit in Deutschland, Göttingen 1978; Vom Ancien Régime zur Französischen Revolution, hg. E. Hinrichs u.a., Göttingen 1978; Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution, hg. H. Berding u.a., Frankfurt/M. 1989.

(3) Vgl. E. Weis, Absolute Monarchie und Reform im Deutschland des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, hg. F. Kopitzsch, München 1976, 198; E. Weis , Montgelas. 1759–1799. Zwischen Revolution und Reform, München 2 1988 (zuerst 1971).

(4) Vgl. E. Weis, 1976, a.a.O. (Anm. 3), 211.

(5) So bemerkt etwa Montgelas in seiner programmatischen Denkschrift für den Herzog von Pfalz-Zweibrücken im Jahre 1796, dass man nicht um eine Neugestaltung des Unterrichtswesen herumkomme "und vor allem darum, den Elementarschulen in Stadt und Land die fortgesetzteste Aufmerksamkeit zu schenken. Denn sie sind es eigentlich, welche die Fähigkeiten der interessantesten (wichtigsten) Klasse der Gesellschaft entwickeln und dem Nationalgeist ihr Siegel aufdrücken", zitiert nach E. Weis, 1976, a.a.O. (Anm. 3), 204, Anm. 37. Vgl. dazu auch P. Euler, Pädagogik und Universalienstreit. Zur Bedeutung von F. I. Niethammers pädagogischer ‘Streitschrift', Weinheim 1989, 18–55 (Der historische Ort der ‘Streitschrift'). Vgl. ferner: B. Wunder , Privilegierung und Disziplinierung. Die Entstehung des Berufsbeamtentums in Bayern und Württemberg (1780–1825), München u.a. 1978.

(6) Friedrich Schleiermacher äußerte sich dazu folgendermaßen: "Denn es wäre frevelhaft, die Erziehung so anzuordnen, daß die Ungleichheit absichtlich und gewaltsam festgehalten wird auf dem Punkt, auf welchem sie steht. Dies würde eine Hemmung der menschlichen Natur verraten […] Wenn auch die Erziehung auf die Verringerung der Ungleichheit hinarbeiten soll, woraus die Möglichkeit entsteht, diese ganz aufzuheben, so muß sie doch die Ungleichheit voraussetzen und ihr eigentümliches Verfahren an die Ungleichheit anknüpfen." (F. Schleiermacher, Pädagogische Schriften, Bd. 1, hg. E. Weniger, Frankfurt/M. 1983, 41f.). Vgl. dazu z.B.: K.-H. Schäfer, Die Pädagogik Schleiermachers in ihrem Zusammenhang mit seiner Philosophie, Bonn 1965; A. Noser, Der philosophische und pädagogische Aspekt der Individualitäts- und Allgemeinerziehung in der Sicht Schleiermachers, Zürich 1978; I. Lohmann, Lehrplan und Allgemeinbildung in Preußen. Eine Fallstudie zur Lehrplantheorie F. E. D. Schleiermachers, Frankfurt/M. 1984; Friedrich Schleiermacher. 1768-1834. Theologe, Philosoph, Pädagoge, hg. D. Lange, Göttingen 1985.

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(7) Die ausführlichste und aktuellste Darstellung des Lebens Niethammers findet sich, soweit ich sehe, in der Einleitung des Bandes Friedrich Immanuel Niethammer. Korrespondenz mit dem Klagenfurter Herbert-Kreis, hg. W. Baum, Wien 1995, 11–43 (dort zahlreiche weitere Literaturangaben und eine übersichtliche Zeittafel, 309–313). Auf dieser Darstellung, wenn nicht anders vermerkt, basieren die folgenden Ausführungen. Weitere Quellen: K. Prantl, in: Allgemeine Deutsche Biographie, 1886, Ndr. Berlin 1970, Bd. 23, 688–691; F. Paulsen, 1919, a.a.O. (Anm. 33), 232-235; M. Schwarzmaier, Friedrich Immanuel Niethammer, ein bayerischer Schulre­formator. 1. [einziger] Teil, Niethammers Leben und Wirken bis zum Jahre 1807, München 1937 (Ndr. Aalen 1974); E. Hojer, Die Bildungslehre F. I. Niethammers. Ein Beitrag zur Geschichte des Neuhumanismus, Frank­furt/M. u.a. 1965, 1–39 (Niethammers Bildungsgang bis 1807); F. I. Niethammer. Philanthropinismus – Humanismus. Texte zur Schulreform, hg. W. Hillebrecht, Weinheim u.a. 1968, 7–12.

(8) Seine Tübinger Lehrer waren vor allem Christian Friedrich Schnurrer, ein Anhänger der Aufklärung, der Historiker Christoph Friedrich Rösler und der Theologe Gottlob Christian Storr.

(9) Vgl. W. Baum, 1995, a.a.O. (Anm. 7), 14.

(10) In den Jahren 1790/92 erschienen Reinholds Briefe über die kantische Philosophie, die er zuvor einzeln veröffentlicht hatte, als Buch; in ihnen versuchte er die Kritik der reinen Vernunft allgemein verständlich darzu­stellen, was zu Kants Etablierung beitrug.

(11) Ab dem 28.3.1793 stand Niethammer auch in persönlichem Kontakt mit Fichte.

(12) Vgl. G. Henke, 1974, a.a.O. (Anm. 19), 48f.

(13) Philosophisches Journal einer Gesellschaft teutscher Gelehrten, hg. Johann Gottlieb Fichte / Friedrich Imma­nuelNiethammer, erschienen in Jena und Leipzig; Erscheinungsverlauf:          1.1795 – 3.1795/96 = H. 1–12; 4.1796; 5.1797 – 7.1797 = H. 1–12; 8.1798 – 10.1798/1800 = H. 1–12; damit wurde das Erscheinen eingestellt. Bis 4.1796 war Niethammer Herausgeber. Nachdruck Hildesheim 1969. Zu Niethammers vielfältigem Umgang mit zeitgenössischen Intellektuellen vgl. auch: "Sein ist gut". Ein Jenaer Geistergespräch vom Mai 1795 im Hause Niethammers mit Fichte, Hölderlin und Hardenberg, hg. J. Hörisch, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik, Jg. 1., Paderborn u.a. 1991, 279–289.

(14) Vgl. dazu: "Appellation an das Publikum …". Dokumente zum Atheismusstreit um Fichte, Forberg, Niethammer, Jena 1798/99, hg. W. Röhr, Leipzig 2 1991 (zuerst 1987). Vgl. auch: Zwei Briefe Friedrich Carl Forbergs aus dem Jahr 1794, hg. P. Struck, in: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung, Bd. 39, Coburg 1994, 45–60 (Briefe an Niethammer vom 7.3.1794 und an Karl Leonhard Reinhold vom 10.10.1794, beide im Zusammenhang mit dem Atheismusstreit).

(15) Vgl. W. Baum, 1995, a.a.O. (Anm. 7), 35; zu Niethammers Beziehung zu Hölderlin vgl. ferner M. Frank, Hölderlins philosophische Grundlagen, in: Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandesaufnahme, hg. Gerhard Kurz u.a., Tübingen 1995, 174–194; vgl. auch: Friedrich Hölderlin an Immanuel Niethammer; Nürtingen, 23. Juni 1801, mitgeteilt von J. L. Döderlein, Marbach/N. 1970 (Schillernationalmuseum).

(16) Vgl. dazu: Schellings Briefwechsel mit Niethammer vor seiner Berufung nach Jena, hg. G. Dammköhler, in: Hegel-Archiv, hg. G. Lasson, Leipzig 1912ff., Bd. 2, H. 1 (1913), zugleich Diss. Erlangen 1912 u.d.T.: Schellings Beziehungen zu Niethammer vor seiner Berufung nach Jena; nebst 46 unedierten Briefen Schellings aus den Jahren 1795–1798; vgl. ferner: Friedrich Wilhelm Josef von Schelling, Brief über den Tod Carolines vom 2. Oktober 1809 an Immanuel Niethammer, hg. J. L. Döderlein, Stuttgart 1975.

(17) Vgl. R. Thomas, Schillers Einfluß auf die Bildungsphilosophie des Neuhumanismus. Untersuchung zum ideengeschichtlichen Zusammenhang zwischen Schillers philosophischen Schriften und F. I. Niethammers Erziehungsentwurf, Stuttgart 1993.

(18) Niethammer vermittelte Hegel 1808 auch eine Direktorenstelle am Nürnberger Ägidiengymnasium, nachdem Hegels Professur in Heidelberg gescheitert war. Leider fehlten an dieser Lehranstalt die Toiletten, weswegen sich Hegel in einem amüsanten (noch erhaltenen) Brief vom 12.2.1809 in dieser Sache bei Niethammer beschwerte.

(19) G. Henke, Die Anfänge der evangelischen Kirche in Bayern. Friedrich Immanuel Niethammer und die Entstehung der protestantischen Gesamtgemeinde, München 1974, zugleich Diss. Erlangen 1971 u.d.T.: Friedrich Immanuel Niethammer und die Entstehung der Protestantischen Gesamtgemeinde in Bayern bis zur Errichtung des Oberkonsistoriums (1799-1819); G. Lindner, Friedrich Immanuel Niethammer als Christ und Theologe. Seine Entwicklung vom deutschen Idealismus zum konfessionellen Luthertum, Erlangen 1971.

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(20) Vgl. E. Hojer, 1965, a.a.O. (Anm. 7), 42. Einen Einblick in die damalige schulische Kontroverse geben R. Selbmann / P. Kefes, "Würmer, Frösche und anderes Geschmeiß". Wie der Kampf zwischen Bayern und Preußen ausgerechnet am Wilhelmsgymnasium getobt hat, in: Jahresbericht des Wilhelmsgymnasiums, München, 1990/91 (1991), 109–123 (darin auch die Auseinandersetzung Niethammers mit dem Direktor des Wilhelmsgymnasiums Cajetan Weiller, die in gegenseitigen Beschwerdebriefen an den bayerischen König gipfelte).

(21) Im Jahre 1811 legte Niethammer, nunmehr Oberzentralschulrat, eine zweite, in manchen Punkten abgeänderte Fassung des Normativs vor.

(22) Die Professoren der höheren Lehranstalten hatten hiernach 16 Stunden die Woche zu geben (Norm. II § 6d).

(23) 1809 erschien ein kommentierender Anhang zum Normativ: Bekanntmachung über die neue Einrichtung der öffentlichen Unterrichts-Anstalten im Königreiche Baiern.

(24) Vgl. dazu W. Hillebrecht, 1968 a.a.O. (Anm. 7), 7f. und E. Hojer, 1965, a.a.O. (Anm. 7), 42f.: Der Wiesmayrsche Lehrplan basierte auf der Grundidee eines einheitlichen Bildungsprinzips für alle, was dem Enzyklopädismus der Aufklärung entsprach. Dadurch wurde der Lehrplan mit zahllosen Lehrgegenständen angefüllt, um den Postulaten, die die unterschiedlichsten Berufs- und Lebensformen stellten, Genüge zu leisten. Dieses Konzept ging letztlich auf die Lehrplanentwürfe von Johannes Adam von Ickstatt (1702-1776) und Heinrich Braun (1732-1792) aus dem Jahre 1774 zurück. Die folgenden Lehrplanreformen von 1777 und 1804 blieben im Wesentlichen diesem Grundsatz treu (vgl. Hojer, a.a.O., 41).

(25) Am 24.8.1816 wurde die Aufhebung der Realinstitute beschlossen, womit das dualistische Reformkonzept Niethammers gescheitert war; vgl. Hillebrecht, 1968, a.a.O. (Anm. 7), 11. Ab 1825 nahm der Einfluss Friedrich Thierschs zu, womit sich der Neuhumanismus in Form eines vorwiegend altsprachenorientierten Gymnasialunterrichts in den Lehrplänen von 1828, 1830 und 1834 zunehmend etablierte. Der Neuhumanismus eines Thiersch blieb aber im Vergleich zu der Radikalität des preußischen Kollegen Johannes Schulze (1786–1869) gemäßigt; Schulze nahm die ausgleichenden Bildungskonzeptionen, die Wilhelm v. Humboldt (1967–1835) und Johann Wilhelm Süvern (1775–1829) in den Jahren 1809f. bzw. 1810–1818 umzusetzen versuchten, wieder zurück und machte ab 1818 (bis 1869) das Gymnasium nach und nach zu einer Paukanstalt der alten Sprachen; vgl. dazu K. Matthiessen, Altsprachlicher Unterricht in Deutschland, in: Handbuch der Fachdidaktik Alte Sprachen 1, hg. J. Gruber / F. Maier, München 1979, 11–42, bes. 25–34.

(26) Vgl. G. Lindner, 1971, a.a.O. (Anm. 19).

(27) Vgl. M. Liedtke , 1993 (a.a.O., Anm. 28), 100-105.

(28) Vgl. allgemein zur Entwicklung des Schulwesens in Bayern in dieser Zeit: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3, 1800-1870. Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reichs, hg. K.-E. Jeismann / P. Lundgreen, München 1987; L. Böhm , Das akademische Bildungswesen in seiner organisatorischen Entwicklung (1800–1920), in: Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 4/2, hg. M. Spindler, München 1975, 995–1033; E. Schwinger, Literarische Erziehung und Gymnasium. Zur Entwicklung des bayerischen Gymnasiums in der Ära Niethammer-Thiersch, Bad Heilbrunn 1988; M. E. Hofmann, Offene Schule und geschlossene Welt. Die höhere Schule in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Königreich Bayern, Köln u.a. 1991; Handbuch der Geschichte des bayerischen Bildungswesens, Bd. 2, Geschichte der Schule in Bayern. Von 1800 bis 1918, hg. M. Liedtke , Bad Heilbrunn/Obb. 1993 (zu Thiersch bes. 35-37). Vgl. auch R. Selbmann, Friedrich Thiersch und der Neuhumanismus in Altbayern. Wahrheit und Legende, Jahresbericht des Wilhelmsgymnasiums 1991/92 (1992), 94 – 121.

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Vgl. zu den damaligen Lehrplänen: M. Suchan, Die Entwicklung der Volksschuloberstufe in Bayern vom Braunschen Lehrplan bis zur Lexschen Lehrordnung (1770–1926), Regensburg 1972; G. Bögl, Der Wandel der Volksbildungsidee in den Volksschullehrplänen Bayerns. Von der Braunschen Reform bis zur Mitte des 19. Jh., München 1929;   vgl. speziell zu den Lehrplänen von Braun, Ickstatt und Wiesmayr H. Buchinger bzw. R. W. Keck , in: Liedtke, a.a.O., 1991, Bd. 1, Geschichte der Schule in Bayern. Von den Anfängen bis 1800 , 687-700 bzw. 727-742 (bes. die Diagramme S. 736); vgl. außerdem Liedtke, 1993, a.a.O., 86. 100.

(29) Vgl. zum folgenden z.B. G. Stiehler, Der Idealismus von Kant bis Hegel. Darstellung und Kritik, Berlin 1970; E. Behler, Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie, Paderborn, 1988/1993; J. Beaufret, Idéalisme allemand et philosophie contemporaine, Paris 1998; The Cambridge companion to German idealism, hg. K. Ameriks, Cambridge 2000.

(30) Vgl. M. Frank, Unendliche Annäherung. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt/M. 1997.

(31) Vgl. Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften. Festschrift O. Pöggeler, hg. H.-J. Gawoll / Chr. Jamme, München 1994; vgl. allgemein zu dieser Problematik: Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, hg. R. Herzog / R. Koselleck (Poetik und Hermeneutik, Bd. 12), München 1987.

(32) Vgl. C. Menze, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, hg. J. Ritter, Basel 1974, 1217-19, s. v. Humanismus.

(33) Vgl. F. Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, Berlin u.a. 3 1919 (zuerst 1885, 2 1896).

(34) Der Begriff des Dritten Humanismus wurde vermutlich zum ersten Mal von L. Helbing, Der dritte Humanismus, Berlin u.a. 1932, geprägt.

(35) Niethammer selbst sieht den seit Paulsen so genannten Neuhumanismus seiner Zeit, wie schon bemerkt, nicht als eigene Epoche, sondern empfindet ihn in jener humanistischen Tradition stehend, die seit der Renaissance nicht mehr abgerissen sei.

(36) Dass grobe Schlagwörter der Binnendifferenzierung der damaligen Strömungen nicht gerecht werden, wird durch eine Äußerung des üblicherweise dem Neuhumanismus zugeordneten Humboldt deutlich, der in einer Stellungnahme zum ostpreußischen Schulplan über die Bedeutung praktischer Fertigkeiten gemeint hat: "Griechisch gelernt zu haben könnte […] dem Tischler ebensowenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten." (vgl. W. v. Humboldt, Der Königsberger und der litauische Schulplan [1809], in: Werke in fünf Bänden, Bd. 4, Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, hg. A. Flitner / K. Giel, Stuttgart 1964, 188f.).

(37) Vgl. J. B. Basedow, Practische Philosophie für alle Stände, Leipzig u.a. 2 1777; zu Basedow und seiner Schule vgl.: Philanthropismus – J. B. Basedow – Philanthropinum. Ein Beitrag anläßlich des UNESCO-Gedenktages zu Ehren von Johann Bernhard Basedow am 11. September 1974, hg. R. Kohls (inkl. Auswahlbibliographie), (Ost-) Berlin 1974; W. Finzel-Niederstadt, Lernen und Lehren bei Herder und Basedow, Frankfurt/M. u.a. 1986; A. Hügli / D. Kipfer, in:   Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, hg. J. Ritter / K. Gründer, Basel 1989, 549f.; U. Herrmann, Aufklärung und Erziehung. Studien zur Funktion der Erziehung im Konstitutionsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland, Weinheim 1993; H. Kemper, Schule und bürgerliche Gesellschaft. Zur Theorie und Geschichte der Schulreform von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Jena u.a. 2 1999; D. Schmidt, Der pädagogische Staat. Die Geburt der staatlichen Schule aus dem Geist der Aufklärung, Baden-Baden 2000; L. Chalmel, Réseaux philanthropinistes et pédagogie au 18e siècle, Bern u.a. 2004.

(38) Hier wäre auf die grundlegende Arbeit von E. Hojer, Die Bildungslehre F. I. Niethammers, Frankfurt/M. u.a. 1965 zu verweisen.

(39) Natürlich gibt es Schulen, in denen versucht wird, bestimmte pädagogische Richtungen im Schulalltag zu verwirklichen (es sei z.B. verwiesen auf die Waldorfschulen oder die Laborschule von H. v. Hentig), aber dass sich etwa ein Ministerium für Unterricht, Kultus und Wissenschaft darauf einließe, das existierende Schulwesen nach anthropologischen Gesichtspunkten neu zu überdenken oder gar zu gestalten, ist heute wohl kaum vorstellbar.

(40) Vgl. Jenaische Literaturzeitung Nr. 13–15 (1809); nachlesbar in: Schellings Werke, Bd. 3, hg. M. Schröter, München 1959, 457–480.

(41) Vgl. KrV, hg. W. Weischedel, Darmstadt 1998, 412–439.

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(42) Niethammers Formulierung ist übrigens wohl an das bekannte Bibelzitat angelehnt: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Matthäus 10,34).

(43) Diese Betrachtungsweise erinnert stark an Hegels Philosophie der dialektischen Aufhebung.

(44) Vgl. R. Thomas, 1993, a.a.O. (Anm. 17), 256.

(45) Vgl. in der Bekanntmachung von 1809 (vgl. Anm. 23): "Die Volksschulen sind von den Studienanstalten ganz zu trennen, und hören auf, im strengen Sinne des Wortes Elementarschulen zu seyn." (A, 1).

(46) Vgl. zur damaligen Schultypologie auch M. Liedtke, 1993 (a.a.O., Anm. 28), 98-100 (Realgymnasien), 100-105 (Lateinschulen, Primärschulen, Progymnasien), 105-112 (Realanstalten), 112-117 ('Höhere Töchterschulen', Lyceen).

(47) Vgl. zu Schleiermachers Überlegungen hierzu Anm. 6.

(48) Vgl. F. Thiersch, Über gelehrte Schulen, mit besonderer Rücksicht auf Bayern, Stuttgart 1826–1827, Bd. 3, Abt. 3, 465.