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                                       Pegasus-Onlinezeitschrift IV/2 (2004), 46

Angelika Lozar

Num legendus est ille liber cui titulus est ‘Harrius Potter et philosophi lapis'?
Einige Anmerkungen zur lateinischen Übersetzung von ‚Harry Potter und der Stein der Weisen'


Eine der Grundregeln der lateinischen Grammatik lautet, dass auf eine mit ‚num' eingeleitete Satzfrage eine negative Antwort erwartet wird. So ist letztendlich meine persönliche Antwort auf die oben gestellte Frage bereits vorweggenommen: Nein, ich denke, dass man die lateinische Übersetzung des Welterfolgs ‚Harry Potter and the Philosopher's Stone' des emeritierten Etoner Klassischen Philologen Peter Needham nicht zu lesen braucht.

Ich möchte zunächst offen bekennen, dass ich es trotz mehrmaliger gutwillig unternommener Versuche nie geschafft habe, mich der Harry-Potter-Fangemeinde anzuschließen. Über die ersten 100 Seiten des 1. Bandes bin ich nicht hinausgekommen und schon deren Lektüre war für mich fast quälend, doch ich wollte es – meinen Kindern zuliebe – wenigstens versuchen. Leider vergeblich! Immerhin habe ich mir die Verfilmung angesehen, die mich zwar aufgrund des enormen technischen Aufwands beeindruckt hat, aber wiederum nicht wegen der Story. Allerdings möchte ich bereits an dieser Stelle betonen, dass ich keineswegs die Absicht habe, die Story an sich zu kritisieren, die mir persönlich nicht gefällt, was aber nichts zur Sache tut. Es ist wahrscheinlich ein Problem meines persönlichen Geschmacks, der mir den Zugang zur phantastischen Literatur à la Harry Potter verwehrt, vielleicht weil ich allzu viel Bekanntes in – wenngleich durchaus geschickt – kontaminierter Form darin wiederfinde.

Als ultima ratio, sich ‚Harry Potter' doch noch einmal anzunähern, ergab sich für mich nun die Lektüre der lateinischen Übersetzung, in der laut Daily Telegraph vom 2. Februar 2003 die Verfasserin J. K. Rowling, die selbst in Exeter Latein studiert hat, eine Chance dafür sieht, jugendlichen Lesern die lateinische Sprache wieder näherzubringen. Ja, es sei auch nachgewiesen, dass „the use of Latin in J. K. Rowling's books has prompted a surge of interest in the classics among high school students. After decades of decline, the numbers taking Latin for college credits has soared by 80 per cent since the first book was published in the United States six years ago.” Abgesehen davon, dass – was gewiß höchst erfreulich ist - seit dem Erscheinen der Harry-Potter-Bände nachweislich nicht nur Kinder und Jugendliche wieder mehr lesen,

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wäre ein durch diese Lektüre bewirktes zunehmendes Interesse am Lateinischen (und vielleicht auch am Griechischen) natürlich ein weiterer sehr begrüßenswerter Nebeneffekt, doch ist auch zu fragen, wie lange dieses Interesse anhält und wie weit es de facto geht. Hierüber sind mir persönlich allerdings keine Statistiken oder gar Untersuchungen bekannt.

Auch ich hatte den lateinischen ‚Harry Potter' u.a. deswegen zur Hand genommen, weil ich die Hoffnung hegte, er könne sich vielleicht sogar für den Schulunterricht als geeignete Übergangslektüre erweisen. Der Stoff ist enorm bekannt, ähnlich wie die Weihnachtsgeschichten aus dem Matthäus- und Lukasevangelium, inzwischen wahrscheinlich sogar bekannter; Schüler könnten in diesem Buch folglich trotz der Sprachbarriere viel Bekanntes wiederentdecken und zugleich die Erfahrung machen, dass lateinische Lektüre zeitgemäß und sogar unterhaltsam sein kann.

Ich glaube allerdings inzwischen, dass genau das die lateinische Übersetzung nicht leisten kann, und zwar gerade aufgrund der Sprachbarriere. Dies möchte ich im Folgenden an einigen Beispielen belegen, wobei zunächst vorauszuschicken ist, dass deutsche Leser den ‚Harry Potter' natürlich zum größten Teil in deutscher Übersetzung kennen und ihnen daher diese deutsche Übersetzung als Vergleich im Gedächtnis sein wird, nicht aber das englische Original, von dem die lateinische Übersetzung Needhams ausgeht.

Dies wird schon bei der Formulierung des Titels deutlich: Harrius Potter et Philosophi lapis (hierbei wollen wir uns nicht zu allem Überfluss noch beckmesserisch daran aufhängen, dass man im Lateinischen Überschriften eigentlich mit „de“ + Ablativ formuliert, also: De Harrio Potter et philosophi lapide). Dieser Titel orientiert sich logischer Weise an der englischen Formulierung ‚Harry Potter and the Philosopher's Stone'. Nun ist m.E. nicht anzunehmen, dass man als ‚lateinischer Otto-Normal-Verbraucher', zu denen man die Adressaten dieser Übersetzung vielleicht erst einmal zählen sollte, „philosophi lapis“ automatisch mit „Stein der Weisen“ übersetzen würde. Zwar bedeutet „philosophus“ im weitesten Sinne „Weiser“, aber zunächst drängt sich förmlich auf, „philosophi lapis“ mit „Stein des Philosophen“ zu übersetzen – es sei denn, man weiß, dass im Angelsächsischen und auch im Französischen („la pierre philosophale“) gerade der sprichwörtliche „Stein der Weise“ „Stein der/des Philosophen“ genannt wird. Doch kann man das voraussetzen? Ich glaube, nicht.

Betrachten wir nun die lateinische Überschrift des 1. Kapitels: ‘puer qui vixit'. Im Deutschen liest man ‘Ein Junge überlebt'. Auch hier zeigt sich dasselbe Problem wie beim Buchtitel: „vivere“ bedeutet zwar auch „überleben“, aber auch bei dieser Formulierung wird man erst einmal in die Irre geführt und übersetzt für sich selbst: Der Junge, der gelebt hat. Ähnliches lässt sich für die meisten weiteren Kapitelüberschriften sagen, die teilweise m.E. sogar vollkommen unverständlich formuliert sind, wie etwa Kapitel 5 ‚angiportum diagonion', zu Deutsch ‚In der Winkelgasse'. „angiportum“ bedeutet bekanntermaßen „enges Gäßchen“,

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man stellt sich darunter wahrscheinlich genau das vor, was das deutsche „Winkelgasse“ auch suggeriert, es hätte also als Kapitelüberschrift ausgereicht zu schreiben „in angiporto“ oder „angiportum“. Doch was bedeutet der Zusatz „diagonion“? Lt. Wörterbuchauskunft erfährt man, dass „diagonios, diagonion“ bei Vitruv in Verbindung mit „structura“ „in diagonaler Richtung“ heißt. Die Verbindung „angiportum diagonion“ wäre also als „Gasse in diagonaler Richtung“ wörtlich zu übersetzen, was aber wohl nicht gleichbedeutend mit „Winkelgasse“ sein dürfte.

Was die Überschriften angeht, so will ich es bei diesen beiden Beispielen belassen, aber bereits sie belegen, wie ich glaube, meinen Eindruck des gesamten Buchs, dass es tatsächlich sehr schwierig ist, den lateinischen Text überhaupt zu verstehen, selbst wenn man die deutsche Übersetzung kennt. Ohne ein wirklich gutes lateinisches Wörterbuch geht gar nichts, und am besten legt man sich auch gleich noch ein griechisches daneben, denn Needham hat – notwendiger Weise? – noch zahlreiche aus dem Griechischen stammende Kunstworte geschaffen, wie z.B. „hamaxostichus“, was „Zug“ bedeuten soll, aber mit Sicherheit in keinem normalen lateinischen oder griechischen Wörterbuch zu finden sein dürfte.

Fragwürdig ist ferner der Satzbau, der sich keineswegs an antiken Vorgaben orientiert, sondern als Mischmasch aus antikem, mittelalterlichem, neulateinischem und selbstgestricktem modernen Latein daherkommt, was sicherlich dem Stoff zuzuschreiben ist, der sich bei näherem Hinsehen (s.o. meine persönliche Meinung) ja auch als ähnlicher Mischmasch erweist. Nur ein Beispiel sei hierfür zitiert: (S. 54/Kapitel 5) „Parentes monentur ut non permittatur discipulis primi anni proprium habere manubrium scoparum“ – „Die Eltern werden ermahnt, den Schülern des 1. Jahres nicht zu erlauben, einen eigenen Besenstiel (???) zu haben.“ In diesem Satz ergeben sich gleich zwei sprachliche Probleme: „monere“ + „ut non“ dürfte in klassischer Prosa vollkommen unüblich sein, wie weit es in der Spätantike oder im Mittelalter belegt ist, weiß ich nicht, es mag vorkommen, sollte aber an dieser Stelle keine Richtlinie sein, richtiger wäre „monentur ne“. Und was bedeutet „manubrium scoparum“? Die deutsche Übersetzung lautet „Besen“, doch würde hierfür „scopae“ ausreichen, warum also „manubrium (= Griff, Stiel) scoparum“?

Nun gut, ich will es jetzt hierbei belassen und zu meiner Gesamtbewertung kommen, die da lautet, dass ich diese Übersetzung, die in einer in der Umschlagklappe abgedruckten Bewertung als in einer „wonderful tradition of translating favourite children's classics such as Winnie the Pooh and Paddington Bear“ stehend apostrophiert wird, für verfehlt und vor allem für die Schule gänzlich ungeeignet halte, sprachlich, inhaltlich und auch in Hinsicht auf den avisierten Adressatenkreis, der wohl eher aus jugendlichen Harry-Potter-Fans als aus Klassischen Philologen bestehen dürfte. Auf die sprachlichen Defizite habe ich bereits hingewiesen; was das Inhaltliche betrifft, so bin ich der Ansicht, dass Bücher wie die Harry-Potter-Xlogie sicher am besten im englischen Original oder aber in einer modernen Übersetzung zu lesen sind.

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Die lateinische Sprache erweist sich m.E. als dem Stoff nicht gewachsen oder aber auch der Stoff ist ihr nicht gewachsen, je nachdem wie man es sehen will. Wenn Latein, dann besser wirkliche Originale (am besten antike, mittelalterliche oder neulateinische), deren es so viele und so schöne, lesenswerte und anspruchsvolle Beispiele gibt, dass ein Leben allein nicht ausreichen dürfte, sie alle zu lesen. Oder hat – ketzerische Frage – Needham den ‚Harrius Potter' am Ende für den Papst geschrieben, damit auch dieser endlich einmal in den Genuss eines zeitgenössischen Geschmacksvorstellungen entsprechenden „prodesse et delectare“ kommen kann?


Dr. Angelika Lozar, Sfb Kulturen des Performativen, Freie Universität Berlin