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                                       Pegasus-Onlinezeitschrift V/1 (2001), 63

Regina Freese-Rieck und Angelika Lozar 

Habent sua fata libelli

Ein Besuch des Leistungskurses Latein
der Paulsen Oberschule Berlin-Steglitz
im Seminar für Mittellateinische Philologie
der Freien Universität Berlin


Seit längerem schon – hierüber war bereits in der Pegasus-Onlinezeitschrift 2/2001 (S. 1-12) berichtet worden - engagiert sich das Institut für Griechische und Lateinische Philologie der FU Berlin in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Altphilologenverband (DAV) für eine verstärkte Zusammenarbeit mit Berliner Gymnasien. Im Allgemeinen geht es hierbei ebenso um Nachwuchswerbung wie darum, Schülern der gymnasialen Oberstufe, die Latein und/oder Griechisch im Grund- oder Leistungskurs belegen, beide Fächer einmal von der wissenschaftlichen Seite her vorzustellen und ihnen – nebenbei – die Schwellenangst vor der Institution „Universität” ein wenig zu nehmen, indem es ihnen ermöglicht wird, diese bereits vor dem Abitur genauer kennenzulernen und in persönlichen Kontakt mit Lehrenden (und Studierenden) zu kommen.

Im Gegensatz zu solchen allgemeineren Zielsetzungen verfolgte das hier vorgestellte Projekt ein ganz konkretes Ziel: Am Beispiel von Carmen I 1 des Horaz sollte Schülern, die sich derzeit mit seinen Werken im Unterricht befassen, eine Vorstellung davon vermittelt werden, wie denn eigentlich eine heutzutage benutzte Schulausgabe dieses Autors zustande kommt. Anders ausgedrückt: Es ging darum, einen Eindruck zu vermitteln vom Verlauf der Überlieferungsgeschichte, den Problemen ihrer Rekonstruktion, aber auch von der Faszination, die die fata libelli auf denjenigen ausüben, der sich auf sie einlässt.

Habent sua fata libelli” – unter diesem Motto stand denn auch der Besuch des ersten Latein-Leistungskurses der Paulsen-Oberschule aus Berlin-Steglitz (12. Jahrgang, 2. Semester) am Seminar für Mittellateinische Philologie der FU Berlin. Bücher und ihre Schicksale sollten also den Mittelpunkt dieser Veranstaltung bilden – ein Thema, von dem man meinen könnte, dass es in der heutigen, von Computern und Handys geprägten Zeit Schülern in der Regel wenig bedeutet. Dies galt aber nicht für die Schüler des Latein-Leistungskurses! Sie ließen sich durchaus beeindrucken: nicht nur von dem freundlichen Empfang mit persönlicher Begrüßung durch den Lehrstuhlinhaber Prof. Fritz Wagner, von der Versorgung mit Kaffee, Saft und Keksen sowie von der entspannten und fast schon „gemütlichen” Arbeitsatmosphäre (natürlich in einer Bibliothek), sondern ganz besonders auch von dem gewählten Thema „Bücher und ihre Geschichte”.

                                       Pegasus-Onlinezeitschrift V/1 (2005), 64

Um diese durchaus nicht ganz leicht zu begreifende Thematik zunächst einmal auch materiell anschaulich zu gestalten, wurden den Schülern sozusagen als „Auftakt” antike und mittelalterliche Beschreibstoffe (Papyrus/Pergament) und einige wertvolle Buchexemplare aus dem 17. Jahrhundert in die Hand gegeben, die zum Rara-Bestand des Seminars gehören. Hierbei handelte es sich um Ausgaben antiker Texte, um frühneuzeitliche Zeugen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Antike sowie genuine lateinische Renaissance-Texte. Schon anhand dieser konkreten Beispiele konnte den Schülern, die von dem Alter und der ihnen völlig fremden äußeren Gestaltung der Bücher sehr fasziniert waren, deutlich gemacht werden, dass das Buch als Medium der Textübermittlung seit der Antike erhebliche Veränderungen erfahren hat: Man denke nur an das Buchformat, die Einbandgestaltung oder auch an das Erscheinungsbild der Schrift.

Das Thema selbst, dessen Schwerpunkt die Rekonstruktion und Überlieferungsgeschichte von antiken Texten bildete, war wegen der Fülle von Informationen, besonders aber auch wegen seiner Neuartigkeit für die Schüler zunächst recht schwer zu verstehen. Dies lag sicher an vielen, den Schülern völlig unbekannten Begriffen wie z. B. Archetypus und Stemma codicum , aber auch – und wohl ganz besonders - an der Tatsache, dass sie sich die Rekonstruktion von Texten viel einfacher vorgestellt bzw. eigentlich über die Entstehung von Schulausgaben noch nie nachgedacht hatten. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, wie schwierig und komplex es ist, einen mehr als 2000 Jahre alten Text als modernes Buch zu präsentieren. Besonders hilfreich war es dabei, die Problematik der Textkritik an einem konkreten, ihnen gut bekannten Beispiel zu erklären: an Vers 7 des Carmen I 1 von Horaz, das als Vorbereitung im Unterricht übersetzt und interpretiert worden war. Aufgrund der inhaltlichen Zusammenhänge war hier schnell klar, dass „mobilium turba Quiritium” sinnvoller ist als „nobilium turba Quiritium”, eine Textvariante, die sich u. a. im Codex Ottobonianus latinus 2000, f. 1 aus dem 15. Jahrhundert findet, von dem den Schülern eine Abbildung vorgelegt worden war (Fotokopie/Folie).

Die Abbildung dieses Codex-Folium ist den Schülern ganz besonders in Erinnerung geblieben. Sie waren darüber verblüfft, dass das Manuskript neben dem eigentlichen Text diverse handschriftliche Anmerkungen aufweist, die über den Besitzer und den Erwerb der Handschrift berichteten. Diese war übrigens für eine gewisse Zeit im Besitz der Christina von Schweden. Auch das Schriftbild und vor allem die Tatsache, dass es bereits in der Antike Stenographie gab, die die Rekonstruktion von Texten heutzutage zusätzlich erschwert, hinterließen einen bleibenden Eindruck. Geht das heute noch benutzte „&” tatsächlich auf Ciceros Sekretär Tiro zurück?

                                       Pegasus-Onlinezeitschrift V/1 (2005), 65

Insgesamt war der Besuch des Seminars für Mittellateinische Philologie für die Schüler des Latein-Leistungskurses eine völlig neue und interessante Erfahrung. Dementsprechend waren ihre Reaktionen auf das Seminar trotz der Schwierigkeit des Themas durchweg positiv. Dies lag einerseits an der Art und Weise, wie das Thema den Schülern nahe gebracht wurde, andererseits aber auch an der freundlichen und lockeren Arbeitsatmosphäre, durch die die Schüler ihre anfängliche Zurückhaltung nach und nach aufgaben. Hierbei empfanden sie es übrigens als besonders positiv, dass sie mit zwei Dozenten diskutieren konnten, da auf diese Weise unterschiedliche Erklärungsansätze möglich waren. Besonders bemerkenswert aber ist es, dass die Schüler durch diese Veranstaltung zusätzlich darin bestärkt worden sind, Latein zu lernen, da ihnen der geschichtliche Hintergrund, die Lebendigkeit und die Aktualität der – angeblich „toten” – Sprache noch deutlicher als bisher vor Augen geführt wurde. So war es u.a. für sie völlig neu, dass man noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein Dissertationen in lateinischer Sprache verfasst hat.

Aus diesen positiven Erfahrungen resultiert der Wunsch, im SS 2005 noch einmal ein Proseminar am Institut für Klassische Philologie der FU Berlin zu besuchen, um – diesmal zum Thema „Properz” – auch einmal das Gespräch mit „richtigen” Studenten zu suchen. Wenn das kein Erfolg ist!

 

Dr. Regina Freese Rieck
Paulsen-Oberschule Berlin
Gritznerstr. 57
12163 Berlin

Dr. Angelika Lozar
Seminar für Mittellateinische Philologie
Freie Universität Berlin
Schwendenerstr. 1
14195 Berlin