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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VIII/1 (2008), 42
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Bernhard Zimmermann

Catull –  ein hellenistischer Dichter in Rom


Gaius Valerius Catullus hat sein kurzes Leben – mehr als 30 Jahre ist er nach den antiken Zeugnissen nicht geworden – in einer an Krisen reichen Zeit, den letzten Jahren der res publica Romana, verbracht. Geboren wohl nach 85 v. Chr. in Verona – das in Hieronymus’ Chronik mitgeteilte Geburtsjahr 87 kann nicht stimmen – und gestorben nach 54 v. Chr.(1), war er jüngerer Zeitgenosse des Lukrez (*98-96), Ciceros (*106) und Caesars (*100) und seines Landsmanns, des Historikers und Biographen Cornelius Nepos (*100). Aus gutem, wohl ritterlichem Hause stammend, aus einer Familie, die Caesar so sehr schätzte, dass er während seines gallischen  Prokonsulats bei Catulls Vater abzusteigen pflegte,(2) kam er früh, wie dies auch im Falle des Horaz und Ovid bezeugt ist, nach Rom, um eine standesgemäße, urbane Ausbildung mit dem Ziel einer politischen Karriere zu erhalten.

Catull dürfte während des Konsulats des Pompeius und Crassus im Jahre 70 nach Rom gekommen sein; er erlebte also den Aufstieg des homo novus Cicero ins höchste Staatsamt und die Aufdeckung der Catilinarischen Verschwörung im Jahre 63 durch den Consul Cicero, das erste Triumvirat von Caesar, Pompeius und Crassus (59) und Caesars anschließendes Consulat, Ciceros Verbannung und seinen kurzen Triumph nach der Rückberufung aus der Verbannung (58), die Bandenkämpfe zwischen Clodius und Milo – also kurz: den Zusammenbruch des alten politischen Systems. Und wie seine Zeitgenossen Cicero, Caesar und Lukrez reagierte auch Catull mit der Feder auf die Krise der Republik, die eine Auflösung aller bisher anerkannten Normen bürgerlichen Zusammenlebens, eine Zerrüttung des mos maiorum, der ungeschriebenen Konsensbasis der römischen Gesellschaft, mit sich brachte. Caesar stellte sein literarisches Talent in den Dienst der eigenen Sache, Cicero kämpfte als politischer Redner und Publizist erfolglos gegen den Zerfall und wandte sich resigniert der philosophischen und rhetorischen Schriftstellerei zu, Lukrez bot seinem Leser in der epikureischen Heilslehre, die er in seinem Lehrgedicht darstellt und deren Leitmotive der Rückzug aus der Politik ins Private und der Genuss des kleinen, individuellen Glücks sind, eine Bewältigungsmöglichkeit, einen philosophisch fundierten Ausweg aus den Unruhen und Umtrieben der Krisenjahre in einer Art Ersatzreligion, die Glückseligkeit bereits im Diesseits verspricht.

Catull und der Kreis der Dichter, denen er sich in Rom anschloss, die sogenannten νεώτεροι oder poetae novi, die literarische Avantgarde,(3) reagierten auf die Krise der Welt, in der sie leben mussten, mit dem Rückzug ins Poetische, in die reine, zwecklose Literatur.

 

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In schroffer und auf traditionsbewusste Zeitgenossen wie Cicero schockierend wirkender Abwendung von der bisher in Rom akzeptierten Literatur, dem historisch-mythologischen Großepos oder der Historiographie, von literarischen Formen, die ganz und gar politisch sind, da sie nach innen der Identitätsbildung und nach außen der Selbstdarstellung dienen, widmeten sie sich in der Nachfolge des Kallimachos, Philitas und Euphorion kleinen, gelehrten, unpolitischen literarischen Formen. Großen, aufgrund der Überlieferungslage leider nicht detailiert nachweisbaren Einfluss auf die Dichtergruppe um den Grammaticus Publius Valerius Cato(4) hatte der griechische Dichter Parthenios(5), der als Sklave im Mithridatischen Krieg im Jahre 73 nach Rom wohl als Hauslehrer eines gewissen Cinna kam, vermutlich des Vaters des Neoterikers Helvius Cinna, und später wegen seiner Gelehrsamkeit freigelassen wurde. Parthenios betätigte sich in denselben poetischen  Formen, wie wir sie auch bei Catull finden, und dies ebenfalls in einer Vielzahl lyrischer Versformen. Man kann seinen Einfluss nicht hoch genug einschätzen. Wie ca. 200 Jahre früher ein anderer griechischer Sklave, Livius Andronicus, durch seine Übersetzung einer griechischen Tragödie ins Lateinische den Anstoß zur Ausbildung römischer Literatur gegeben hatte, wies Parthenios diese nun ausgebildete römische Literatur auf den Weg der hellenistischen, alexandrinischen Dichtung und machte damit die Blüte der augusteischen Klassik möglich. Seine Funktion als Kultur- und Literaturvermittler wird in dem kleinen erhaltenen Büchlein, den Liebesleiden, ἐρωτικὰ παθήματα deutlich, die Cornelius Gallus, dem Begründer der römischen Liebeselegie, gewidmet sind. Das Werk ist ein Exzerpt aus schwer zugänglicher Literatur, ein Arbeitsbüchlein und Nachschlagewerk (Hypómnema) für den Elegiker.

Die bisher rekonstruierte Biographie Catulls dürfte auch bei skeptischen Kolleginnen und Kollegen nicht auf Widerspruch stoßen, da sie sich auf die wenigen externen Zeugnisse und die politisch-soziale Situation in Rom in den Krisenjahren der Republik stützt. Auch dürfte es noch keine Gegenstimmen geben, wenn man annimmt, dass Catull nach seiner Ausbildung beim Grammaticus als junger Mann zunächst – wie Ovid Jahre später – eine politische Karriere, wohl unter dem Einfluss des Vaters und einflussreicher Freunde in Rom, ins Auge fasste. Im Jahre 58 reiste er im Gefolge des Prokonsuls Memmius nach Kleinasien, nach Bithynien. In mehreren Gedichten finden sich Spuren dieser Reise. Carmen 46 schildert die Stimmung bei der Abfahrt von Kleinasien, Carmen 31 die Gefühle bei der Heimkehr nach der langen Reise an den Gardasee. In Carmen 10 und 28 verweist Catull humoristisch darauf, dass er keinen finanziellen Profit aus der Dienstreise schlagen konnte. Das Talent eines Verres scheint er nicht gehabt zu haben.

 

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Carmen 46

Iam ver egelidos refert tepores,
iam caeli furor aequinoctialis
iucundis Zephyri silescit aureis.
linquantur Phrygii, Catulle, campi
Nicaeaeque ager uber aestuosae:
ad claras Asiae volemus urbes.
Iam mens praetrepidans avet vagari,
iam laeti studio pedes vigescunt.
O dulces comitum valete coetus,
longe quos simul a domo profectos
diversae varie viae reportant.

Schon bringt der Frühling die lauen Lüfte zurück,
schon kommt das Sturmesrasen der Tag- und Nachtgleiche
unter dem angenehmen Hauch der Westwinde zur Ruhe.
Phrygiens Gefilde, Catull, gilt es nun zu verlassen
Und das reiche Land des glühend heißen Nicäa.(6)
Zu Ioniens berühmten Städten wollen wir eilen!
Schon verlangt mein Geist, die Unruhe vorwegnehmend, zu schweifen,
schon erstarken meine Beine, froh sich endlich in Bewegung zu setzen.
Leb wohl, süßer Kreis der Gefährten,
die wir von weit her von zu Hause aufbrachen
und nun jeder für sich auf verschiedenen Wegen zurückkehren.

 

Carmen 31

Paene insularum, Sirmio, insularumque
ocelle, quascumque in liquentibus stagnis
marique vasto fert uterque Neptunus,
quam te libenter quamque laetus inviso,
vix mi ipse credens Thuniam atque Bithunos
liquisse campos et videre te in tuto.
O quid solutis est beatius curis,
cum mens onus reponit, ac peregrino
labore fessi venimus larem ad nostrum,
desideratoque acquiescimus lecto?
Hoc est quod unum est pro laboribus tantis.
Salve, o venusta Sirmio, atque ero gaude!
Gaudete, vosque, o Lydiae lacus undae!
Ridete, quidquid est domi cachinnorum.

 

Augenstern von allen Halbinseln, Sirmio, und allen Inseln,
die in klaren Seen oder im weiten Meer Neptun in gleicher Weise trägt,
wie gern, wie froh seh’ ich dich wieder!
Kaum glaube ich es mir selbst, dass ich Thynien und Bithynien(7) verlassen habe
Und dich wohlbehalten sehe.
Was macht glücklicher als der Sorgen ledig, unbelastet und erschöpft
Durch die Fahrt aus der Ferne zum eigenen Herd zurückzukehren
Und in dem heißersehnten Bett zu ruhen?
Schon das allein wiegt so große Mühsal auf!
Sei gegrüßt, anmutiges Sirmio, und erfreue dich deines Herrn!
Freut euch auch ihr, Wogen des Lydersees,
Lacht, wieviel an Gelächter ihr zur Verfügung habt!(8)

 

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Kehren wir nochmals zur Biographie des Dichters und der mit ihr verbundenen Forschungskontroverse zurück, die seit dem 19. Jahrhundert die Latinistik umtreibt, und zwar seit Ludwig Schwabes Quaestionum Catullianarum liber I, Gießen 1862, bis zum jüngsten Catullbuch, das in der Presse viel Aufsehen erregt hat, zu Niklas Holzbergs Catull. Der Dichter und sein erotisches Werk, München 2002 (2. Auflage). Die Diskussion dreht sich um die Frage, ob das dichterische Ich in den Carmina als Autor-Ich, also als Selbstreflexion des Dichters, angesehen werden darf und, wenn dies so ist, die zahlreichen Ich-Aussagen zur Rekonstruktion von Lebensumständen benutzt werden können. Oder sind die Ich-Aussagen in den Gedichten personae, sind sie ein Rollen- und Maskenspiel, das der Dichter mit seinem Publikum treibt, ein Spiel, das nichts mit dem Leben Catulls zu tun hat, sondern einzig und allein der literarischen Tradition und den Regeln der von Catull verwendeten lyrischen Kleinformen verpflichtet ist? Während in der Forschung bis vor kurzem teilweise unreflektiert das Werk zur Rekonstruktion der Biographie des Dichters ausgeschlachtet und zu einem wahren ‚Catull-Roman’ ausgebaut wurde, ist in den letzten Jahren die Gegentendenz erstarkt, die das Rollenspiel auf ihr Banner schreibt. Als aussagekräftige Stellungnahme zitiere ich aus Holzbergs Catull-Buch das Resüme seiner Überprüfung der Testimonien zum Leben des Dichters (S. 18):

„Wir kennen also nicht einmal die Lebensdaten Catulls. Alles, was wir über die Vita dieses Mannes sicher sagen können, ist dies: Er wurde in Verona geboren und verfasste eine Gedichtsammlung, die seinen Aufenthalt in Rom sowie die Bekanntschaft mit führenden Persönlichkeiten der Stadt voraussetzt und, soweit sie Zeitbezüge enthält, als jüngsten Terminus post quem das Jahr 55 v. Chr. zu bieten hat.“

Dieser Agnostizismus will vor allem eine communis opinio zu Fall bringen, die noch in der neuen Enzyklopädie der Altertumswissenschaft, im Neuen Pauly,(9) als unumstößlich referiert wird: die zum ersten Mal von Apuleius, Apologia 10, vorgenommene Identifizierung von Catulls Lesbia mit Clodia, der berühmt-berüchtigten Schwester von Ciceros Erzfeind Clodius, die uns aus vielen Briefen Ciceros und seiner Verteidigungsrede für Caelius wohlbekannt ist. Bereits Ovid – dies sei angemerkt – weist in seiner apologetischen erotischen Literaturgeschichte, in Tristien 2, 427f., darauf hin, dass Lesbia ein Pseudonym sei, ohne dies zu entschlüsseln:

Sic suo lascivo cantata est saepe Catullo
         Femina cui falsum Lesbia nomen erat.

So wurde oft von ihrem zügellosen Catull die Frau besungen,
         deren Pseudonym Lesbia war.

Und Ovid nimmt die amourösen Abenteuer, die Catull beschreibt, beim Wort (Tristien 2, 429f.):

nec contentus ea, multos vulgavit amores,
in quibus ipse suum fassus adulterium est.

Und nicht zufrieden mit ihr, gab er viele Liebesgeschichten zum Besten,
         in denen er selbst sich des Ehebruchs bezichtigte.

 

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Ovid fasst also die Liebesbeziehung Catulls zu Lesbia als Realität auf, ohne aus verständlichen Gründen die poetologische Aussage Catulls zu erwähnen, dass man Leben und Werk des Dichters zu trennen habe (Carmen 16, 5f.):

Nam castum esse decet pium poetam
Ipsum, versiculos nihil necesse est.

Denn anständig muss ein der pietas(10) verpflichteter Dichter sein,
seine Verse allerdings nicht.

Für Holzberg ist die Gleichsetzung Lesbias mit der Lebedame Clodia ein Holzweg der Forschung, nichts Stichhaltiges lasse sich für die Identifizierung anführen.(11) In diesem Rahmen kann keine ausführliche Auseinandersetzung mit Holzbergs Thesen im Detail stattfinden – dies wäre Diskussionsstoff für ein Seminar –, lediglich einige Anmerkungen seien gestattet:

1. Ohne Zweifel ist es auch den Klassischen Philologen inzwischen klar, dass ein erzähltes Ich nicht mit dem erzählenden Ich gleichzusetzen ist. Das Problem stellt sich in ähnlicher Weise natürlich auch bei den römischen Elegikern, die in der 1. Person Singular von amourösen Abenteuern berichten, ohne dass ein „Band zwischen Leben und Dichtung besteht“.(12)  Ein beträchtlicher Unterschied zwischen den Elegikern und Catull besteht jedoch darin, dass in der Gattung Elegie die Rolle des elegischen Ichs, des elegischen Liebhabers, klar markiert, der Rollencharakter deutlich unterstrichen wird – man lese nur das Eröffnungsgedicht von Ovids Amores – und die Persönlichkeit des Dichters nur am Rande hineinspielt,(13) zumeist in den düsteren Visionen seines Todes(14) und dem Grabepigramm auf seine eigene Person.(15) Ganz anders Catull: In seinem kleinen Werk finden sich 25 Selbstbezüge unter namentlicher Nennung, häufig in der Form der Selbstanrede; in der Elegie gibt es eine vergleichbare Selbstanrede nur bei Properz (2, 8, 17), und die ist eine Catull-Reminiszenz.(16) Das heißt: Catull macht sich selbst ganz offensichtlich mit Nachdruck zum Gegenstand seiner eigenen Dichtung, und das heißt wiederum: Der Dichter interpretiert sich und sein Leben, vor allem seine Tätigkeit als Dichter und seine vielfältigen sozialen Beziehungen in seinen kleinen Gedichten – bei den carmina maiora, insbesondere dem Attis-Gedicht und dem Epyllion, ist es anders, hier können wir zu Recht von reiner Literatur sprechen. Und die versiculi fallen je nach den Gattungsgesetzen, die hinter den Formen stehen, verschieden aus – sarkastisch, derb-erotisch, spöttisch-ironisch. Wir haben also, wenn man diese Hypothese akzepiert, in Catulls Gedichten  einen literarisch verfremdeten Widerhall auf Roms Krise. Leben und Werk bilden eine Einheit, wobei man allerdings – in diesem Punkt gebe ich Holzberg recht – sich davor hüten sollte, die lyrischen Reflexe eins zu eins zu einer Biographie umzubauen.

 

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2. Noch einige Worte zu Lesbia: Trotz Holzbergs Kritik scheinen mir die Argumente, die für die traditionelle Identifikation angeführt werden, immer noch schlagend: Die Übereinstimmung zwischen Catulls Charakterisierung und Ciceros Clodia-Bild und insbesondere Carmen 79(17) verweisen meines Erachtens deutlich auf die Schwester des Publius Clodius Pulcher, des Volkstribunen des Jahres 58. Und warum soll die vielseitig interessierte Dame nicht Zugang zum Kreis der jungen Dichter um Cato gehabt haben?

 

II.

Am besten lassen sich Merkmale von Catulls literarischer Kunst am Widmungsgedicht an seinen Landsmann Cornelius Nepos erschließen, dem ich mich jetzt zuwenden möchte:

Carmen 1

Cui dono lepidum novum libellum
arida modo pumice expolitum?
Corneli, tibi: Namque tu solebas
meas esse aliquid putare nugas
iam tum, cum ausus es unus Italorum
omne aevum tribus explicare cartis,
doctis, Iuppiter, et laboriosis.
Quare habe tibi, quidquid hoc libelli
qualecumque; quod, o patrona virgo,
plus uno maneat perenne saeclo!

Wem soll ich dieses nette neue Büchlein widmen,
das eben erst mit trocknem Bimsstein glatt gerieben wurde?
Cornelius, dir. Denn du pflegtest immer schon der Meinung zu sein,
dass meine Spielereien doch etwas seien,
schon damals, als du den Mut hattest, als einziger und erster der Italer
die ganze Weltgeschichte in drei Bänden zu entfalten,
in gelehrten, bei Gott, in denen viel Arbeit und Mühe steckt.
Deshalb sieh als dein an, was auch immer dieses Büchlein ist
Und wie es auch beschaffen ist. Mehr als ein Jahrhundert, jungfräuliche Schutzherrin, möge es für immer bestehen bleiben.

Das Widmungsgedicht, das vermutlich auf der Außenseite der Buchrolle angebracht war, strotzt vor Termini technici der alexandrinischen Poetik. Den Eröffnungsvers könnte man geradezu als Merkvers für die Prinzipien der alexandrinischen Dichtkunst auffassen. Catulls Werk ist ‚nett’, lepidus. Hinter dem umgangssprachlichen Wort lepidus, das für den römischen Hörer genau so abgegriffen klingt wie das deutsche ‚nett’, hört der gebildete Leser natürlich das programmatische Epitheton par excellence der Alexandriner: λεπτός, ‚fein’, ‚zart’. Dichter der alexandrinischen Ausrichtung wollen keine schwerfälligen, unüberschaubaren Werke produzieren, sondern kleine, feine, zarte Gebilde, eben libelli, ‚Büchlein’, die Neues enthalten müssen. Sie verlassen die breit getretenen, vielfach begangenen Pfade der Poesie. Lukrez, im Proömium des 4. Buchs seines epikureischen Lehrgedichts (1f.), erhebt für sein Werk denselben Anspruch:

 

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Avia Pieridum peragro loca nullius ante
Trita solo.

Weglose Gefilde der Musen, zuvor von keines Menschen Fuß betreten,
durchstreife ich.

Bescheiden ist der Ton des Eröffnungsverses, die Verniedlichung und Verkleinerung des eigenen Werkes, allerdings nur an der Textoberfläche; tatsächlich gibt Catull selbstbewusst die poetische Tradition an, in die er sich mit seinem Büchlein einreihen will. Für den Kenner griechischer Literatur – und für solch ein Publikum schrieb Catull – enthält der Vers zudem einen deutlichen Anklang auf die Eröffnungspartie der Gedichtsammlung des Meleagros, die um 70 v. Chr. erschien und deren genaue Kenntnis Catull voraussetzt.

Liebe Muse, wem bringst du den Korb voll köstlicher Lieder?
         Sprich, wer flocht diese Schar herrlicher Sänger zum Kranz?
Wirker war Meleagros; dem edlen Diokles weihte
         Er dies traute Geschenk, dass es Erinnerung sei.

(Übersetzung: H. Beckby, München 1957/58; 21965/67)

Catull evoziert also die griechische Vorlage, durchbricht aber das vorgegebene Widmungsschema.

„Bei Meleager handelt es sich um das Proömium einer Sammlung, die überwiegend fremde und nur wenig eigene Gedichte enthält. Die Namen der einzelnen Dichter werden in gewählter Blumen- und Blüten-Metaphorik so ausführlich aufgezählt, dass fast der Eindruck des ψυχρόν entsteht. Dementsprechend tritt Meleager als Person, von Anfang und Ende des Gedichts abgesehen, völlig zurück. Ebenso wird der Empfänger der Widmung, Diokles, nur kurz zu Beginn des 58 Verse umfassenden Gedichts erwähnt. Ganz anders Catull: Sein Proömium hat lediglich 10 Verse, und von diesen beziehen sich je 5 auf Catull (1-2, 8-10) und auf Nepos (3-7). Catull umarmt mit der Darstellung seiner Problematik sozusagen den Freund, er nimmt ihn in die eigene Welt mit hinein. Wenn der Leser daraus schließen sollte, dass die nachfolgende Sammlung ganz wesentlich Gedichte aus dem Freundeskreis enthalte, hat er recht. Catull hat, wie es später Properz tun wird, die artifizielle Vorlage persönlicher gewendet.“(18)

Hat der Dichter im Eröffnungsvers als poeta doctus den ebenso literarisch gebildeten Leser auf die Spur hellenistischer Poetik gesetzt, erhält für diesen lector doctus auch der zweite Vers eine poetologische Dimension. Das Büchlein ist ‚druckfrisch’, gerade erst mit trockenem Bimsstein geglättet, arida modo pumice expolitum. Expolire, ‚glätten’, bedeutet in übertragenem Sinn auch das Feilen,

 

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die mühevolle Kleinarbeit, die der alexandrinische Autor in seine libelli steckt, der labor limae des Horaz (Ars poetica 291),(19) die Griechen sprechen von πόνος und ἐκπονεῖσθαι. Ein feiner Witz mag in aridus, dem Epitheton des Bimsstein, stecken. Das Adjektiv wird ebenfalls literaturkritisch verwendet, und zwar im Sine von ‚trocken’, ‚saftlos’, ‚ohne Schwung’.(20) Nicht das Büchlein, verspricht Catull, wird trocken sein, sondern nur das Gerät, mit dem seine materielle Grundlage, die Papyrusbögen, hergestellt wurde.

Cornelius Nepos, dem Catull das Büchlein widmet, ist der würdige Adressat, da Nepos’ Werk allen Grundsätzen alexandrinischer Poetik entspricht. Seine Chronik ist gelehrt und steckt voller Arbeit. Wie ein der alexandrinischen Poetik verpflichteter Dicher wagte es  Nepos, neue Wege zu gehen, und es ist ihm gelungen, die ungeheuere Masse an Fakten, Ereignissen und Personen der Weltgeschichte (omne aevum) in nur drei Bänden darzustellen. Im Verhältnis zum behandelten Stoff könnte man Nepos’ Chronik geradezu als libellus bezeichnen!

In den ersten sieben Versen des kurzen Widmungsgedichts spricht der Dichter in  leicht verschlüsselter und verspielter Form – auch dies ist ja ein Merkmal hellenistischer Poesie – die Grundprinzipien der alexandrinischen Poetik an: der Primat der literarischen Qualität (lepidus), die durch ständiges Feilen am Text gewährleistet wird (expolire, laboriosus), der Anspruch, neue Wege einzuschlagen und mit der Tradition zu brechen (novus, ausus es unus), die Ablehnung der großen, traditionellen Gattungen, die in dem Diminutiv libellus zum Ausdruck kommt, die Gelehrsamkeit, die sich vor allem in der Bezugnahme auf frühere und zeitgenössische Texte äußert – hier ist es das Widmungsgedicht von Meleagers Kranz –, schließlich der spielerische Ton, aufgrund dessen der Dichter in selbstironischer Bescheidenheit seine Gedichte nugae (1, 4), ineptiae (14, 24) oder lusus (50, 2) nennt. Wenn diese jedoch auf einen gleichgestimmten und gleich gebildeten Leser wie Nepos treffen, wird der merken, dass es sich dabei um etwas Gescheites (aliquid) handelt. Mit Nepos als implizitem Leser wird jeder künftige Leser des Büchleins aufgefordert, wie Nepos die Kriterien alexandrinischer Poetik an die Gedichte anzulegen, und dann wird ihm – so die Schlussfolgerung, die Catull nahe legt – nichts anderes übrig bleiben, als die literarische Qualität anzuerkennen.

Das Gedicht endet mit einem Anruf der Muse, der Schutzherrin der Dichter, und der Bitte, Catulls Büchlein möge die Zeiten überdauern, für immer Bestand haben – für den lector doctus eine Anspielung auf das Proömium der Aitia des Kallimachos (Fr. 7, 13f. Pfeiffer). Die Muse ist also nicht mehr Quelle der Inspiration, es sind auch nicht Hesiod oder Homer, die dem Dichter im Traum erscheinen und ihn zur poetischen Tätigkeit berufen, vielmehr ist die patrona virgo nur die Garantin für eine möglichst lange Existenz des Werkes. Der Dichter erklärt sich in den beiden Abschlussversen zu einer autonomen Persönlichkeit, die ihre Kunst nur sich selbst,

 

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keiner übergeordneten Macht, der Muse, oder Autorität, den Vätern der Dichtkunst, Homer und Hesiod, verdankt. Er nimmt für sich in Anspruch, autonom, unabhängig von allem Äußeren zu sein. Erst vor dem Hintergrund der Einstellung der Römer zur Literatur erhält dieser Anspruch seine eigentliche Brisanz. Das sich harmlos gebende Widmungsgedicht wird geradezu zu einem provokanten Tabubruch. Für einen Römer, zumal für einen aus der Oberschicht, ist literarische Tätigkeit nur im otium, in den karg bemessenen Ruhephasen nach den negotia der Politik und der Geschäfte, gesellschaftlich vertretbar. Damit das otium zu einem otium cum dignitate, also einem der gesellschaftlichen Stellung angemessenen otium, wird, ist jedoch nicht das Abfassen jeder Art von Literatur erlaubt, vielmehr nur solcher Texte, die ‚staatstragend’ sind, die einen Bezug auf die res publica Romana aufweisen: also von mythologisch-historischen Epen, von Historiographie, von politischen Reden oder Gerichtsreden und von nützlicher Fachliteratur, wie dies Cato mit seinem Werk über den Ackerbau (De agricultura) getan hatte. Dass Catull sein Werk nugae, an späterer Stelle ineptiae und lusus bezeichnet, also „Spielereien“ oder „Tändeleien“, muss auf einen dem mos maiorum verpflichteten, traditionsbewussten Römer wie Cicero schockierend gewirkt haben – man denke an seine abfällige Kritik der Neoteriker –, was nicht bedeutet, dass diese Ablehnung ein Zeichen mangelnder Bildung ist; nein, Poesie, nugae, sollte nicht von Römern, sondern von Graeculi, von Meleager oder freigelassenen Sklaven wie Parthenios betrieben werden.

Das ganze Gedicht ist, abgesehen von den Abschlussversen, denen ja auch eine besondere Bedeutung zukommt, in einem plaudernden Ton, durchsetzt mit Elementen der Umgangssprache, geschrieben. Und auch dies ist Programm: Der kolloquiale Stil bewirkt, dass das Widmungsgedicht wie der gesamte libellus keineswegs trocken wirkt, und dies trotz der literarischen Finesse und der Gelehrsamkeit. Gleichzeitig wird der Adressat, Cornelius Nepos, als impliziter Leser in einen plaudernden Dialog mit Catulls Gedichten gebracht, er wird Teil des Dichterkreises, in dem in urbanem Stil über Dichtung und das Leben der Dichter in all seinen Verästelungen gesprochen wird, nicht in ernsthaftem, sondern ironisch gefärbtem Ton, wie man sich unter Gleichgesinnten über die Welt zu unterhalten und vor allem sich über sie lustig zu machen pflegt.

In den Kreis der dichtenden Freunde der poetae novi führt auch das mit Bedacht gewählte Metrum, der Hendekasyllabus, der unter den von Catull verwendeten lyrischen Versmaßen in der ersten Hälfte des libellus dominiert. Der Phalaeceus, wie der Elfsilbler auch heißt, ist das typische Metrum für die beim griechischen Symposion reihum gesungenen Skolien, Trinklieder verschiedenen Inhalts. Beispiele haben wir in den Komödien des Aristophanes (Wespen 1226, Ekklesiazusen 938f.) und vor allem bei dem kaiserzeitlichen Autor Athenaios (15, 694C ff.).(21) Mit dieser metrischen Form öffnet Catull ein weiteres Fenster zum Verständnis der folgenden Lieder: Man soll sich in den Kreis der zum Symposion versammelten Dichter versetzt fühlen – Carmen 13 ist denn auch eine Einladung zur cena, c. 27 führt in ein Symposion.

 

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Der Symposionscharakter wird durch die vielen direkten Anreden unterstrichen (hospites: 4,1; Flavius: 6; Veranus: 9, usw.) und deiktische Pronomina wie in dem schönen Gedicht auf das Segelschiff (c. 4): Phaselus ille quem videtis hospites. Die thematische Vielfalt, die den ersten Teil von Catulls Werk auszeichnet, ließe sich als Literarisierung der Freundesgespräche im Dichterzirkel beim Symposion erklären. Der Dichter hält Momente fest, die ihm wichtig scheinen, mögen die senes severiores, die traditionsbewussten, strengen alten Männer, darüber sich noch so den Mund fransig reden. Literarische Kritik steht neben Liebe und Wein, Großstadttratsch, Spott über die wichtigen Männer im Staate (Cicero,(22) Caesar,(23) Pompeius(24)) und in ihrer Deutlichkeit mit der griechischen Komödie des 5. Jahrhunderts v. Chr. vergleichbaren Obszönitäten neben Hymen (34) – auch dies übrigens eine beim Symposion gebräuchliche Form – und literarischen Übersetzungen aus dem Griechischen (51; 66). Interessant ist, dass auch Elegien ihren Platz beim Symposion hatten. Insofern würden auch die kleinen, in Distichen gehaltenen Gedichte 69-116, die dieselbe thematische Vielfalt wie die lyrischen Gedichte des ersten Teils aufweisen, in den sympotischen Kontext passen, der den Rahmen für die carmina maiora (61-64) und carmina maesta (65-68) des mittleren Teils abgibt. Wenn man dieser Deutung folgt, würde also das literarische Symposion die eigentlichen poetischen Produkte des Mittelteils, die Hochzeitslieder, das Atthis-Gedicht, das Epyllion, die Briefelegien, die Kallimachos-Übersetzung und das verfremdete Paraklausithyron, umrahmen, wie in der Realität des Dichterkreises neben lustigem Geplänkel und improvisierten Versen carmina maiora vor ihrer eigentlichen Publikation einem kritischen Publikum gleichgesinnter Dichter vorgetragen wurden.

 

III.

Nach der Darstellung von Catulls literarischer Technik am Beispiel des Widmungsgedichts soll nun weniger ausführlich auf den Lesbia-Zyklus des Eingangsteils, carmina 2-11, eingegangen werden. Catull entwirft eine Liebesgeschichte in Miniaturen, vom Beginn bis zum enttäuschenden Ende. Mit dieser Technik ist er direkter Vorläufer der Elegiker, die ebenfalls in Einzelgedichten Stadien einer Liebesbeziehung entwickeln. In die Anfänge der Liebe, als Lesbia die Liebesbezeugungen noch nicht erwidert, führt carmen 2: Der Dichter (oder der lyrische Liebhaber) wünscht sich an die Stelle des von der puella, der angebeteten Geliebten, gehätschelten passer, welche Vogelart auch immer sich dahinter verstecken mag. Wenn er wie der passer mit der Angebeten spielen könnte, würden sich die traurigen Sorgen seines Herzens lösen. Carmen 3: Der passer, die Wonne der Angebeteten, den sie mehr als ihre eigenen Augen liebte, ist tot – Passer mortuus est meae puellae / passer, deliciae meae puellae / quem plus illa oculis suis amabat – und geht den Weg alles Irdischen hinab in den Hades. O factum male! O miselle passer! / Tua nunc opera meae puellae / flendo turgiduli rubent ocelli.

 

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Um den passer weint die puella sich die Augen aus, aber wird sie auch über den Geliebten weinen? In die glückliche Zeit der Liebe führen die Kuss-Gedichte (5, 7), und jetzt erst wird der Leser aufgeklärt, wer die Geliebte ist: Vivamus, mea Lesbia, atque amemus / rumoresque senum severiorum / omnes unius aestimemus assis! Mit dem Motto „Liebe als einziger Inhalt des Lebens“ stellt sich der Dichter ganz bewusst gegen die römische Tradition; er kümmert sich nicht um den rumor, das Gerede hinter vorgehaltener Hand, die „boshaften Kommentare“(25) der strengen(26) alten Männer. Doch der Sturz aus den Höhen der Liebeswonne folgt abrupt. Indem Catull dieses Mal die Liebesgedichte nicht durch ein dazwischengeschobenes Gedicht anderen Inhalts trennt, wird das Unverhoffte des Endes der Beziehung auch im Aufbau des Werks widergespiegelt, ebenfalls wird das Abrupte durch den Wechsel des Rhythmus von den Hendekasyllaben zum Hinkiambus ausgedrückt: Das Leben des Dichters ist aus den Fugen geraten, wie das Metrum aus dem Tritt gekommen ist:

Miser Catulle, desinas ineptire,
et quod vides perisse, perditum ducas.
fulsere quondam candidi tibi soles,
cum ventitabas, quo puella ducebat
amata nobis, quantum amabitur nulla!
 /…/
Nunc iam illa non vult: Tu quoque, inpotens, noli!
Nec, quae fugit, sectare, nec miser vive,
sed obstinata mente perfer, obdura!

Armer Catull, hör’ auf, dich töricht zu betragen,
und was du verloren siehst, halte dies auch für verloren!
Einst strahlten dir glänzende Sonnen,
als du dorthin zu kommen pflegtest, wohin dein Mädchen dich führte,
die von mir geliebt wurde, wie keine andere je geliebt werden wird.
/…/
Jetzt will die nicht mehr: Wolle auch du, der du deiner nicht mächtig bist, nicht mehr,
und jage nicht hinter einer her, die vor dir flieht, und lebe nicht erbärmlich.
Sei hart, ertrage es, halte durch!

 

Nun ist die Geliebte, die den Dichter nach kurzem Glück verlassen hat, wieder anonym, puella. Carmen 11 stellt den Abschluss des Lesbiazyklus dar. In der Form der Sapphischen Strophe nimmt der Dichter endgültig Abschied von der Geliebten, jedoch nicht wie Sappho, die in der Form der resignierten Trauer ihre Mädchen in das Leben entlässt – man denke nur an φαίνεταί μοι κῆνος, das Catull übersetzte (51) –, sondern in der Form der brutalen Verwünschung. Catull sagt nicht vivat valeatque, sondern cum suis vivat valeatque moechis (11, 17), mit ihren Liebhabern möge sie leben und es sich gut gehen lassen.

 

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Auf die Art und Weise, wie Catull die metrischen Formen zur Heraushebung der inhaltlichen Aussage einsetzt, wurde schon kurz eingegangen. Nun noch einige Worte zur Komposition des Zyklus und zu formalen Spielereien: Indem Catull seine Geliebte Lesbia nennt, verweist er eindeutig auf die literarische Tradition, in die er sich mit seinen Liebesgedichten stellt: auf Sappho von Lesbos und deren Liebeslyrik, die, soweit wir dies an den Fragmenten ablesen können, insbesondere die Symptome der Liebe, die Auswirkungen auf die menschliche Psyche und den menschlichen Körper schilderte. Catull nimmt dies auf: Er gibt dem Leser Einblick in die Gefühle, die ihn beherrschen, Sehnsucht, Freude, Hass und Verzweiflung. Also auch in diesem Punkt ist er unmittelbarer Vorläufer der subjektiven römischen Liebeselegie der augusteischen Zeit. Neben den Lesbia-Gedichten, die im Zentrum stehen, schlägt Catull in dem Eröffnungsteil andere Themen seines Büchleins an: die bithynische Reise, die Heimat am Gardasee, die Freunde und deren Liebschaften.

In den passer-Gedichten gibt Catull gleichsam ein zweites Programm vor, nach dem seine Gedichte gelesen werden sollen, das des intertextuellen literarischen Spiels und der Ironie. Der passer in V.1 des zweiten Gedichts ist ein literarischer Spatz, er verweist auf die στρουθοί, die in Sapphos Aphrodite-Hymnos den Wagen der Göttin in schnellem Flügelschlag über die schwarze Erde ziehen (Fr. 1, 9-12). Dementsprechend ist auch Catulls Eröffnungsgedicht ein Hymnos kletikos und enthält alle für diese alte, religiöse Form typischen Elemente: die Anrufung im Vokativ, die Prädikationen in der Form des Relativsatzes im Polyptoton (quemcui), die Erzählung eines Mythos in Kurzform, die Lieblingstätigkeiten des Angerufenenen, gleichsam seine δυνάμεις und τέχναι, seine besonderen Fähigkeiten –sowie den Lieblingsort des Angerufenen enthaltend, und schließlich die Bitte um Gewährung dessen, was der Betende sich sehnlichst erwünscht. Der Unterschied ist, dass der Angerufene keine Gottheit, sondern ein schlichter Hausvogel ist. Dadurch entsteht die für Parodie und Ironie typische Spannung von Form und Inhalt, die auch im Epikedeion oder Threnos in carmen 3 aufrechterhalten wird.  Die pathetische Totenklage wird ständig komisch aufgelöst: Sed circumsiliens modo huc, modo illuc / ad solam dominam usque pipiabat (9f.), die Schilderung des flatterhaften Verhaltens des Vogels,(27) steht direkt vor der Katabasis des Spatzen in die Unterwelt, der Kontrast könnte größer nicht sein.

Catull zeigt – dies dürfte der kurze Überblick deutlich gemacht haben – in den Eröffnungsgedichten alle Merkmale seiner literarischen Meisterschaft. Eine einschichtige Lektüre dieser Gedichtchen ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Für uns, die wir mehr als 2000 Jahre später seine Gedichte lesen, gilt es, die verschiedenen Ebenen zu entschlüsseln: den zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Kontext, die Bedeutung des Dichterzirkels und vor allem die vielfältigen literarischen Traditionen, auf die der Dichter teils offen, teils versteckt, teils in verrätselter Form anspielt.

 

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Catull fordert den heutigen Leser wie seinen Freund Nepos dazu auf, mit ihm durch seine Gedichte in einen Dialog zu treten und sich in der Auseinandersetzung mit den Gedichten auf die Suche nach dem versteckten Autor zu begeben. Dass er seine Leser auf Holzwege lockt und verwirrt stehen lässt: Gerade dies macht seine hohe Kunst aus.

 

Prof. Dr. Bernhard Zimmermann
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Seminar für Klassische Philologie
Platz der Universität 3
D-79085 Freiburg

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(1) 

Zur Diskussion der umstrittenen Lebensdaten und zur Biographie vgl. den Artikel „Catullus“ von T.P. Wiseman in: Der Neue Pauly, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 1997, 1036-1039.

(2) So berichtet es Sueton in seiner Caesar-Biographie (73).

(3) Der Begriff Neoteriker, unter dem die Gruppe heute in den Literaturgeschichten figuriert, ist eine moderne Prägung. Cicero spricht von poetae novi (Orator 161), ironisch von νεώτεροι im Brief an Atticus (Att. 7, 2, 1) und abschätzig von cantores Euphorionis, „Nachbeter Euphorions“, in Tusc. 3, 45. Ciceros Kritik an den Neoterikern entspringt seiner Hochachtung für Ennius, der als Vertreter der großen Form von den Neoterikern abgelehnt wird.

(4) Die Fragmente der Neoteriker sind, mit dem Kommentar versehen, zugänglich in der Ausgabe von E. Courtney, The fragmentary Latin poets, Oxford 1993, 189-227. Diese Dichterzirkel der ausgehenden Republik – in der Appendix Vergilina finden sich Spuren eines anderen Kreises – sind philosophisch durch den Freundschaftskult, der in ihnen betreiben wurde, dem Epikureismus, poetologisch der alexandrinischen Dichtung und Dichtungstheorie verpflichtet.

(5) Die Fragmente und die Liebesleiden sind zugänglich in der kommentierten Ausgabe von J.L. Ligthfoot, Parthenius of Nicaea, Oxford 1999.

(6) Nicaea ist die Heimatstadt des Parthenios. Catull könnte damit nach Manier der alexandrinischen Dichter eine versteckte Würdigung des Dichters in sein Gedicht eingebaut haben.

(7) Landschaft mit thrakischer Bevölkerung im Nordwesten Kleinasiens, römische Provinz; Thynien und Bithynien waren für Catull identisch (W. Kroll, Catull, Stuttgart 71989, 59 zur Stelle).

(8) Gemeint ist mit Lydersee der Gardasee, in Anspielung auf die lydische Herkunft der Etrusker, die bis in den Norden sich ausgebreitet hatten; das Plätschern der Wellen wird, da die Wogen als Personen angeredet werden, zum Lachen.

(9) Siehe oben Anm. 1.

(10) In pietas klingen natürlich alle typisch römischen Moralvorstellungen an: Rücksicht gegen die Religion, den Vater, die res publica Romana.

(11) Eine ausführliche Besprechung der Zeugnisse zu Lesbia/Clodia findet sich bei H.P. Syndikus, Catull, Bd. 1, Darmstadt 21994, 17-39.

(12) M. Schanz/C. Hosius, Geschichte der römischen Literatur. 2. Teil, München 41935, 213 zu Ovid.

(13) Vgl. B. Zimmermann, Ille ego qui fuerim tenerorum lusor amorum. Zur Poetik der Liebesdichtungen Ovids, in: M. Picone/B. Zimmermann (Hrsg.), Ovidius redivivus. Von Ovid zu Dante, Stuttgart 1994, 1-21.

(14) Tibull, 1, 1; 1, 3; Properz 1, 17; 1, 19; vgl. H.-Chr. Günther, Albius Tibullus. Elegien, Würzburg 2002, 29-31 zum Motiv des Liebestodes.

(15) Ovid, Tristien 3, 3, 73f.: Hic ego qui iaceo tenerorum lusor amorum / ingenio perii Naso poeta meo. / at tibi qui transis ne sit grave quisquis amasti, / dicere Nasonis molliter ossa cubent. (“Ich, der ich da liege, tändelnder Dichter zarter Liebesgeschichten, / ich, Naso, der Dichter, habe mich durch mein eigenes Talent zugrunde gerichtet. / Aber dir, der du vorübergehst, möge, wenn du denn geliebt hast, / es nicht schwer über die Lippen kommen, dass Nasos Gebeine sanft ruhen mögen.“) Vgl. Tristien 4, 10, 1f.: Ille ego qui fuerim tenerorum lusor amorum, / quem legis, ut noris, accipe posteritas. („Wer ich gewesen bin, tändelnder Dichter zarter Liebesgeschichten, Nachwelt, vernimm es, damit du den kennst, den du liest.“)

 

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(16) sic ita prima moriere aetate, Properti? / sed morere; interitu gaudeat illa tuo! (“So wirst du in früher Jugend sterben, Properz? / Ja, stirb; an deinem Tod möge jene sich weiden!”); vgl. Catull 52, 1: Quid est, Catulle? Quid moraris emori? („Was ist los, Catull? Was zögerst du zu sterben?“)

(17) „Catull stellt in diesem Epigramm seiner Lesbia einen Lesbius gegenüber, den sie mehr liebe als ihn. Das Pseudonym war für einen Zeitgenossen unschwer aufzulösen.“ H.P. Syndikus, Catull, Bd. 3, Darmstadt 1987, 37. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass wir in Syndikus’ Argumentation einen klassischen Circulus vitiosus vorliegen haben. Denn nur wenn man die Gleichsetzung Lesbias mit Clodia akzeptiert, folgt daraus die Gleichsetzung von Lesbius und Clodius. Da jedoch das Cognomen des Clodius Pulcher ist, könnte man, von diesem Cognomen ausgehend, in Catulls Vers Lesbius est pulcher: quid ni? („Lesbius ist schön: Warum denn nicht?“) eine Anspielung auf Publius Clodius Pulcher herauslesen und in einem zweiten Schritt Lesbia mit dessen Schwester Clodia gleichsetzen.

(18) E. Lefèvre, Catulls alexandrinisches Programm, in: G. Vogt-Spira / B. Rommel, Rezeption und Identität, Stuttgart 1999, 229

(19) Vgl. C. O. Brink, Horace on poetry. The Ars poetica, Cambridge 1971, 321.

(20) Von libri aridissimi spricht Tacitus, Dialogus 19.

(21) D. Page, Poetae Melici Graeci, Oxford 1962, Fr. 884-890.

(22) Carmen 49.

(23) Carmen 11, 10; 57, 2; 93, 1.

(24) Carmen 93, 1.

(25) Kroll (s. Anm. 8) 11;

(26) Kroll 11.

(27) „aber bald hier-, bald dorthin hüpfend, / piepste er ständig zu seiner Herrin hin.“