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Anne Schlichtmann

»Für niemand. Für mich.« –
Antikentransformationen in Jean Anouilhs Antigone

 

I. Einleitung

Jean Anouilhs Theaterstücke beherrschten einen großen Teil des 20. Jahrhunderts lang die Bühnen Frankreichs. Anouilh arbeitete mit bedeutenden Regisseuren – wie Pitoëff, Barsacq und Barrault – und berühmten Schauspielern zusammen, ab 1948 inszenierte er seine Stücke auch mit großem Erfolg selber.

Anouilh versteht sich selbst als ein Stückefabrikant, als ein Handwerker im Bereich der Literatur und des Theaters – so wie auch sein Vater in seinem Bereich ein guter Handwerker war, nämlich als Schneider. Denn für ihn ist ein handwerklich gut gemachtes Stück die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg.(1)

Mit seinen Stücken will Anouilh dem Publikum vor allem gefallen, und zwar mit einem Theater als Spiel, wobei das Spiel aber nicht fern von aller Lebenswirklichkeit stattfindet, sondern Spiel und Leben sich unaufhörlich und unmerklich miteinander vermischen. Zu dieser Auffassung gelangt er schon in jungen Jahren:

„Die Scheinwelt, genau das war es, was sich dem jungen Anouilh darbot. Es war eine Darstellung der Welt, die den Wünschen des Publikums entsprach. Eine Art Rausch, eine Glückssträhne, die allen Verdruß verscheuchte. [...] Eine ganze Reihe von Dingen, deren beharrliche Wiederkehr auf den ersten Blick schwer verständlich scheint und als Nachlässigkeit aufgefasst werden könnte, lässt sich nur durch Erinnerungen an Arcachon erklären: das beharrliche Zurückgreifen auf die Zeit um 1900 – eine Welt, die dem Melodrama oder der Operette entstiegen scheint; typisierte Figuren – Dienerschaft, reiche Bürger, Liebende – mit denen das Publikum sich sofort identifiziert, weil sie getreue Abbilder seiner eigenen Vorstellungen sind. Zunächst gilt es also, das Leben in seiner Lüge zu erfassen und es so wiederzugeben, wie es sich Menschen bietet, die nach Klischees greifen, weil sie nicht den Mut haben, ihm ins Gesicht zu schauen. Das Ziel jedoch sieht anders aus: Entmystifizierung dieser konventionellen Welt, ihre Bloßstellung, Erkennung der Hintergründe und geheimen Kräfte, die die äußere Turbulenz des Spiels überdeckt.“(2)

Die Antigone, 1944 in Paris uraufgeführt, gehört zu den Stücken, in denen diese Vermischung von Spiel und Wirklichkeit ganz deutlich zutage tritt. Das Stück beginnt mit dem Sprecher, der alle Schauspieler vorstellt und ihre Geschichte erzählt. Danach treten Antigone, die von ihrem nächtlichen Ausflug – der Bestattung ihres Bruders Polyneikes –

 

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zurückkehrt, und ihre Amme auf. Die Amme vermutet hinter der nächtlichen Exkursion einen heimlichen Liebhaber. Ismene tritt hinzu und im Dialog der beiden Schwestern kommt das Problem der Bestattung zum Vorschein: Ismene will eine Übertretung des von Kreon erlassenen Bestattungsverbots nicht riskieren und versucht, auch Antigone davon abzubringen, doch vergeblich – ganz abgesehen davon, dass die Tat bereits geschehen ist. Die Amme erscheint ein zweites Mal, und Antigone gibt ihr Anordnungen, nämlich was mit ihrem Hund geschehen soll, wenn sie nicht mehr ist. Es folgt ein Zusammentreffen mit ihrem Verlobten Haimon, dem sie mitteilt, dass sie ihn nicht heiraten werde. Ihrer Schwester, die noch einmal versucht, Antigone zur Vernunft zu bringen, teilt sie nun mit, dass sie Polyneikes bereits bestattet habe, und lässt sie zurück wie zuvor auch Haimon und die Amme. Nun betritt Kreon die Bühne, begleitet von einem kleinen Pagen. Ein Wächter meldet die Bestattung des Polyneikes. Kreon befiehlt dem Wächter, wieder zu seinem Posten zurückzukehren und die Sache geheim zu halten. Es folgt eine Unterbrechung der Handlung durch den Sprecher, der in einer Art Metatheater eine kurze Abhandlung über die Unterschiede von Tragödie und Drama gibt. Danach führen die drei Wächter Antigone in Handschellen Kreon als Täterin vor. In einem großen Mittelteil, dem Kernstück dieser Tragödie, treten nun Antigone und Kreon einander gegenüber. Kreon will Antigone retten, doch sie bleibt starr. Erst die wahre Geschichte über ihre Brüder, dass sie beide Schurken waren, erschüttert Antigone in ihrer Haltung. Doch Kreons anschließende Rede über das vermeintliche Glück liefert Antigone das entscheidende Argument für ihre Absage an das Leben: Sie will alles oder nichts. Und so stachelt sie Kreon geradezu an, sie zu töten. Haimon versucht seinen Vater davon abzubringen, aber für Kreon gibt es kein Zurück mehr. Das Volk weiß bereits Bescheid und lärmt vor dem Palast. Angesichts des Todes bekommt Antigone Angst und versucht mit dem Wächter ein Gespräch anzufangen, doch der interessiert sich nicht für ihr Schicksal. Zum Schluss will sie noch einen Brief an Haimon schreiben. Sie diktiert dem Wächter, dass Kreon Recht habe und dass sie nicht mehr wisse, wofür sie sterbe. Aber nun ist es zu spät, sie wird abgeführt. Ein Bote berichtet schließlich von Antigones und Haimons Tod. Danach übernimmt der Sprecher die Funktion des Boten und verkündet Kreon den Tod seiner Frau Eurydike. Dieser stellt resigniert fest, dass er nun ganz allein ist, wendet sich aber dann wieder stoisch seinen Amtsgeschäften zu. Die letzten Worte gehören dem Sprecher, während die Wächter wieder, wie zu Beginn, Karten spielend auf der Bühne sitzen.

 

II. Formale und inhaltliche Transformationen

Anouilh präsentiert im Grunde dasselbe Handlungsgefüge wie Sophokles: Die Titelheldin setzt sich über das Gebot des Königs Kreon hinweg und unternimmt es, ihrem als Verräter gebrandmarkten Bruder Polyneikes die Totenehre zu erweisen.

Der zweite Versuch führt zu ihrer Entdeckung. Kreon vollstreckt die angedrohte Strafe, Antigone wird lebend eingemauert, Haimon nimmt sich an der Seite seiner Braut das Leben und auch Kreons Gattin Eurydike tötet sich, nachdem sie die Nachricht vom Tod ihres Sohnes erhalten hat.

 

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Der Schauplatz ist in beiden Stücken derselbe und auch die Szenenabfolge ist von der antiken Fassung im Wesentlichen übernommen: Die dramatische Handlung beginnt mit einem Dialog zwischen Antigone und Ismene. Es entfalten sich in beiden Stücken die gleichen Positionen: Der Unbedingtheit Antigones steht die Fügsamkeit Ismenes gegenüber. Der Wächter berichtet von dem ersten Bestattungsversuch, bei dem allein die Tat, nicht aber der Täter entdeckt wurde. Abermals tritt die Wache auf und führt Antigone als Täterin vor. Diese bekennt sich Kreon gegenüber zu der Tat und weist Ismene, die jetzt auch an der Tat mitgewirkt haben will, schroff zurück. Haimon versucht vergebens seine Braut zu retten, Antigone erschauert angesichts des nahen Endes, und alles endet in der großen Katastrophe.

Dieser präzise Parallelismus zwischen den beiden Stücken lässt jedoch die nicht minder erheblichen Differenzen deutlich hervortreten. Wie sich im Verlauf der Antigone Anouilhs zeigt, hat Antigone ihren ersten Bestattungsversuch bereits unternommen, bevor die Bühnenhandlung einsetzt. Sie kehrt von diesem nächtlichen Ausflug zurück und trifft auf ihre Amme. Diese Figur ist von Anouilh neu erfunden worden. Ihre Lebensaufgabe besteht darin, die Kinder – Antigone und Ismene – ordentlich zu erziehen, und insofern ist sie schockiert, als sie Antigones Bett morgens um vier Uhr leer vorfindet. Was würde Iokaste dazu sagen? (282f.):

„Mein Gott, was würde sie [= Iokaste] sagen, wenn sie das erlebte? »Zu dumm bist du, auf sie aufzupassen. Sonst bellst du immer wie ein alter Wachhund, bei jedem Lüftchen kommst du mit den Wollsocken, damit sie sich nicht erkältet, du gibst ihr Eigelb mit Zucker, damit sie kräftig wird, aber um vier Uhr morgens schläfst du, läßt sie entwischen, und wenn du kommst, findest du ein leeres Bett vor.« Genauso wird sie sprechen, wenn ich zu ihr hinaufkomme, und ich müßte mich zu Tode schämen, wenn ich dann nicht schon tot wäre.“

Hier wird die Welt einer Frau mit ihren kleinen Sorgen und Problemen dargestellt. Aber nicht nur dadurch wird eine untragische Gegenhandlung aufgebaut, auch die Verbindung des nächtlichen Verschwindens mit einem Liebhaber holt das Besondere, die Bestattung des Polyneikes, in den Rahmen des Alltäglichen hinein. Gleichzeitig wird in dieser Szene eine Charakterisierung Antigones gegeben: Sie ist starrköpfig und muss immer etwas Besonderes sein.(3) Andererseits wird Antigones Kindlichkeit hervorgehoben. Sie ist zwar schon zwanzig Jahre alt, aber die Amme kümmert sich um sie, als wäre sie noch ein kleines Kind. Auch Antigone selbst fühlt sich wie ein kleines Kind, verbietet es sich aber am heutigen Tag, wenn sie zur Amme sagt: „Spar dir deine Tränen – vielleicht brauchst du sie noch. Wenn du so weinst, komme ich mir wieder vor wie ein kleines Kind – und das darf nicht sein – heute nicht“ (283).

 

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Die folgende Szene, der Dialog zwischen Antigone und Ismene, stimmt mit dem Prolog des Sophokles überein – mit dem einzigen Unterschied, dass die Tat, um die es in diesem Dialog geht, bei Anouilh schon vollbracht ist. Somit wird nicht über die Zuwiderhandlung diskutiert, sondern es wird nach und nach die Bedeutung der schon vollzogenen Zuwiderhandlung thematisiert. Der Zuschauer aber erfährt erst in einer späteren Szene, dass Antigone auf ihrem nächtlichen Ausflug ihren Bruder Polyneikes bestattet hat, und somit scheinen die Ausgangspunkte in beiden Stücken für den Zuschauer zunächst doch die gleichen zu sein. Ismene versucht an Antigones Vernunft zu appellieren, sie malt ihr eine Szene der Exekution aus(4) und macht ihr klar, dass es Sache der Männer sei, für Ideen, an die sie glauben, zu sterben, aber nicht die eines Mädchens.(5) Auch hier klingt wieder die Kindlichkeit Antigones durch: „Du bist ein Mädchen“ (286), sagt Ismene zu ihrer Schwester. Und auch Antigone macht ihrem kindlichen Charakter wieder alle Ehre: „Verstehen... seit ich klein bin, höre ich von euch nichts als dieses Wort. Ich mußte verstehen, daß man nicht mit dem kühlen, lustig plätschernden Wasser spielen darf, weil sonst die Fliesen naß werden, daß man Erde nicht aufhebt, weil man sonst die Kleider schmutzig macht. [...] Verstehen! Immer verstehen. Vielleicht später, wenn ich alt bin – ruhig wenn ich alt werde. Jetzt nicht.“ (285).(6) Antigone schickt ihre Schwester wieder ins Bett, nachdem sie ihr versprochen hat, nochmals mit ihr darüber zu sprechen, bevor die Amme mit heißem Kaffee und Butterbroten ein zweites Mal die Bühne betritt. Antigone aber will nichts essen, sie verhält sich starr und trotzig und antwortet auf die Fragen der Amme wie ein trotziges Kind immer nur mit „nichts“ (287).

Die folgende Szene hat Anouilh völlig neu hinzugefügt. Hierbei handelt es sich um eine Begegnung zwischen Haimon und Antigone. Bei Sophokles begegnen die beiden einander nie, und auch die Liebe zwischen den beiden spielt, wenn überhaupt, eine eher untergeordnete Rolle.(7) Bei Anouilh hingegen stürzt sich Antigone in Haimons Arme, er nennt sie „meine kleine Närrin“ (289) – auch hier findet das „klein“ wieder Erwähnung – und Antigone träumt von einem gemeinsamen Kind, das sie nähren und schützen wird, auch wenn sie ganz anders ist als die anderen Frauen. Doch dabei kommt vielmehr Antigones eigenes Schutzbedürfnis zum Ausdruck – sie selber ist ja noch ein Kind, wie sie sagt: „Und außerdem habe ich noch gar keinen richtigen Busen“ (291). Eigentlich will Antigone sich mit Haimon treffen, um ihm zu sagen, dass sie ihn nicht heiraten wird. Sie will, wie sie selbst sagt, ihr Verhältnis zu Haimon „regeln“ (286). Insgesamt aber dient diese Szene wiederum der Charakterisierung Antigones, der Darstellung ihrer Schutzbedürftigkeit und Kindlichkeit. Haimon verlässt bestürzt die Bühne, und Ismene stürmt herein, um Antigone noch einmal von der Tat abzuhalten: „Versuche nicht, was deine Kräfte übersteigt. Du möchtest immer allem trotzen, aber dazu bist du noch zu klein“ (292). Doch es ist bereits zu spät. Antigone teilt ihrer Schwester mit, dass sie die Tat bereits vollbracht hat, und verlässt die Bühne. Ismene läuft ihr hinterher.

 

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Anouilh erreicht mit dieser Erweiterung gegenüber Sophokles zweierlei: Zum einen charakterisiert er Antigone neu durch die Darstellung ihrer Kindlichkeit und Subjektivität(8), zum anderen eröffnet er untragische Gegenwelten, die einerseits in Kontrast zu dem hohen Pathos stehen, andererseits auch versuchen, dieses in die alltägliche Welt hineinzuholen. Ganz deutlich wird dies in der Wächterszene, in der die drei Wächter, während sie Antigone zu Kreon bringen, darüber diskutieren, was sie mit ihrer Belohnung anstellen wollen. In echter Umgangssprache diskutieren sie, in welcher Kneipe sie sich betrinken wollen, ob mit oder besser ohne Familie, und dergleichen. Noch frappierender ist der Wächter, der Antigone vor ihrem Tod bewacht und sich angesichts ihrer Todesfurcht lediglich über Rangordnung und Besoldungsstufen äußert. Hier wird Alltägliches hohem Pathos direkt gegenübergestellt und führt damit zu einer Entheroisierung.

Aber nicht nur dramaturgische Innovationen und antitragische Kommentierungen, und damit Entpathetisierung und Entheroisierung, führen zu einem Traditionsbruch, auch gezielte Anachronismen tragen zu einer modernen Lesart der antiken Mythen-Konstellationen bei und betonen Anliegen und Probleme der eigenen Epoche, die besonders in der Auseinandersetzung zwischen Antigone und Kreon zum Ausdruck kommen.(9) Ismenes Schminkutensilien und ihre modische Garderobe, Kreons Antiquariate, der Kaffee und die Butterbrote der Amme, die schnellen Autos der beiden Brüder Eteokles und Polyneikes sind moderne Einsprengsel, die das Stück aus der Antike, aus der klassischen Erhabenheit in die zeitgenössische Gegenwart und Alltäglichkeit hineinholen. Es entsteht eine Dramaturgie der „Zweizeitigkeit“(10), wodurch die tragische Fabel der Haupthandlung durch komische Parallelen auf niederen Ebenen konterkariert und durch humoristische Aufhellungseffekte in ihrem Pathos abgeschwächt wird.(11)

Anouilh lässt aber auch einiges aus der sophokleischen Antigone weg. So eliminiert er die Gestalt des Teiresias und mit ihm die gesamte göttliche Ebene. Auch der Chor fehlt bei Anouilh. Stattdessen fügt er die Person des Sprechers – als moderne Art der Transformation des Chors – ein, der dem Stück durch Prolog und Epilog einen Rahmen gibt und zwischendurch mehrmals die Handlung durch Kommentare auf höherer Ebene unterbricht, manchmal jedoch auch als eine Art Schauspieler ins Geschehen eingreift.

Im Prolog stellt der Sprecher alle Schauspieler vor, die in einer Art Tableau auf der Bühne stehen. „So ... Diese Leute werden euch jetzt die Geschichte der Antigone spielen“ (279). Mit diesen Worten beginnt er und erläutert dann der Reihe nach die verschiedenen Rollen,

indem er auf ihren Charakter, ihre Funktion im Stück und zum Teil auf den Ausgang hinweist. Antigone ist die erste, sie „ist die kleine Magere, die da drüben sitzt und schweigt. Starr blickt sie vor sich hin und denkt. Sie denkt, daß sie gleich Antigone sein wird, [...] Sie denkt daran, daß sie sterben muß [...] Sie heißt Antigone und muß ihre Rolle durchhalten bis zum Ende.“ Es folgen Haimon und Ismene: „Der junge Mann da, mit dem die blonde, schöne, glückliche Ismene spricht, ist Hämon, Kreons Sohn, der Verlobte Antigones“ (279), den eigentlich alles zu Ismene zog, der aber dann doch Antigone heiraten will. Die Charaktere erhalten zwar neue Züge, sind aber dennoch durch die antike Vorlage festgelegt.(12) Ebenso wird auch Kreon vorgestellt als aristokratischer Schöngeist, Musikliebhaber und Bücherfreund, der am Ende allein sein wird, seine Frau Eurydike, die während der ganzen Tragödie strickt, „bis sie aufsteht und stirbt“, der Bote, der „später den Tod Hämons melden“ wird und schließlich die „drei Männer, die Karten spielen, mit roten Gesichtern, ihre Mützen im Genick, das sind die Wächter. Sie haben Weib und Kind und kleine Sorgen wie wir alle“ (280).

 

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Die epische Präsentation aller Personen durch den Sprecher ist ebenfalls systematisch mit anachronistischen Hinweisen auf ganz und gar unantike Realien, Charakteristika und Tätigkeiten durchsetzt. Dadurch wird das Stück in die Gegenwart hineingeholt, gleichzeitig aber auch verfremdet. Der Inszenierungscharakter wird dabei stark hervorgehoben: „Hier sind die Schauspieler, die jetzt alle in ihre Rollen hineinschlüpfen“, scheint der Sprecher zu verkünden. Auch während des Stücks wird der Rollenbegriff immer wieder durch die Schauspieler selbst angesprochen: Antigone sagt zu ihrer Schwester, die sie darauf aufmerksam gemacht hat, dass sie sterben muss, wenn sie Polyneikes bestattet: „So sind die Rollen verteilt“ (284). Kreon fühlt sich in die „böse Rolle“ gedrängt, während Antigone die „gute Rolle“ (304) spielen darf. Später äußert sich Kreon: „Ich weiß, meine Rolle ist nicht sehr edel – aber sie ist eben meine Rolle, und ich werde dich also töten lassen. Nur möchte ich, daß du vorher auch deiner Rolle sicher bist“ (308), er möchte, dass Antigone „ein wenig hinter die Kulissen dieses Dramas“ blicke, wenn sie schon darauf dränge, „eine Rolle darin zu spielen“ (309). Immer wieder wird deutlich, dass es „nur“ eine Rolle ist, dass es ein Spiel ist(13) und darin kommt Anouilhs Vorstellung vom Theater als Spiel deutlich zum Tragen.

Der Sprecher übernimmt im Laufe des Stücks häufig die Funktion eines Spielleiters: Zu Beginn führt er in das Stück ein, zwischendurch gibt er Kommentare von einem äußeren Standpunkt aus: „Sehen Sie, schon geht es an. Nun haben sie die kleine Antigone erwischt. Zum erstenmal in ihrem Leben wird sie ganz sie selbst sein können“ (296) und zum Schluss beendet er das Stück: „Alle, die sterben mußten, sind tot. [...] Alles ist vorbei. [...] Ein tiefer, trauriger Friede legt sich über Theben und den leeren Palast, wo Kreon sich anschickt, den Tod zu erwarten. Nur die Wächter haben alles gut überstanden“ (322). Nach der großen Auseinandersetzung zwischen Kreon und Antigone aber greift er als ein Schauspieler in das Geschehen ein:

„Du bist wahnsinnig, Kreon! Was hast du getan? [...] Rette Antigone! Laß sie nicht sterben, hörst du, Kreon“ (314). Der Sprecher verhält sich hier wie der antike Chor, der einerseits mit seinen Chorliedern die Handlung unterbricht und zum Teil Äußerungen von sich gibt, die über die Handlung hinaus gehen und vielleicht sogar Interpretationsansätze bieten, andererseits ist er sozusagen der Chorführer, aktiv am Geschehen beteiligt, eben wie ein Schauspieler.(14) Auch den Auftritt des Sprechers vor dem großen Mittelteil, der Peripetie, könnte man als Transformation einer Bauform des antiken Theaters verstehen. Der Sprecher reflektiert in einer Art Metatheater die beiden Gattungsbegriffe Tragödie und Drama sowie deren Funktion. Eine solche Technik liegt bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. in der Parabase der Alten Komödie vor. Die Parabase ist ein Chorstück, in der der Chor vor die Zuschauer tritt und sich unmittelbar an sie wendet. In den Anapästen spricht der Chorführer im Namen des ganzen Chors oder im Auftrag des Dichters über die Rolle des Dichters in der Gesellschaft, über die Qualitäten und Funktionen seiner Dichtung oder über das Verhältnis des Dichters zum Publikum.(15) So tritt auch hier der Sprecher vor das Publikum: „So weit wären wir also: Das Uhrwerk ist aufgezogen. Jetzt schnurrt es von allein ab“ (295) und beginnt dann nach der Gesetzlichkeit und der unerbittlichen Logik des Geschehens zu fragen. Er stellt fest, dass die Tragödie einer Maschine, einem Uhrwerk gleicht,(16) das immer weiter läuft, zwangsläufig, wenn man es einmal aufgezogen hat. Es gibt kein Entrinnen mehr aus dieser Maschinerie. Dazu kommt noch verschiedenes tragisches Zubehör, wie „Tod, Verrat, Verzweiflung, donnernde Gewitter“, aber letztlich ist die Tragödie „eine feste, todsichere Angelegenheit“ (295), die „keine trügerischen Hoffnungen“ in sich birgt, da man weiß, „daß man wie eine Maus in der Falle gefangen wird“ (296). Die Protagonisten der Tragödie nehmen dieses Schicksal hin, sie akzeptieren es, da es keinen Ausweg gibt. Dabei sind „alle gleich unschuldig. Wenn da einer jemanden umbringt und ein anderer umgebracht wird, dann ist das lediglich eine Frage der Rollenverteilung“ (296).
Folgerichtigkeit und Zwangsläufigkeit des Geschehens, Hoffnungslosigkeit und Gewissheit des Untergangs sowie ein Ethos des Geschehenlassens sind demnach Kennzeichen der Tragödie, die im Gegensatz zum „Drama“ nur durch den Adel repräsentiert werden kann. „Bei der Tragödie ist das vollkommen anders: Sie ist etwas für Könige“ (296). Das Drama hingegen ist in allen wesentlichen Belangen als das genaue Gegenbild der Tragödie konzipiert und unterscheidet sich von dieser vor allem „durch den offenen Horizont des Zufalls und der Hoffnung.“(17) Der absoluten Hoffnungslosigkeit der Tragödie steht hier eine sehr viel buntere und lebensnahere, gleichsam naturalistische Sphäre gegenüber, in der „das Streben seine heroische Notwendigkeit und Grandiosität verliert [...] und als bedrohlicher Zufall erscheint [...] gegen den man sich nach Kräften zu wappnen und in seinen Existenzmöglichkeiten zu behaupten sucht.“(18) Repräsentanten des Dramas sind Charaktere aus niederen Schichten, das „Verräterpack, mit diesen bösartigen Hitzköpfen, [die] verfolgten Unschuldigen, mit den Rächern und den Hoffnungsschimmern nach dumpfer Verzweiflung“ (295f.). Drama und Tragödie stehen einander in der Darstellung des Sprechers als zwei völlig konträre Gattungen gegenüber.

 

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Die Frage, die sich im Anschluss an die Ausführungen des Sprechers stellt, lautet nun: Welcher Gattung lässt sich demnach das Stück selbst, die Antigone, zuordnen? Anouilh entwirft zwar diese Gattungskonzeptionen, die einander eigentlich ausschließen, doch sein eigenes Stück lässt sich keiner Gattung eindeutig zuordnen. Es enthält vielmehr Elemente beider Gattungen: Die Protagonisten entstammen teils der Adelsschicht, Antigone, Kreon, Haimon, Ismene, teils aber auch den unteren Schichten der Gesellschaft: die Amme und die Wächter. Für die Adligen ist das Schicksal festgesetzt, wie es der Sprecher auch im Prolog berichtet,(19) und Antigone ist diejenige, die sich diesem Schicksal und dem Ethos des Geschehenlassens vollkommen hingibt. Sie setzt das Räderwerk mit der Bestattung ihres Bruders Polyneikes in Gang und lässt es laufen. Kreon jedoch bäumt sich dagegen auf, er will das Rad zum Stoppen bringen, er kämpft um das Leben und will das Beste daraus machen. Er repräsentiert somit trotz seines Standes eher eine Figur des Dramas, für ihn ist dieses Stück ein Drama: „Ich möchte nämlich, daß du ein wenig hinter die Kulissen dieses Dramas blickst, wenn du schon darauf brennst, eine Rolle darin zu spielen“ (309), sagt Kreon zu Antigone. Auch Ismene und Haimon geben sich nicht einfach so dem Schicksal hin, sie versuchen zu retten, was noch zu retten ist. Doch es gibt nichts zu retten, da alles zwangsläufig so geschehen muss. Die weiteren Charaktere, die Amme und die Wächter, verkörpern das ganz normale und alltägliche Leben, mit Sorgen und Problemen, die wir alle kennen, ein Leben, das dem Zufall und der Hoffnung ausgesetzt ist. Sie sind typische Repräsentanten des Dramas. Antigone scheint somit die einzige zu sein, die in diesem Stück das Tragische verkörpert.

Es liegt also eine Mischform(20) vor: Die antike Vorlage ist eine Tragödie, d.h. nach dieser und nach dem Mythos muss sich zwangsläufig alles so ereignen, wie es auch tatsächlich passiert. Antigone, Haimon und Eurydike müssen sterben, und Kreon muss am Ende allein dastehen. Der Weg dahin aber kann anders verlaufen: über die Erfindung neuer Figuren und Szenen, über die Hervorhebung anderer Charakterzüge, über die Motivierung der Tat, über Sprache, Komik etc. Nur die Tragödie, der Mythos muss bewahrt werden.(21) So gelingt Anouilh in einer modernen Spielart mit Antikentransformationen dieses Spiel im Spiel.

 

III. Antigone und Kreon – die Helden des Stücks?

Bei Sophokles kann man durchaus von einem Zweipersonendrama sprechen.(22) Sowohl Antigone als auch Kreon gehören zu den Hauptprotagonisten, wobei eigentlich nur Kreon den tragischen Helden verkörpert.

 

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Antigone geht autonom ihren Weg in den Tod. Kreon hingegen verstickt sich zunehmend in ate, indem er bei allen anderen Verrat und Gewinnsucht vermutet, verfällt Teiresias gegenüber in hybris und gelangt zum Schluss, ganz im Sinne des aischyleischen pathei mathos, durch Leid, durch den Tod seines Sohnes und den seiner Frau zur Einsicht. Aber ganz so klar sind die beiden Rollen bei Sophokles auch nicht verteilt. Recht und Wahrheit scheinen zwar auf Antigones Seite zu stehen, aber ihr Charakter zeigt auch schwierige Züge. So ist Antigones Wesen von leidenschaftlicher Schroffheit geprägt: Wie ihre Liebe zum Bruder keine Grenzen kennt, so reagiert sie im Prolog auf Ismenes Rückzug mit schneidender Schärfe, und die Art, in der sie später deren Bereitschaft zum gemeinsamen Tod zurückweist, wirkt beinahe abstoßend. Auch ihre befremdliche Todesbereitschaft(23) und das ständige Denken an die Toten, an Vater, Mutter und Bruder, stellen merkwürdige Züge ihres Wesens dar angesichts der Tatsache, dass ihr doch eigentlich ein Leben in Ehe – sie ist ja mit Haimon verlobt – und Familie bevorsteht.

Auch Kreons Wesen ist nicht leicht zu fassen: Von den Maximen, die er in seinem ersten Auftritt verkündet, klingt manches sachgerecht und objektiv;(24) erst der weitere Verlauf des Geschehens treibt den Helden in die Rolle unentschuldbarer Maßlosigkeit und entlarvt seine Grundsätze eher als Ausgeburten egozentrischer Herrschsucht – allerdings nur bei einem demokratischen Verständnis.

Sophokles lässt die Bewertung seiner Charaktere offen, und gerade die in dem Stück angelegten, aber offen gelassenen „Restbestände“(25) sind es, die moderne Autoren in ihren Stücken austragen. So benutzt auch Anouilh solche Restbestände als Hebel, um einen gänzlich verwandelten Kontrast auf die Bühne zu bringen. Anouilhs Konzeption weicht erheblich von der sophokleischen Version ab, ohne jedoch etwas völlig Neues an die Stelle des Alten zu setzen. Denn seine Konzeption beruht auf Wesenszügen, die in der sophokleischen Tragödie bereits angelegt sind. So ist Anouilhs Antigone ganz und gar von ihrer Subjektivität her konzipiert. Die exponierenden Szenen am Anfang des Stücks dienen vor allem dazu, die Sonderbarkeit der Titelheldin und ihren Eigensinn zu illustrieren. Sie sind Voraussetzungen für das Kernstück, die Auseinandersetzung zwischen Antigone und Kreon. Kreon erweist hier den Bestattungsritus als heuchlerisch, als Pfaffentrug und nimmt Antigone damit die religiöse Begründung für ihre Tat. So gibt sie selbst zu, dass ihre Tat verrückt war. Und auf Kreons Frage, für wen sie es denn getan habe, wenn nicht für ihren Bruder, antwortet sie: „Für niemand. Für mich“ (303). Nachdem Kreon Antigone berichtet, was für Schurken ihre Brüder, Eteokles wie Polyneikes, gewesen sind, wird Antigone jegliche Motivation ihrer Tat genommen. Kreons Argumentation entlarvt Antigones Tat als bloßen „Überbau“(26), als nachträgliche Motivation ihrer wesensbedingten Kompromisslosigkeit. Ihr „Alles oder Nichts“, ihr unbeugsames Streben nach dem Absoluten wird zur hohlen Form, zur Fassade, die sie bis zum Schluss verteidigen möchte. So erkennt Kreon: „Sie selbst wollte sterben. Keiner von uns war stark genug, sie daran zu hindern.

 

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Jetzt begreife ich. Antigone war dieser Tod vorbestimmt.(27) Vielleicht wußte sie es selbst nicht ... aber Polyneikes war nur ein Vorwand. Und als sie nicht mehr für ihn sterben konnte, fand sie sofort einen anderen Grund. Ihr war die Hauptsache, daß sie nein sagen und sterben durfte“ (314). Doch angesichts des Todes weiß auch sie nicht mehr, wofür sie stirbt. Anouilh lässt Antigone so in der alles beherrschenden Subjektivität aufgehen, die bei Sophokles bereits angelegt ist.

Kreon dagegen verkörpert bei Anouilh die Objektivität, die Vernunft, die Rücksicht auf die realen Verhältnisse – also das, was er bei Sophokles nach der ersten Rede auch vertreten könnte. Ein Tyrann, der eine persönliche Machtposition verteidigt, scheint er bei Anouilh nur einen kurzen Moment zu sein, wenn er dem Wächter, der den ersten Bestattungsversuch verkündet, gegenüber preisgibt: „Die Opposition wühlt und rumort schon wieder überall“ (294). Doch im Verlauf des Stückes zeigt sich, dass Kreon seinen „Job“ nicht unbedingt gerne macht, dass er ihn aber machen muss, weil es eben sein „Job“ ist(28) – es ist „eine schmutzige Arbeit, aber wenn man sie nicht selbst tut, wer soll sie dann tun?“ (321). So ist das Bestattungsverbot etwas, was sein Beruf verlangt, denn „diese Dickköpfe, die ich jetzt regieren soll, müssen zu einer besseren Einsicht gebracht werden. Und deswegen muß es in der ganzen Stadt einen Monat lang nach Polyneikes stinken“ (305). Und dennoch tut er alles Menschenmögliche, um Antigone zu retten. Doch er wird von Antigone in die „böse Rolle“ (304) gedrängt und kann am Ende nicht anders als die schmutzige Arbeit auszuführen, denn „die Menge weiß bereits alles. Sie johlt schon vor dem Palast“ (314). Damit ist für einen Teiresias kein Platz mehr, und ebenso wenig für eine verspätete Einsicht und Reue des Helden. Was sollte Kreon bereuen? Zu welcher Einsicht sollte er gelangen? Er weiß um sein falsches Spiel und legt es Antigone gegenüber offen dar: „Aber für mich ergab sich die Notwendigkeit, daß ich aus einem von ihnen einen Helden machen mußte“ (310). Aber welcher von den beiden Brüdern es nun war, den er bestatten ließ, denn beide waren ja gleich schlecht, das ist ihm „vollkommen gleichgültig“ (310) – beide waren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.

Somit ist in Anouilhs Stück Antigone, die Titelheldin, einziger Brennpunkt des Geschehens. Antigone erscheint als zentrale Heldin des Stücks, aber sie ist eine negative, fragwürdige Heldin, eine Heldin des Nein.(29)

Die Auseinandersetzung zwischen Antigone und Kreon ist das Zentrum des Stückes, und nachdem feststeht, dass Antigone getötet wird, ist das Stück vorbei. Alles weitere – die Auseinandersetzung zwischen Kreon und Haimon und die Botenberichte – wirkt ein wenig aufgesetzt, aber es muss folgen, weil es die Tragödie und der Mythos verlangen. Bei Sophokles hingegen beginnt nach dem Todesurteil über Antigone die Tragödie des Kreon, derer es bei Anouilh nicht bedarf. Sein Kreon ist am Ende zwar auch allein, doch so zerstört wie der sophokleische Held wirkt er nicht.

 

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Er resümiert vielmehr: „Jetzt schlafen alle. Gut. Es war ein harter Tag.“ Doch ein bisschen wehmütig sagt er: „Schlafen – es muß schön sein.“ Aber er fängt sich gleich wieder, weil man seine Arbeit eben verrichten muss: „Wenn man vor einem Werk steht, kann man doch nicht einfach die Arme verschränken“, auch wenn es eine „schmutzige Arbeit“ ist. Und so kann er zum Schluss auch seinen Pagen fragen: „Fünf Uhr. Was haben wir heute um fünf?“, worauf der Page antwortet: „Ministerrat, Herr“, und Kreon: „Gut, wenn wir Ministerrat haben, Kleiner, dann werden wir jetzt hingehen“ (alle Zitate auf S. 321).

 

IV. Die Antigone im Kontext ihrer Zeit

Wenn vorhin davon die Rede war, dass Anouilh das Stück in seine Zeit hineinholt, dann darf man auch fragen: In welche Zeit? Aufgeführt wurde die Antigone 1944, verfasst hat Anouilh das Stück schon in den Jahren 1941 bis 1942. Beides fällt in die Zeit der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen, 1940-1944, eine Zeit, geprägt durch die Regierung in Vichy, die den Kurs der Collaboration einschlug, und auf der anderen Seite durch den Widerstand, die Résistance.(30) In der Rezeption der Antigone haben beide Parteien das Stück für sich in Anspruch genommen – und es sind gewiss zeitgenössische Anspielungen darin zu finden,(31) aber man sollte sich davor hüten, einzelne Charaktere mit historischen Persönlichkeiten der Zeit gleichzusetzen.(32) Eine Verarbeitung zeitgenössischer Themen und Erfahrungen ist sicherlich im Wortschatz zu finden: die Begriffe ‚verstehen’ (comprendre)(33) sowie ‚Ja und Nein sagen’ (dire oui et non),(34) die im Stück eine wesentliche Rolle spielen, gehören zu den politischen Schlagworten dieser Zeit. Antigone ist diejenige, die nicht verstehen will – allerhöchstens später, wenn sie alt ist, aber dazu wird es ja nicht kommen. Und sie ist diejenige, die nein sagt, worauf sie auch mächtig stolz ist: „Ich kann noch nein sagen zu allem, was mir mißfällt. Ich bin mein eigener Richter“ (305). Kreon dagegen hat ja gesagt, für ihn ist nein sagen feige, eine Erfindung der Menschen: „Wer ja sagt, muß das Leben fest mit beiden Fäusten anpacken und sich in die Arbeit knien, daß der Schweiß rinnt. Nein sagen ist leicht, selbst wenn man dabei sterben muß“ (307). Ist Antigones Nein aber mit dem eines Widerstandskämpfers gleichzusetzen? Ihre Tat hat keine religiöse Begründung, sie ist „verrückt“ (303); sie hat keine moralische Begründung, denn ihre Brüder entpuppen sich als hinterhältige Kerle; sie hat auch keine politische Begründung, so dass sie zu einer Revolte anwachsen könnte, Antigone tut es für sich selbst: „Für niemand. Für mich.“ (303), sie handelt aus sich und nur für sich, sie ist frei von jeglicher ihr Handeln bestimmenden Instanz. Ihr Neinsagen ist eine Absage an das Leben, es ist ein indirekter Selbstmord. Am Ende jedoch stellt auch sie ihr eigenes Nein in Frage, denn sie weiß nicht mehr, wofür sie stirbt. Das alles dürften wohl kaum Vorsätze und Ziele eines Mitgliedes der Résistance gewesen sein.

 

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Anouilh holt das Stück durch Anachronismen, durch die Verwendung einer modernen, umgangssprachlichen Sprache, durch ein Vokabular der Zeit und durch das Anklingenlassen von aktuellen Themen in die Gegenwart hinein. Und dennoch bleibt es ein Spiel einer Geschichte, eines Mythos aus grauer Vorzeit. So schafft es Anouilh, ein Stück auf die Bühne zu bringen, in dem sich Spiel und Wirklichkeit ständig durchdringen. Das Theater wird zu einer Stätte des Spiels und der Verwandlung.

„Anouilh versucht, innerhalb der Konvention und durch sie die Masken fallen zu lassen, das unter ihnen versteckte Leben aufzuspüren. Aus einem der Macht seiner Gewohnheiten verfallenen Menschen macht er ein Geschöpf, das sich plötzlich den seltsamsten Regungen überläßt. Aus der mechanisch reagierenden Marionette läßt er ein hilfloses Wesen entstehen, das seinem unzusammenhängenden Zappeln ausgeliefert ist, diesem wilden Durcheinander, hinter dem sich verzweifelte Menschlichkeit verbirgt.“(35)

Anne Schlichtmann
Engelbergerstr. 43g
79106 Freiburg

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V. Literaturverzeichnis

1. Quellen

 

2. Sekundärliteratur

 

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(1) Schrank (1986), 7.

(2) Vandromme (1966), 19f.

(3) Amme: „Ich war auch einmal jung und gewiß nicht leicht zu erziehen, aber so starrköpfig wie du war ich nicht. [...] Aber du mußt ja immer etwas Besonderes haben.“ 281f.

(4) „Sie werden hinter uns herjohlen, mit tausend Armen, tausend Mündern, uns ins Gesicht spucken. Durch ihren Haß, ihr Gestänk und ihr rohes Lachen wird man uns auf einem armseligen Karren zur Richtstätte zerren [...] Oh – nein, ich kann nicht, ich kann nicht“ (285). Auch die sophokleische Ismene ist nicht dazu geschaffen, der Gewalt der Bürger zu trotzen (V 78f.).

(5) Vgl. Soph. Ant. 61-64.

(6) Zum Begriff ‚verstehen’ vgl. Kap. IV Die Antigone im Kontext ihrer Zeit.

(7) Die einzige, die darauf hinweist, ist Ismene (V 570) und vielleicht der Chor im dritten Stasimon (direkt nach Haimons Abgang), wenn er sein Lied auf den Eros singt.

(8) Die Subjektivität, das Kreisen um die eigene Person, ist aber schon bei Sophokles angelegt, vgl. S. 11f. dieser Arbeit.

(9) Vgl. dazu Kap. IV Die Antigone im Kontext ihrer Zeit.

(10) Frick (1998), 402.

(11) Vgl. Frick (1998), 407.

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VIII/1 (2008), 28
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(12) Vgl. Horaz, Ars poetica 120-124: „honoratum si forte reponis Achillem, / inpiger, iracundus, inexorabilis, acer / iura neget sibi nata, nihil non adroget armis. / sit Medea ferox invictaque, flebilis Ino, / perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes.“ Die Stoffwahl verlangt in jeglicher Dichtung Anschluss an die Überlieferung. Kommt also in einer Dichtung Achill aufs Neue vor, so muss er rastlos sein, zornwütig, unerbittlich, leidenschaftlich etc., eine Medea wild und unbeugsam usw. D.h. die Rollen sind in gewisser Weise durch die Überlieferung vorgegeben.

(13) Kreon fragt Antigone: „Was spielst du nur?“ (302) und wenig später beteuert er: „Deine ganzen Kräfte, die noch viel zu schwach sind, verwendest du auf dieses Spiel“ (303).

(14) Vgl. Aristoteles, Poetik 1456a 25-27: Aristoteles lobt hier Sophokles, der den Chor wie einen Schauspieler eingesetzt habe.

(15) Zimmermann (2006), 38.

(16) Vgl. Jean Cocteau, La maschine infernale.

(17) Jauß (1960), 431.

(18) Frick (1998), 454.

(19) Antigone muss sterben, Kreon wird allein sein, Eurydike wird sich umbringen etc., 279f.

(20) Frick (1998) spricht von einem genre mixte: „In der Weltsicht und im Handeln der Protagonisten und ihrer Gegenspieler Elemente beider Gattungstypen miteinander konfrontierend, enthalten sie sich jeder eindeutigen Stellungnahme oder Sympathievergabe und wahren ihre ironische Ambiguität bis in die offengelassenen Doppelschlüsse (mit dem Tod der tragischen Heroinen und dem Lebensbekenntnis ihrer Sphäre des drame zugehörigen Antipoden) hinein“ (455).

(21) Vgl. Aristoteles, Poetik (1453b 22-26): Der Mythos, das Gerüst der überlieferten Geschichten, darf nicht angetastet werden.

(22) Im Folgenden soll keine Interpretation der sophokleischen Antigone gegeben werden, es kommt mir hier auf den Vergleich zur Antigone Anouilhs an. Zu Sophokles vgl. Lesky (1972), 193-207; Zimmermann (1992), 72-78; Lefèvre (2001) und den Kommentar von Griffith (1999).

(23) Vgl. V 461f., 555, 559f.

(24) Vgl. V 175-181, 184-190.

(25) Fuhrmann (1971), 132.

 

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VIII/1 (2008), 29
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(26) Fuhrmann (1971), 133.

(27) Vgl. dazu wieder das Verständnis Anouilhs von Tragödie.

(28) Vgl. 305: Kreon: „Als ich eines Morgens aufwachte, stellte ich fest, daß ich König von Theben geworden war. Gott weiß, daß es mich noch nie in meinem Leben nach Macht gelüstet hat.“ Antigone: „Dann hättest du eben nein sagen sollen.“ Kreon: „Ich hätte es wohl gekonnt. Aber ich wäre mir vorgekommen wie ein Arbeiter, der sich weigert, sein Tagewerk zu verrichten. Das schien mir unehrenhaft. Ich sagte ja.“

(29) Vgl. auch Kap. IV Die Antigone im Kontext ihrer Zeit.

(30) Zur politischen Situation vgl. Flügge (1994), 71-108.

(31) Themen wie die Tendenz zur Moralisierung, Individualismuskritik, Diskussion um Engagement, Verantwortung und Einordnung, Thematisierung der Jugend und aller Erziehungsfragen, der Jugendkult etc. klingen im Stück selbst an.

(32) So z.B. Kreon mit dem Regierungschef Pétain und Antigone mit einer Widerstandskämpferin. Flügge (1994) kommt zu dem Schluss, in Kreon eine „ideologische und politische Synthese-Figur aus verschiedenen Elementen des Vichy-Regimes“ zu sehen, 346.

(33) „Die Aufforderung zum Verstehen gerade des Nichtausgesprochenen, das ist eine der wichtigsten Formeln des öffentlichen Diskurses, mit gelegentlich drohendem Unterton (wer nicht verstehen will, muß die Folgen tragen)“, Flügge (1994), 339, vgl. auch 169-174.

(34) „Die Franzosen werden aufgefordert, ‚Oui’ zur Neuen Ordnung zu sagen, den alten Geist des französischen Individualismus und Egoismus zu überwinden. Neinsagen, ‚refuser’, ist nun nicht mehr an der Tagesordnung“, Flügge (1994), 339.

(35) Vandromme (1966), 20.