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Thomas Kellner

Der Humanismus im Kontext alternativer Begründungsmodelle des Gymnasiums


Provozierend oder vielleicht doch nur noch belächelt „unzeitgemäß“ „mutet“ heute wahrscheinlich für viele der Rückgriff auf die bildungstheoretische Tradition des Humanismus „an“, da dieser doch im bildungspolitischen, aber auch akademisch-bildungstheoretischen Diskurs spätestens nach den Stürmen der sog. „Realistischen Wende“ in Gesellschaft und Gymnasium kaum noch eine Gegenwarts- oder Zukunftsbedeutung zu besitzen scheint und demzufolge meist als nur noch historisches bzw. anachronistisches Phänomen wahrgenommen wird. Nachdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts die „Idee“ des Gymnasiums gerade als neu-humanistische „Idee“ definiert wurde, das Gymnasium also die institutionelle Konkretion humanistischer Bildungsideale darstellte, scheint dieses Ideal einer geistigen Identität von Gymnasium und Humanismus heute obsolet geworden zu sein.

So scheint der Humanismus heute eher vergessen, denn bekämpft. Figuriert er also bloß als historisches Phänomen ohne jede Gegenwartsrelevanz? Oder ist er zu einem kulturbeflissenen und moralischen Baustein in den routinierten patchworks postmoderner Imagedesigns verkommen?  Fungiert er nur noch als eine exotisch anmutende Koketterie? Nicht ganz. Quasi subkutan lässt sich eine durchaus bunte, teilweise disparate Vielfalt unterschiedlicher Humanismusverständnisse identifizieren, deren jeweiliger „Sitz im Leben“ wiederum ganz unterschiedlich verortet werden kann. So lassen sich in der gegenwärtigen Humanismusdiskussion unter unterschiedlichen formalen und materialen Einteilungskategorien beispielsweise folgende Ansätze unterscheiden: fest institutionalisierte oder freischwebend sektiererische, akademische oder esoterisch-folkloristische Ansätze, traditionelle an der Antike und den Alten Sprachen ausgerichtete oder sehr weit gefasste, marxistische, existentialistische, religiöse, pragmatisch-utilitaristische oder säkularistisch-freidenkerische, philosophische, rhetorische oder philologische Ansätze und schließlich interkulturell colorierte Versuche, den Humanismus als globalisierungskompatibles Weltethos zu etablieren.

Gibt es abgesehen vom bloßen Etikett des Begriffs Humanismus überhaupt noch Bezugspunkte zu den Ursprüngen der pädagogischen bzw. gymnasialpädagogischen Idee des Humanismus? Eine historische Besinnung mag vielleicht helfen, den aktuellen Befund besser zu verstehen und ihn als Ergebnis eines langdauernden Transformationsprozesses einzuordnen.

 

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In einem ersten Teil der folgenden Ausführungen sollen daher die bildungstheoretischen Grundlagen des neuhumanistischen Gymnasiums an den Beispielen von Humboldt, Hegel und Schleiermacher dargestellt (I), danach knapp einige historische Stationen der Humanismusdiskussion (II) und die gegenwärtige Situation (III) beleucht werden. Ein kurzer Ausblick wird dann die Ausführungen beschließen (IV).(1)

 

I. Die neuhumanistische Bildungsidee

Die Konstituierung des preußisch-deutschen Gymnasiums ging zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Abschaffung der althumanistischen Lateinschulen, der Ritterakademien und der unter dem Einfluss der Aufklärung stehenden Philanthropine einher. Nach der traumatischen Niederlage von 1806 war das neuhumanistische Gymnasium in den Kontext einer Reform des gesamten Staatswesens gestellt. Dieser Zäsurcharakter darf strukturgeschichtlich nicht geleugnet, aber auch nicht, wie in der älteren Forschung oft geschehen, ideengeschichtlich verabsolutiert oder in der Person Humboldts einseitig personalisiert werden. Vielmehr müssen Humboldts Reformvorstellungen von der weiteren Realentwicklung des preußisch-deutschen Gymnasiums deutlich unterschieden werden. Ein spezifisch „Humboldtsches Gymnasium“ hat zu keinem Zeitpunkt preußisch-deutscher Gymnasialgeschichte existiert. Die Gründe hierfür liegen in der Differenziertheit der neuhumanistischen Bewegung, den von Beginn an präsenten realistischen, christlichen und deutsch-nationalen Konkurrenzeinflüssen und den zunehmenden Bürokratisierungs- und Funktionalisierungstendenzen des modernen Staates.

Humboldt(2) stand mit seiner religiös-eschatologisch kolorierten Griechenverehrung(3) in der Nachfolge von Winckelmanns neuhumanistischer Programmschrift „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ (1755).(4) Neben kontemplativ-ästhetischen, idealistischen Stimmungen und einem einseitig „apollinisch“ gedeuteten Griechentum klangen bei Winckelmann auch schon die deutsch-nationalen, franzosenfeindlichen und latinitätskritischen Untertöne an, welche in der Zeit der Napoleonischen Kriege besondere Aktualität gewannen. Im „gemüts“bezogenen existentiellen Erfassen der griechischen Kunst bietet sich für Humboldts „Perfektibilitäts“streben die bestmögliche Annäherung an ein „reifes“ organisches, harmonisches und ungeschichtlich-ewiges Bildungsideal. In diesem Ideal hebt sich die Polarität von Individuum und Welt im Zielpunkt einer idealistischen Person- und Geschichtsteleologie auf. Humboldt rezipiert den personbezogenen Bildungsbegriff, der gerade auch unter den Auspizien der gesellschaftlichen Transformation zu einer freiheitlich-liberalen Bürgergesellschaft entstanden ist.(5) Neben den Einflüssen des durch die Französische Revolution und den politischen Liberalismus vermittelten egalitären Menschenrechtspostulats

 

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entwickelt Humboldt seine Anthropologie auch in Anlehnung an die Monadologie von Leibniz. Durch diese ontologische Grundlage ist der freiheits- und autonomiebezogene Person-, aber auch der Nationbegriff letztbegründet. Der Begriff von Person und Nation ist nicht nur durch seine „materiale“ Substanz, sondern gerade auch durch die Entelechie seiner „formalen Kräfte“ gekennzeichnet. Zusätzlich zu dieser anthropologischen Prämisse erwächst das starke formale Element von Humboldts Bildungstheorie auch aus seiner Sprachphilosophie, die er anhand des von ihm als Idealtypus von Sprache so hochgeschätzten Griechischen entfaltet.(6)

Das bewusst allgemeinbildende Curriculum steht den standes- und berufsbezogenen Konzeptionen der Gelehrtenschulen, der Philanthropine und der Ritterakademien strikt entgegen. Die Inhalte gymnasialen Unterrichts sind bei Humboldt nicht traditionsbegründet oder als abbilddidaktische Reduktion einzelner Wissenschaftsdisziplinen gestaltet, sondern werden konsequenterweise systematisch als Spiegel seiner ganzheitlichen Anthropologie konstruiert: „Der allgemeine Schulunterricht geht auf den Menschen überhaupt, und zwar als gymnastischer, ästhetischer, didaktischer und in dieser letzteren Hinsicht wieder als mathematischer, philosophischer, der in dem Schulunterricht nur durch die Form der Sprache rein, sonst immer historisch-philosophisch ist, auf die Hauptfunktionen seines Wesens.“(7) Die dem griechischen „gymnasion“ entlehnte „gymnastische“ Bildung soll diesen ganzheitlich anthropologischen Ansatz unterstreichen und besaß in den Ritterakademien und Philanthropinen, nicht aber in den Lateinschulen ein Pendant. Das „Allgemeine“ bei Humboldt bezieht sich auf eine standesunspezifische Bildung für alle, auf eine berufsunabhängige Menschenbildung und auf die allgemeine, d.h. besonders auch formale Entfaltung aller personalen Kräfte.

Das Kernstück, wenn auch nicht der einzige(8) Inhalt des gymnasialen Unterrichts bei Humboldt ist freilich die intensive existenzbezogene Beschäftigung mit der Antike und den Alten Sprachen, da sich in ihnen der ganzheitliche idealistische Bildungsansatz idealtypisch abbilden und umsetzen lasse. Das Hauptcharakteristikum des Humboldtschen Curriculums bleibt also die am humanistischen Bildungsprinzip orientierte Konzentration der Unterrichtsbereiche. Humboldt wendet sich mit seiner Konzeption einerseits gegen den von Niethammer, Thiersch, Ast, Evers und Passow verkörperten philologischen, strikt „antirealistischen“ Humanismus.(9) Die Vertreter dieser neuhumanistischen Spielart konzipierten deutlich einseitiger als Humboldt das Gymnasium als Altsprachenschule(10) und stellten den philosophischen Wissenschafts- und Weltbezug, der für Humboldts Bildungsverständnis konstitutiv war, zurück. Andererseits folgt Humboldt auch nicht realistisch beeinflussten neuhumanistischen Kompromisspositionen, wie sie etwa von Hegel und Schleiermacher vorgetragen wurden.

 
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Dem von den Philanthropinen und Ritterakademien intendierten Austausch des humanistischen Prinzips durch eine realistisch-zweckorientierte Konzeption bzw. der Synthese dieser Prinzipien im Sinne eines utraquistischen Enzyklopädismus kann Humboldt allerdings auch nicht folgen. Es geht ihm um eine Modifikation des althumanistischen Prinzips, wie es ihm in den real existierenden Latein- und Gelehrtenschulen seiner Zeit vor Augen steht. Auch ist bei ihm bereits der Gedanke der curricularen Individualisierung, also der Möglichkeit zur persönlichen Schwerpunktsetzung angedeutet.(11)

Das anthropologische Leitbild Humboldts ist der freie und sich seiner Individualität bewusste Mensch, der sich gerade nicht aus seiner Standes- bzw. Berufszugehörigkeit, sondern aus seinem durch allgemeine Menschenbildung befördertes Menschsein schlechthin definiert. Weder der als epigonal, blutleer-gelehrt, dogmatisch und katechetisch-geistlos kritisierte Klassizismus der Lateinschulen, noch die pragmatischen und gesellschaftsbezogenen Konzepte der Ritterakademien oder Philanthropine entsprechen diesem neuhumanistisch-idealistischen Bildungsverständnis.

Im Sinne einer allgemeinen Menschenbildung, die ihre Ursprünge bei Rousseau(12) hat bzw. hinsichtlich ihrer Konkretion als Nationalerziehung in den Ideen der Französischen Revolution wurzelt, geht er von einem horizontal strukturierten Bildungswesen aus. Der gymnasiale Schulunterricht ist somit in einen Systemzusammenhang eingebunden: Das Gymnasium als Einheitsschule schafft die Voraussetzungen für den Besuch der Universität(13), indem der Schüler das „Lernen lernt“ und durch zunehmende Selbstständigkeit immer weniger eines Lehrers bedarf. Auf der Universität ist der Unterschied von Lehrenden und Lernenden im gemeinsamem Forschen aufgehoben; Unterricht im schulischen Sinne findet nicht mehr statt. Die Idee des Gymnasiums repräsentiert im Bildungssystem die Stufe des Unterrichts und ist insofern in sich autonom und abgeschlossen. Gleichzeitig ist diese Gymnasialidee auf die Idee der Universität(14) bezogen, wo der personale Bildungs- und organische „Reife“prozess seinen Abschluss finden soll.(15)

Soweit zu Humboldt. Schon innerhalb der neuhumanistischen Bildungsbewegung existierten, wie bereits angedeutet, Konzeptionen, die realistische Positionen teilweise rezipierten. Was heißt nun überhaupt „Realismus“? Folgende identitätsbildende Kennzeichen des Realismus, die vice versa auch Niethammers klassisch gewordenes Verständnis von Humanismus(16) definieren, können in aller Vereinfachung stichpunktartig festgehalten werden: Vorrang einer praktischen Welt- vor einer Ideenorientierung, Vorrang einer Gegenwarts- und Zukunftsorientierung vor einer Traditionsorientierung, zeitlicher und sachlicher Vorrang einer Berufs- und Qualifikationsorientierung (Bildung als Mittel) vor einer allgemeinen menschenbildenden Orientierung (Bildung als Zweck) und in curricularer Hinsicht einerseits der Vorrang der realia (Sachbezüge) vor den humaniora (Sprachen, Philosophie, Mathematik), andererseits der Vorrang eines materialen vor einem formalen Bildungsbegriff, also der Vorrang einer enzyklopädischen Addition von Kenntnissen vor konzentrierter Vertiefung im Sinne des multum non multa.

 

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Am Beispiel der Gymnasialkonzeptionen Hegels (a) und Schleiermachers (b) soll der Einfluss des Realismus auf in seinem Kern neuhumanistisches Gedankengut verdeutlicht werden.

(a) So konkretisierte sich Hegels bildungstheoretisches Denken in einem materialen und utraquistischen Curriculum, das neben den von ihm hochgeschätzten antikebezogenen philosophisch-philologischen humaniora stärker als bei Humboldt die welt- und gegenwartsorientierten realia einbezog.(17) In den Spannungen und dialektischen Fortschrittsbewegungen der Geschichte mit all ihren kulturellen, politischen, ökonomischen, künstlerischen, wissenschaftlichen oder philosophischen Ausprägungen finde der „objektive Geist“ zu sich selbst, um sich in der etatistischen Perspektive Hegels schließlich in der „Objektivation“ des preußischen Staates zu „verabsolutieren“ und so zu einem End- bzw. Höhepunkt zu kommen. Der „objektive Geist“ manifestiert sich nach Hegel demnach in allen Bereichen dieser Welt, so dass ein möglichst umfassend angelegter Kanon der Unterrichtsinhalte diese so vollständig wie nur möglich abbilden solle. Freilich sollten die Alten Sprachen weiterhin als curriculares Kernstück(18) fungieren: „Dies zusammen, das Studium der Alten in ihrer eigentümlichen Sprache und das grammatische Studium, macht die Grundzüge des Prinzips aus, welches unsere Anstalt charakterisiert. [...] Außerdem [...] befasst die Anstalt auch den Unterricht ferner der Kenntnisse, die einen Wert an und für sich haben, von besonderer Nützlichkeit oder auch eine Zierde sind. [...] Diese Gegenstände sind also im allgemeinen Religionsunterricht, deutsche Sprache nebst Bekanntmachung mit den vaterländischen Klassikern, Arithmetik, späterhin Algebra, Geometrie, Geographie, Physiographie, welche die Kosmographie, Naturgeschichte und Physik in sich begreift, philosophische Vorbereitungswissenschaften; ferner französische, auch für die künftigen Theologen hebräische Sprache, Zeichnen und Kalligraphie.“(18) Gerade die materiale Summe der Herausbildungen des „objektiven Geistes“ befördere den Bildungsprozess des „subjektiven Geistes“, d.h. des Individuums, indem sie ihn über die schon von Platon freilich unter anderen philosophischen Prämissen beschriebene „Entfremdung“(20), also der heuristisch fruchtbaren Distanzierung von sich selbst zur „Objektivierung“ begrifflichen Denkens anregt. Der gymnasiale Unterricht soll durch seine „wissenschaftliche“ Bildung in besonderer Weise „Entfremdung“ und abstrahierende Begrifflichkeit im Sinne einer Erziehung zur Sittlichkeit befördern. So soll auch ein Bewusstsein für die Manifestationen des ewigen, geschichtsenthobenen „absoluten Geistes“, nämlich den „Idealen“ der Kunst, dem „Glauben“ der Religion und, als Höhepunkt, den in der Philosophie auf den Begriff gebrachten „Ideen“, gewonnen werden.

 

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Das Gymnasium war für Hegel ganz anders als bei Humboldt eine sozial- und begabungsdifferenzierende elitäre Spezialschule zur Vorbereitung auf die Ausübung höherer Berufe, insbesondere für den höheren Staats- und Kirchendienst, und implizierte nicht nur in curricularer, sondern auch in schultheoretischer Hinsicht ein gesellschaftsbezogenes, utilitaristisches und damit „realistisches“ Element: „Indem eine Gymnasialanstalt als eine Spezialschule der Vorbereitung zur höheren wissenschaftlichen und geistigen Bildung anzusehen ist, so erhält sie einen eigenen Ton für all ihre Lehrgegenstände.“(21) Hegel plädiert also nicht für ein Einheitsschulwesen, sondern für ein gegliedertes Schulwesen. Das Gymnasium gewinnt seine Identität angesichts der Tatsache, dass „die Volksschule für die ‚allgemeine Bürgerbildung’ und die Realinstitute für ‚das Studium und die Erwerbung höherer geistiger und nützlicher Fertigkeiten in ihrer Unabhängigkeit von der alten Literatur’ ausgebaut worden sind“(22). Gymnasien hingegen sind gerade auch wegen ihres Altsprachenbezuges „vornehmlich Pflanzstätten für Staatsdiener; sie sind der Regierung dafür Verantwortung schuldig, ihr nicht unbrauchbare zuzuführen, so wie sie es den Eltern schuldig sind, ihnen nicht unbegründete Hoffnung zu machen, welche sich ohnehin in der Folge widerlegen und nur vergebliche Kosten, Versäumnis einer zweckmäßigeren Bildung nach sich gezogen haben würden.“(23)

(b) Ich komme zu Schleiermacher als zweitem Beispiel für eine realistische Modifikation neuhumanistischen Gedankenguts. Auch Schleiermacher plädierte in noch stärkerem Umfang als Hegel oder gar Humboldt für die Umsetzung realistischer Bildungsgehalte im gymnasialen Lehrplan. Er teilte aber mit Humboldt neben dem Gedanken allgemeiner Menschenbildung weitgehend dessen Universitätsidee mit ihrem idealistischen, philosophisch bestimmten und einheitsorientierten Wissenschafts- und Bildungsbegriff.(24) So bezog er in seinen Reformüberlegungen die Idee der gymnasialen „Gelehrtenschule“ über ihre „wissenschaftspropädeutische“ Funktion auf die Institution der Universität, die den Bildungsprozess vollenden sollte. Er ging aber bei seinen Vorschlägen nicht von einem einseitig zeitlosen, apriorischen und spekulativen Bildungsideal aus, sondern vermittelte diese transzendente Bildungskomponente mit Hilfe der ihm eigenen dialektischen Methode stärker als Humboldt und Hegel mit der empirischen, also geschichts- und erfahrungsbezogenen Lebenspraxis, die in sich selbst legitimiert sei.

Die Erziehung und somit auch das Gymnasium solle in einer dialektischen Verschränkung das Verhältnis von Welt und Individuum ausgleichen: „Die Erziehung setzt den Menschen in die Welt, insofern sie die Welt in ihn hineinsetzt, und sie macht ihn die Welt gestalten, insofern sie ihn durch die Welt lässt gestaltet werden.“(25) Im Zuge dieser zweiseitigen Ausrichtung versucht er, auch den Qualifikationsbedürfnissen von Staat und Gesellschaft, der gestiegenen Bedeutung der Naturwissenschaften, den modernen Fremdsprachen, der Geschichte, Geographie und Politik bildungstheoretisch und curricular Rechnung zu tragen.(26)

 

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Die Gelehrtenschule des Gymnasiums  ist nach Schleiermacher wie bei Hegel eine spezifische Schule der künftig Leitenden und in ein differenziertes Schulsystem(27) eingeordnet, während Humboldt von einem Einheitsschulsystem ausging: „Wir schließen uns an das Frühere an, dass aus dieser Bildungsstufe diejenigen hervorgehen sollen, die dazu geeignet und bestimmt sind, in der Generation, der sie angehören als Leitende aufzutreten, und zwar in den verschiedenen Lebensbeziehungen, im bürgerlichen Leben, in der Wissenschaft und der Tradition der Kenntnisse, und in der Kirche.“(28) Doch separiert er das Gymnasium weniger stark als Hegel von den Realschulen. So macht er hinsichtlich des Wissenschaftsbezuges und der Klientel zwischen Realschulen und Gymnasien keinen prinzipiellen, sondern einen lediglich pragmatischen Unterschied und kann sich unter bestimmten Bedingungen sogar eine „Zusammenziehung“ beider Schulformen vorstellen(29), zumal der Stellenwert der Alten Sprachen bei Schleiermacher im Vergleich zu Hegel und Humboldt deutlich geringer ausgeprägt ist.(30) Schleiermacher sieht im Gymnasium gerade keine „Spezialschule“ für Philologen, sondern eine Schule zur Vermittlung einer Universalbildung, die auch in den realia ihren Niederschlag findet: „Wir haben in philologischer Hinsicht auf der einen Seite mäßigere Forderungen gestellt als die gewöhnliche Praxis, auf der anderen haben wir diese Forderungen gesteigert; und zumal in Beziehung auf die Real-Wissenschaften und die Muttersprache sind wir mit unseren Anforderungen über das gewöhnliche Ziel hinausgegangen. Es leitete uns dabei die Idee, dass die Universalbildung eine größere Ausdehnung gewinnen müsse. [...] Indem wir aber so von der Universalität ausgingen, mussten wir alles, was den Schulen irgendwie den Charakter von Spezialschulen geben könnte, ausscheiden suchen.“(31)

Philosophisch-theologisch letztbegründet wird das pädagogische Handeln bei Schleiermacher durch die nicht auf gesellschaftliche Zwecke zu reduzierende oder historisch zu relativierende „Idee des Guten“, die zwar über die Wirklichkeit geschichtlichen Lebens vermittelt wird, letztlich aber hinsichtlich ihres Gültigkeitsanspruchs und ihrer inhaltlichen Ausformung in Gott gegründet ist.(32) So besitzt der Mensch „ein lebendiges inneres Bewusstsein von der Wahrheit allen Strebens, die sittlichen Gemeinschaften zu gestalten gemäß der Idee des Guten.“(33) Dieser ethische archimedische Punkt steht also quer zu einer rein utilitaristischen staats- und berufsbezogenen Verkürzung des Bildungsbegriffs im Sinne aufklärerischer „Realisten“, so dass sich die Position Schleiermachers in ihrem dialektisch-synthetischen Charakter gerade durch ihre Integration idealistischer, humanistischer(34), realistischer und christlicher Einflussfaktoren auszeichnet.

 

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II. Historische Stationen der Humanismusdiskussion

Die neuhumanistischen Reformansätze wurden, wie bereits erwähnt, schon von Anfang an aufgrund staatsbürokratischer, christlich-ständischer, realistischer und romantisch-nationaler Konkurrenzeinflüsse in ihrer Bedeutung für die gymnasiale Schulwirklichkeit relativiert. Besonders in der Kaiserzeit mutierte das humanistische Prinzip unter den Einflüssen eines historistisch-positivistischen Wissenschaftsverständnisses und konservativer gesellschaftlicher Einflussfaktoren in der gymnasialen Praxis zu einem epigonal-philologischen Klassizismus und stand im Abwehrkampf gegen den sich zunehmend emanzipierenden Realismus. Daneben kam es vor allem im Wilhelminismus unter (neo-)ständischen und nationalen Vorzeichen teilweise in Verbindung mit realistischem Gedankengut zu Tendenzen einer imperialen und aggressiven Politisierung des Gymnasiums, die allerdings von humanistischer Seite weitgehend auf Widerstände stießen.

Das realistische Bildungsprinzip konnte sich gegenüber dem bis dahin vorherrschenden Humanismus endgültig emanzipieren, als im Jahre 1900 das Gymnasialmonopol aufgebrochen wurde und auch Realgymnasien bzw. Oberrealschulen die allgemeine Hochschulreife verleihen durften. Gleichzeitig existierten aber im Bereich der Realgymnasien bildungstheoretische Bestrebungen, den antikebezogenen Humanismus als „modernen“ Humanismus curricular auch auf die modernen Fremdsprachen zu beziehen.

Angesichts des krisenhaften Legitimationsverlustes des humanistischen Prinzips in der Weimarer Republik wurde unter dem Etikett des von Lebensphilosophie und Neuidealismus geprägten antihistoristischen Dritten Humanismus in Zusammenarbeit mit führenden Pädagogen der geisteswissenschaftlichen Schule (Spranger, Flitner) eine existentielle Wiederbelebung versucht. Diese auf die autoritär konnotierte Platonische Staatsphilosophie, aber auch auf die Weimarer Klassik ausgerichtete Konzeption wirkte erfolgreich auf den gymnasialen altsprachlichen Unterricht ein, ohne aber das nun typologisch hochdifferenzierte Gymnasium als Ganzes prägen zu können.

Nach der Bekämpfung bzw. der heroischen Uminterpretation von Antike und Humanismus in der Zeit des Nationalsozialismus kam es nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge einer Neukonstituierung des nationalen kulturellen Selbstbewusstseins zu einer kurzen Renaissance des altsprachlich orientierten Humanismusgedankens. Dieser wurde durch historisch-hermeneutische und idealistische Argumentationsmuster neu begründet bzw. mit den Traditionen der Weimarer Klassik, des Christentums und eines kulturell bestimmten Europagedankens verbunden. Gleichzeitig wurde der Humanismusbegriff aber auch realistisch in seinem Bedeutungsgehalt ausgedehnt, so dass er auch für die neuen Tendenzen der damaligen bildungstheoretischen und gesamtgesellschaftlichen Diskussion anschlussfähig wurde.

Zu dieser Zeit begann sehr zum Leidwesen der antikebezogenen Humanisten auch auf anderen Ebenen eine Ausweitung des Begriffs, die in Ansätzen freilich auch schon in der Weimarer Republik zu beobachten war. So wurde der Humanismusbegriff im Kontext der Menschenrechtstradition politisiert, auf den Menschenwürdebegriff hin ausgerichtet und existentialisiert oder als kleinster gemeinsamer Nenner aller „regionalen Humanismen“ synkretistisch globalisiert. Ein weiteres Zeichen für eine im Vergleich zum Humanismusverständnis Niethammers zunehmend unspezifische Verwendung des Begriffs zeigt sich daran, dass nun auch beispielsweise Aufklärung und Christentum in toto als humanistisch gekennzeichnet werden konnten.

 

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Gleichzeitig setzte aber schon direkt nach dem Krieg eine bis heute fortdauernde moralisch, wissenschaftsmethodisch und grundsätzlich weltanschaulich motivierte Humanismuskritik ein. Diese Vorbehalte gegen den Humanismus wurden zum Beispiel im Rahmen der Pädagogik von dialektisch-theologischer bzw. existentialistischer Seite und verstärkt ab Mitte der 60er Jahre von den Verfechtern der in sich durchaus differenzierten sog. „Realistischen Wende“ vorgetragen. Auch im Bereich der Philosophie wurde schon kurz nach dem Krieg aus ontologischen Gründen von Heidegger der herkömmliche, nach dessen Terminologie „metaphysische“ Humanismus angegriffen und „fundamentalontologisch“ überboten. Nicht immer mündete die inhaltliche Humanismuskritik in eine terminologische Abwendung von diesem Begriff. So verstanden sich auch der klassische Marxismus oder Teile des französischen und deutschen Neomarxismus, des angelsächsischen Pragmatismus oder des Existentialismus und Strukturalismus als Propagandisten eines neuen beispielsweise sozial engagierten (Sartre) oder kämpferisch-heroischen Humanismus (Camus). Ein so verstandener Humanismus definierte sich über eine anthropologische Kritik an den mehr oder wenig polemisch diagnostizierten gesellschaftlichen Deformationen, die mit dem herkömmlichen Humanismusverständnis einhergingen. Auf die humanistische Praxis des Gymnasiums wirkten sich diese zuletzt genannten Transformationen bzw. Erschütterungen des herkömmlichen Humanismusbegriffes allerdings kaum aus.

Im gymnasialen Bereich wurden von den Kritikern eines humanistischen Bildungsbegriffs vor allem folgende Aspekte vorgetragen:
- Seine elitäre, meritokratische und sozialselektive Funktion,
- seine gesellschaftskonservative Grundhaltung,
- seine dogmatisch-normative Struktur,
- sein anthropologischer Optimismus,
- sein anachronistisches Festhalten an einem idealistisch geprägten, als diffus empfundenen Allgemeinbildungsbegriff in einer zunehmend qualifikationsorientierten und berufsspezialisierten Welt,

 

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- sein realistisches Defizit angesichts einer zunehmend von Technik und Naturwissenschaften geprägten Zeit,
- seine aufgrund des spezifisch antiken bzw. europäischen Traditionsbezugs mangelnde Globalisierungskompatibilität,
- seine anthropozentrisch motivierte Ökologievergessenheit,
- sein u.a. auch pädagogisches Versagen in der Zeit des Nationalsozialismus, da aus ihm aufgrund seiner harmonistischen, ästhetizistischen, quietistischen und individualistischen Implikationen keine widerstandsbegründenden Kategorien abzuleiten gewesen seien.

Nicht zuletzt wegen dieser vielfältigen Angriffspunkte wurde der schul- und antikebezogene Humanismus seit den 60er Jahren immer mehr von einem gymnasialen Leitprinzip zu einer apologetischen fachdidaktischen Begründungskategorie für die Bedeutung der Alten Sprachen depotenziert und auch hauptsächlich in diesem begrenzten Binnenraum diskutiert. Die akademische Klassische Philologie beschränkte sich als historisch-literarische Einzelwissenschaft darauf, den Anschluss an die internationale Forschungsentwicklung zu halten, und trug nur in Einzelfällen zu einer Neubegründung humanistischer Schulbildung bei.

Diesen bildungstheoretischen und infolgedessen auch curricularen Bedeutungsverlust für die ideelle Konstitution des Gymnasiums teilte das Humanismuskonzept mit dem christlichen Sinngebungsprinzip, das zumindest im nicht kirchlich getragenen Schulwesen mehr oder weniger in seinem Wirkungsbereich auf den Religionsunterricht und dessen fachdidaktische Legitimation eingeschränkt wurde. Auch das nationale Bildungskonzept wurde für das Gymnasium entsprechend der gesamtgesellschaftlichen Diskussionslage nach seiner endgültigen Desavouierung durch die Gräuel des Nationalsozialismus nach dem Krieg fast bedeutungslos und durch eine europäische Ausrichtung ersetzt. Neben seiner politischen Komponente im Hinblick auf die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden ersten Ansätze zu einer europäischen Einigung verband sich der Europäismus noch mit kulturbezogenen humanistischen oder christlichen Gedankenkreisen. Diese humanistisch-christliche Komponente spielte in der Folgezeit eine immer geringere Rolle. Im Zuge einer auf Berufsqualifikationen ausgerichteten „Realismusorientierung“ des Europagedankens wurde dieser vielmehr paradoxerweise zunehmend globalisiert und hinsichtlich seiner spezifisch europäischen Identität entkonturiert. Schon allein diese Tatsache dokumentiert wie auch die gesamte heutige schul- und gymnasialpädagogische Reformdiskussion in Inhalt und Form die fast vollständige Dominanz des realistischen Sinngebungskonzepts.

 

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III. Zur gegenwärtigen Situation

 Der Kontext der gegenwärtigen Humanismusdiskussion ist durch im weitesten Sinne des Wortes realistische Strömungen geprägt, die allerdings von schwierig zu strukturierenden Pluralisierungs- und Synthetisierungstendenzen bestimmt sind. Zumindest im öffentlichen, aber auch im akademischen Diskurs scheinen eine grundsätzliche geschichts-, system- und ideenbezogene bildungstheoretische Reflexion zugunsten empirisch-funktionaler Effizienzüberlegungen, internationaler Vergleichsperspektiven (PISA!) und instrumentell-„postideologischer“ Handlungsorientierungen zurückzutreten. Obwohl der Humanismus angesichts der hier aufgezeigten Geschichte seines Bedeutungsverlustes gegenwärtig sicherlich nicht den bildungstheoretischen oder gymnasialpädagogischen Diskurs bestimmt, ist er trotz seiner vielbehaupteten Unzeitgemäßheit durchaus präsent und keineswegs auf eine Aufarbeitung historischer Humanismusformen oder fachdidaktischer Perspektiven beschränkt. Der Versuch, klassischen, zumindest teilweise auch berechtigten Kritikpunkten an historischen Formen des Humanismus durch humanistische Neuformulierungen zu begegnen, ist bei fast allen gegenwärtigen Konzeptionen unverkennbar. Gleichzeitig erschließen sich für den Humanismus neue Themenfelder. So werden beispielsweise Städtebau, Medizin, pädagogisch-psychologische Therapie, Musik, außereuropäische Kulturen, global-sozialökologische Fragen, gesellschaftliche Probleme wie Frauen- oder Minderheitenfragen und nicht zuletzt Computer- und Netzwerkphilosophie unter humanistischer Perspektive beleuchtet. Die seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Tendenz zur Ausweitung des Humanismusbegriffs lässt sich an diesen Beispielen deutlich ablesen.

Neben diesen Tendenzen, den Humanismusbegriff in Bezug auf neue Themenfelder und Inhaltsebenen auszudehnen, werden weiterhin im allgemein bildungstheoretischen und gymnasialpädagogischen bzw. fachdidaktischen Bereich eher klassisch geprägte oder auch zwischen den Polen vermittelnde integrative Humanismuskonzeptionen diskutiert. So ergibt sich in der heutigen Humanismusdiskussion ein breites Spektrum, das von sehr konservativen Ansätzen, die an den Humanismusdiskurs der 50er Jahre erinnern bis hin zu sehr weit gefassten, auf Aktualität und Anschlussfähigkeit ausgerichteten Ansätzen reicht, den Humanismusbegriff zu deuten.

Die spezifisch gymnasialbezogene Humanismusdiskussion besitzt ihren „Sitz im Leben“ einerseits im Bereich der Fachdidaktik der Alten Sprachen. Den Legitimationsdiskurs der altsprachlichen Fächer will ich hier ausklammern, da er Ihnen doch weitestgehend vertraut ist. Andererseits wird aber durchaus auch heute noch die Frage diskutiert, inwieweit das Gymnasium als solches wie in seiner Gründungsphase als genuin humanistisches Gymnasium verstanden werden kann.

 

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Ich will mit den pädagogischen Konzeptionen von Borucki(35) und Liebau(36)  exemplarisch zwei sehr unterschiedliche Versuche herausgreifen, den Humanismus als umfassende Begründungskonzeption für das Gymnasium als solches zu positionieren. Borucki vertritt in populärwissenschaftlicher Form sehr engagiert das dezidiert konservative Konzept eines christlich-abendländischen Humanismus bzw. eines traditions-, kultur- und anspruchsbezogenen Gymnasiums. Mit diesem Ansatz steht er in der Tradition entsprechender meist katholisch geprägter Positionen aus den 50er Jahren. Borucki argumentiert in seiner apologetischen Streitschrift nicht als analytisch-kritischer oder hermeneutisch-einfühlender Wissenschaftler, sondern als Altertumshumanist, Christ und engagiert handlungsorientierter Erzieher in der schulischen Praxis, der, gerüstet mit vielfältigen Traditions- und Autoritätenbeweisen, bekenntnishaft gegen den von ihm konstatierten Niedergang des traditionellen standesbewussten humanistisch-christlichen Gymnasiums und der abendländischen Kultur ankämpft. Das „Gymnasium in neuer Zeit“ soll sich als Renaissance des traditionellen Gymnasiums manifestieren. Historische Bezüge wie der Humanismus oder der Europagedanke werden affirmativ, einlinig und schlaglichtartig auf dieses Argumentationsziel hin ausgerichtet und nicht problemorientiert in ihrer Polyvalenz entfaltet. Diese unauktoriale emotionale Betroffenheit manifestiert sich auch in der weniger theoretisch-systematischen, denn assoziativen und reihenden Gliederung des Buches bzw. in seiner thesenhaften Diktion.

Liebau hingegen geht von einem weiten pragmatisch-gesellschaftsbezogenen, sozialpädagogisch und postmodern-ästhetisch imprägnierten Humanismusverständnis aus und öffnet unter diesen Prämissen das Gymnasium als „höhere Volksschule“ für bildungstheoretische Vorstellungen aus dem Bereich der Gesamtschule.(37) Liebau verankert sein pädagogisches Konzept der Teilhabe in einer großangelegten ideengeschichtlichen Konstruktion, welche die Pädagogik der Aufklärung, des Idealismus und der Romantik als einseitige Spezialisierungen eines integralen Konzepts des Renaissancehumanismus deutet. Hierbei fällt auf, dass er bei seinem Bezug auf den Renaissancehumanismus die identitätsstiftende Antikeorientierung dieser geistigen Bewegung nicht explizit rezipiert. Durch Anleihen aus der reformpädagogischen Tradition, insbesondere des amerikanischen Pragmatismus, aber auch des politischen Liberalismus und der ästhetisch colorierten Postmoderne will er das renaissancehumanistische Leitbild des „universalen Menschen“ aktualisieren und modernisieren. Der Bildungsbegriff wird hierbei ohne explizite Begriffsproblematisierung klassischen Bildungsersatzbegriffen wie „Kompetenz“ oder „Qualifikation“ an die Seite gestellt und ohne erkennbare Bedeutungsunterschiede nebeneinander benutzt. Auch dies entspricht den eklektisch-postmodernen Zügen von Liebaus Bildungskonzeption.

 

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Im Rahmen seiner Formel der „Kultivierung des Schulalltags“ ist es ihm ein besonderes Anliegen, die ästhetische und politisch-ethische Dimension der gymnasialen Bildung zu stärken. Letztlich trägt sein Gymnasialkonzept trotz aller Bemühung um Ausgewogenheit und Integralität deutlich pragmatisch-reformpädagogische und gesamtschulartige Tendenzen. Dies zeigt sich besonders an seiner Charakterisierung des Gymnasiums als demokratieadäquate „höhere Volksschule“, deren bildungstheoretisches Leitziel es sei, eine „grundlegende Allgemeinbildung“ zu vermitteln. Die Frage nach einem gymnasialpädagogischen Spezifikum von Bildung bleibt so bewusst offen.

 

IV. Ausblick

Um einen Ausblick in die Zukunft zu wagen: Die vielen Einzelbeiträge, die sich in unterschiedlichen akademischen Disziplinen historisch oder systematisch mit dem Humanismus beschäftigen, müssten im Sinne eines institutionell und gedanklich systematisierten Humanismusdiskurses stärker aufeinander bezogen sein, um auf einer gesicherten und konstruktiv-kritisch reflektierten historischen Basis eine zeitgemäße Humanismustheorie oder eine humanistisch grundgelegte Schul- bzw. Gymnasialkonzeption diskutieren und besser umsetzen zu können. Bereits bestehende Ansätze und Traditionen wären in diesem Sinne fortzuführen, auszubauen und noch enger miteinander zu vernetzen.(38) In einem zweiten Schritt könnte dann der Humanismus wieder zu einer breit rezipierten gymnasialen oder gar gesellschaftlich-anthropologischen Deutungskategorie aufgewertet werden, die dann weit über den fachdidaktischen Legitimationsdiskurs der Alten Sprachen hinausreicht.(39) Wer grundsätzlich an die Kluft von Theorie und Praxis erinnert, sei selbst daran erinnert, was Immanuel Kant in seiner Pädagogikvorlesung zu dieser Form des Theorie-Praxis-Problems zu sagen hatte: „Ein Entwurf zu einer Theorie der Erziehung ist ein herrliches Ideal, und es schadet nichts, wenn wir auch nicht gleich imstande sind, es zu realisieren. Man muss nur nicht gleich die Idee ... als einen schönen Traum verrufen, wenn auch Hindernisse bei ihrer Ausführung eintreten.“

 

PD Dr. Thomas Hubertus Kellner
Georg-Krauß-Str. 40
91056 Erlangen

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(1) Die folgenden Ausführungen geben in Kurzform Erkenntnisse wieder, die ich im Rahmen meiner Habilitationsschrift (Kellner Th. Das Gymnasium aus der bildungstheoretischen Perspektive des Humanismus, Historische Stationen im Überblick, gegenwärtige Entwicklungstendenzen, Anregungen zu einer kritisch-konstruktiven Neuformulierung, Würzburg 2005) erstmalig veröffentlicht habe; dort auch detaillierte problemgeschichtliche Analysen mit entsprechenden Originalbelegen. Der Text basiert auf dem gleichnamigen Vortrag, der auf dem Kongress 2008 des Deutschen Altphilologenverbandes in Göttingen gehalten wurde.

 

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(2) Im Folgenden kann auf die Forschungen Menzes verwiesen werden, der in seiner stupenden Quellenkenntnis das Humboldtbild von manch einseitiger Verzeichnung befreien konnte, vgl. hierzu Menze, C.: Bildung und Bildungswesen. Aufsätze zu ihrer Theorie und Geschichte. Hildesheimer Beiträge zu den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Studien – Texte – Entwürfe Bd. 13, hg. v. G. Leder et al. Hildesheim/New York 1980., vgl. auch die Darstellung bei Heldmann, der sich ebenfalls auf Menze bezieht (Menze, C.: Bildung und Bildungswesen. Aufsätze zu ihrer Theorie und Geschichte. Hildesheimer Beiträge zu den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Studien – Texte – Entwürfe Bd. 13, hg. v. G. Leder et al. Hildesheim/New York 1980,  S. 195-211 und S. 214-221).

(3) Vgl. Humboldt, W. v.: Ueber das Studium des Alterthums, und des griechischen insbesondere. In: Humboldt, W. v.: Werke in fünf Bänden Bd. II, hg. v. A. Flitner u. K. Giel. Darmstadt 1965, S. 1-24.

(4) Vgl. hierzu Winckelmann, J. J.: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Faksimile-Neudruck der 2. Aufl. Dresden 1756. Studien zur deutschen Kunstgeschichte. Baden-Baden 1962.

(5) Vgl. hierzu Sühl-Strohmenger, W.: Horizonte von Bildung und Allgemeinbildung. Der Bildungsbegriff der Gegenwart im Brennpunkt von Persönlichkeits-, Gesellschafts- und Wissenschaftsorientierung, Konsequenzen für das Verständnis von Allgemeinbildung heute und für die Lehrplangestaltung. Europäische Hochschulschriften, Reihe XI Pädagogik Bd. 205. Frankfurt a. M./Bern/New York/Nancy 1984, S. 42-45.

(6) Vgl. zu Humboldts Sprachphilosophie und ihrem Stellenwert in seinem bildungstheoretischen System Menze, C.: Sprechen, Verstehen, Antworten als anthropologische Grundphänomene in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts, in: Pädagogische Rundschau 1963 (17), S. 475-489, und Menze, C.: Sprechen, Denken, Bilden. Eine Erörterung zu Grundaspekten der Sprachtheorie Wilhelm von Humboldts, in: Pädagogische Rundschau 1978b (32), S. 829-844.

(7) Humboldt, W. v.: Litauischer Schulplan. In: Humboldt, W. v.: Werke in fünf Bänden Bd. IV, hg. v. A. Flitner u. K. Giel. Darmstadt 1965, S. 187-195, S. 189 (Litauischer Schulplan); vgl. aber auch den Königsberger Schulplan mit der Trias von linguistischem, mathematischem und historischem Unterricht (Humboldt, W. v.: Königsberger Schulplan. In: Humboldt, W. v.: Werke in fünf Bänden Bd. IV, hg. v. A. Flitner u. K. Giel. Darmstadt 1965b, S. 168-187, S. 170 u. S. 174).

(8) Humboldts Konzentrationsprinzip rechtfertigt also gerade nicht eine rein philologische Altsprachenschule. Vgl. hierzu Menze, C.: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Hannover 1975, S. 240ff., S. 357f. und S. 384ff..

(9) Vgl. zu dieser philologischen Richtung des Humanismus Paulsen, F.: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. 2 Bde. 3. Aufl. Berlin/Leipzig 1921, Bd. II, S. 210-247.

(10) Zum Verhältnis Humboldts zum Altsprachenunterricht vgl. Apel, H. J./Bittner, S.: Humanistische Schulbildung 1890-1945. Anspruch und Wirklichkeit der altertumskundlichen Unterrichtsfächer. Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, hg. v. C. Führ u. W. Mitter, Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung Bd. 55. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 7-9 mit entsprechenden Bezügen zu Menze.

(11) Vgl. Humboldt 1965, S. 174f. (Königsberger Schulplan).

(12) Vgl. hierzu differenziert und instruktiv Hansmann, O.: Jean-Jacques Rousseau. Basiswissen Pädagogik, Historische Pädagogik Bd. 1, hg. v. C. Lost u. C. Ritzi. Baltmannsweiler 2002, S. 27-37.

(13) Schon vor Humboldt führte allerdings der Weg zur Universität nicht über berufliche, sondern nur über eine wie auch immer verstandene allgemeine Bildung; vgl. hierzu Wolter, A.: Das Abitur. Eine bildungssoziologische Untersuchung zur Entstehung und Funktion der Reifeprüfung. Oldenburg 1987, S. 18-188.

(14) Zur sog. Klassischen Universitätsidee vgl. Schelsky, H.: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen. Düsseldorf 1971. sowie Wolter 1987, S. 216-230 mit reichhaltigen Literaturhinweisen.

(15) Diesen Aspekt betont zu einseitig Wolter, der die These vertritt, dass bei Humboldt die Gymnasialidee deduktiv aus der Universitätsidee abgeleitet werde; vgl. hierzu Wolter 1987, S. 205-224.

 

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(16) Vgl. hierzu Niethammer, I.: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus. Jena 1808.

(17) Vgl. zu Hegels Bildungstheorie u.a. Müller, K.: Tradition und Revolution. Sinndeutung Gymnasialer Bildung von Wilhelm von Humboldt bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. 1973., S. 50-68, und Habel, W.: Wissenschaftspropädeutik. Untersuchungen zur gymnasialen Bildungstheorie des 19. und 20. Jahrhunderts. Köln/Wien 1990., S. 20-82.

(18) Zu dieser anders als bei Humboldt formal und material begründeten Privilegierung der Alten Sprachen vgl. Hegel, G. W. F.: Gymnasialreden. Theorie Werkausgabe Bd.4. Frankfurt a. M. 1970., S. 317ff.; vgl. auch Habel 1990, S. 49-52 bzw. S. 66-67.

(19) Hegel 1970, S. 323f. (Gymnasialrede 1809).

(20) Vgl. hierzu auch die topische Humboldtsche Formel „Einsamkeit und Freiheit“ (Humboldt, W. v.: Bildung des Menschen in Schule und Universität. Hg. u. eingel. v. K. Püllen. Grundlagen und Grundfragen der Erziehung. Quellentexte für Seminar und Arbeitsgemeinschaft 4. Heidelberg 1964, S. 26).

(21) Hegel 1970, S. 392f. (Gymnasialrede 1810).

(22) Habel 1990, S. 59.

(23) Hegel 1970, S. 362 (Gymnasialrede 1813).

(24) Vgl. hierzu Wolter 1987, S. 205-243.

(25) Schleiermacher, F.: Pädagogische Schriften, hg. v. C. Platz. 3. Aufl. Langensalza 1902. S. 492.

(26) Zu Schleiermachers curricularen Vorstellungen vgl. Schleiermacher, F.: Pädagogische Schriften. 2 Bde. Hg. v. E. Weniger u. T. Schulze. Düsseldorf/München 1957, Bd. 1, S. 319ff.; vgl. hierzu Habel 1990, S. 53-57.

(27) Vgl. hierzu K. Müller 1973, S. 77.

(28) Schleiermacher 1957 Bd.1, S. 313.

(29) Vgl. hierzu Schleiermacher 1957 Bd. 1, S. 318.

(30) Zu dem prominenten, wenn auch im Vergleich mit Humboldt und Hegel geringeren Stellenwert des altsprachlichen Unterrichts bei Schleiermacher vgl. K. Müller 1973, S. 82-83.

(31) Schleiermacher 1957 Bd. I, S. 333.

(32) Vgl. hierzu K. Müller 1973, S. 68-74.

(33) Schleiermacher 1957 Bd. 1, S. 30.

(34) Allerdings wird die bildende Kraft der Alten Sprachen von Schleiermacher in seiner Spätphase stark eingeschränkt, vgl. hierzu K. Müller 1973, S. 83f..

(35) Vgl. hierzu Borucki, J.: Gymnasium in neuer Zeit. Würzburg 1980..

(36) Vgl. hierzu Liebau, E.: Allgemeinbildung als Laien- oder Bürgerbildung: eine Aufgabe für das Gymnasium? In: Liebau, E./Mack, W./Scheilke, C. (Hg.): Das Gymnasium. Alltag, Reform, Geschichte, Theorie. Grundlagentexte Pädagogik. Weinheim/München 1997, S. 281-302.  und Liebau, E.: Laien, Bürger, Lebenskünstler. Werteerziehung als Pädagogik der Teilhabe. In: Liebau, E./Schröer, A./Terlinden, R. (Hg.): Renaissance des Humanismus? Werteerziehung als Pädagogik der Teilhabe. Dokumentation zur Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing vom 19.-21. Februar 1999. Tutzinger Materialien 86. Tutzing 2000, S. 8-23.

(37) Vgl. zum Etikett „humanistisch“ für seine Position Liebau 1997, S. 281.

(38) Vgl. zu solchen Foren für humanistisches Gedankengut Buck A.: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. Freiburg/München 1987,  S. 463-473; vgl. auch die dankenswerte und fruchtbringende Initiative „Humanismus 96“, die in Basel von F. Geerk ins Leben gerufen wurde, oder diverse Stiftungen und Vereine zur Förderung der humanistischen Kultur und des humanistischen Gymnasialunterrichts (z.B. in Baden-Württemberg die Stiftung Humanismus heute oder in Bayern die Elisabeth-Saal-Stiftung bzw. der Deutsche Altphilologenverband und seine Publikation Forum Classicum).

(39) Vgl. zu einem solchen Versuch, eine humanistische Bildungstheorie systematisch in ihren Grundzügen zu formulieren und diese auf die Organisationsform, das Curriculum und die Didaktik des Gymnasiums exemplarisch zu beziehen Kellner, Th. 2005, S. 169-389.