zurück     |       |   Seite drucken    

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 46

Nikolaus Thurn

Das Studium neulateinischer Literatur im 21. Jahrhundert: Warum? Wozu? Wie?


Als ich Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts mein Studium der  Klassischen Philologie, genauer gesagt des Lateinischen, Altgriechischen und der Alten Geschichte, an der Universität Hamburg ein wenig "planlos" begann, geriet ich unversehens in einen Lektürekurs, der eine Schrift mit dem seltsamen Titel Nicolai Klimii Iter Subterraneum zum Gegenstand hatte. Ich hatte mich – die Ankündigungen, nicht aber deren Kommentierung lesend – schon über das "K" im Namen des Autoren gewundert, das ja bekanntlich abgesehen von Kalendae und Karthago im klassischen Latein nicht auftritt. Als ich dann bemerkte, dass es sich um einen Roman des dänischen Schriftstellers Ludvig Holberg aus dem Jahre 1741 handelte, in welchem der Protagonist Nils Klimt eine abenteuerliche Reise ins Innere der Erde und wieder zurück unternimmt, war es bereits zu spät, aus dem Lektürekurs ohne Gesichtsverlust wieder zu verschwinden - denn wir waren vielleicht fünf Studenten nur, eine verschwindend kleine Zahl für einen Kurs der 80er Jahre –; ich hatte aber gleichzeitig eine Spielwiese gefunden, die mich aus der manchmal doch recht drückenden Enge Ciceros, Caesars und Catulls ans Freie führte.

War in den 80er Jahren das Studium der neueren lateinischen Autoren noch außergewöhnlich, so ist heutzutage an jeder ernstzunehmenden Universität irgendein Latinist zu finden, der sich irgendwie einmal mit neulateinischen Studien beschäftigt hat und in der Lage ist, einen Autor des 16. Jahrhunderts mit seinen Studenten zu lesen, so als wären es die Catilinarischen Reden des Cicero. In vielen Studienplänen der Latinistik ist heute zumindest ein Kurs in Neulatein vorgesehen; und es gibt auch eine nicht geringe Zahl an Veröffentlichungen, die Texte etwa zur Entdeckung Amerikas, zur Beschreibung der Türkei oder zur jeweils regionalen, lateinischen Literatur für die Schule aufgearbeitet haben. Auch in der Romanistik, Germanistik und Anglistik kann man Kursen begegnen, die der Lektüre lateinischer Literatur der Renaissance und des Barock gewidmet sind. Und schließlich haben manche, ehemals Mittellateinische Seminare mit ihrem neuen Titel "Seminar für Mittel- und Neulatein" den Anspruch übernommen, neulateinische Literatur adäquat in ihre Ausbildung zu integrieren.

So wäre es eigentlich überflüssig, wenn ich Ihnen jetzt einmal mit ein paar falschen, aber gut zu merkenden, und ein paar richtigen, aber bald wieder vergessenen Angaben zu bestimmen versuche, was neulateinische Literatur ist und wie ihre Bedeutung innerhalb einerseits der Latinistik, andererseits der neuzeitlichen Literaturen einzuschätzen sei.

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 47
linie

Andererseits bekomme ich in der Praxis immer wieder von sonst guten Lateinstudenten zu hören, sogenanntes Neulatein wäre kein echtes, klassisches Latein, da Grammatik und Vokabular aus dem Mittelalter stammten – man würde sich damit nur das Sprachgefühl verderben; neulateinische Autoren seien ein Kuriosum und für die Weltliteratur - wenn man sie etwa mit den großen, zeitgleichen und italienischen Dichtern wie Dante und Petrarca vergliche – zu vernachlässigen; und schließlich, glücklicherweise aber nur sehr, sehr selten in diesem Jahrhundert: Wer als Deutscher, Italiener oder Franzose Latein schriebe, könne sich darin nie und nimmer so elegant und frei ausgedrückt haben, als er dies in seiner Muttersprache hätte tun können. Cicero dagegen habe sich ja in seiner Muttersprache ausgedrückt. Das alles – und noch viel mehr – ist so nicht korrekt: Die neulateinische Grammatik ist identisch mit jener der klassischen Antike – Neulatein ist kein Mittellatein, sondern teilweise schon hyperklassisch; der mittelalterliche Dante und der humanistische Petrarca schrieben nicht weniger elegant in Latein als in Italienisch, Petrarca gar hielt seine lateinischen Werke für seine eigentliche Leistung; und schließlich ist das Latein deutscher Autoren etwa des 16. Jh.s bei weitem eleganter als vielmals das Deutsch zeitgenössischer muttersprachlicher Texte.

Was also ist Neulatein? Eng verbunden ist dieser Begriff mit zwei anderen, ebenso unscharfen Begriffen: der Renaissance und des Humanismus. Man sollte sie allesamt nicht als fest definierte Bezeichnungen verwenden, sondern eher als "In-Etwa"-Beschreibungen. In etwa mit dem italienischen Dichter Petrarca begann Mitte des 14. Jh. eine literarische Bewegung, die – unzufrieden mit dem sprachlichen Mangel an Eleganz bei zeitgenössischen, lateinischen Werken – durch das Studium klassischer Autoren wie Cicero und Vergil die eigene Ausdrucksfähigkeit zu steigern versuchte: Man schrieb und sprach damals, ganz selbstverständlich, Latein auf der Universität, in der Kirche, im diplomatischen Verkehr und so weiter. Wer ein philosophisches, juristisches oder theologisches Werk veröffentlichte, tat dies in Latein, und wer dichtete, tat dies auch, und vor allem, auf Latein. Diese, von Einzelpersonen getragene Initiative, die ihr geistiges Zentrum zuerst im Norden Italiens, ganz besonders im Stadtstaat Florenz hatte, brachte mit sich die Suche nach verschollenen Handschriften berühmter antiker Schriftsteller, das Studium des Griechischen, die Imitation und Weiterentwicklung berühmter Werke der Antike, eine Modernisierung des lateinischen Schulunterrichtes, bis es schließlich zum guten Ton gehörte, wieder in klassischem Latein zu schreiben und etwa den AcI zu gebrauchen, und die Autoren des Mittelalters, die hier häufig einen quia- oder quod-Satz gebraucht hatten, weitgehend in Vergessenheit gerieten.

Um die Jahrhundertwende zum 16. Jh. überquerte diese Bewegung – in Gestalt von heimkehrenden Studenten – die Alpen und bestimmte mit wachsender Anzahl an der klassischen Literatur ausgebildeter Intellektueller bald das literarische Bild ganz Europas. Diesen philologischen Teil der Entwicklung nennt man gemeinhin Humanismus.

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 48
linie

Die Auswirkungen, die diese Entwicklung auch auf andere Gebiete – die Architektur, die Malerei, die staatliche Selbstdarstellung auf Festen – hatte, nennt man gewöhnlich Renaissance. Das ist aber nur eine grobe Abgrenzung, die im Detail völlig falsch ist. Ich persönlich verwende den Begriff Renaissance für die lateinische Literatur im Italien des 15. Jh.s im Unterschied zur lateinischen Literatur des 17. Jh.s, die ich Barock nenne, während ich die Literatur des 16. Jh. als humanistisch bezeichne. Das ist übrigens nicht weniger falsch. Aber: Renaissanceliteratur und Humanismus jedenfalls sind nur ein Teil des Neulateinischen; sie sind sozusagen seine historische Wurzel. Neulatein – ein eigentlich unschöner, fehlleitender Begriff, es sei denn, wir wollten das Latein Ciceros als Altlatein bezeichnen – beginnt mit der Literatur der Renaissance, endet aber nicht mit ihr, sondern ist eine Bezeichnung für lateinische Werke, die mit dem letzten Autor beendet sein wird, der ein Werk, sei es Dichtung oder Prosa, in klassischem Latein zu schreiben vermag.

Dennoch ist eine klare Entwicklung zu verzeichnen: Die Bedeutung neulateinischer Literatur für die literarische Entwicklung in Italien ist bis zum Ende des 15. Jh. übermächtig, um mit der Wende des 16. Jh. dem Italienischen zu weichen. Verbunden ist diese italienische Literatur auf Latein mit den Namen: Petrarca, Boccaccio, Poggio, Leonardo Bruni, Aeneas Piccolomini, Landino, Pontano. Ariost, ein eleganter Autor auch auf Latein, leitet mit seinem "Orlando Furioso" die Neuausrichtung auf eine vom Italienischen geprägte Literatur ein. Aber auch in Italien schreibt man später immer noch und selbstverständlich auf Latein, wenn man ein internationales Publikum ansprechen möchte. Im 16. Jh. ist humanistisches Latein die vornehmliche Sprache der Literatur in allen anderen, europäischen Ländern: Wenn man von einer französischen, deutschen, spanischen Literatur spricht, so müsste man hierbei von einer europäischen Literatur sprechen, nicht von einer neulateinischen. Jedes Land hat seine eigenen, bedeutenden Schriftsteller oder Dichter; orientiert man sich an den modernen Grenzen, so haben also: die Spanier Nebrija und Sepulveda, die Franzosen Du Bellay und Muret, die Niederländer und Belgier Johannes Secundus und Erasmus, die Deutschen Melanchthon und Petrus Lotichius, die Engländer und Schotten Thomas Morus und Buchanan, die Polen Sarbievski und die Ungarn Johannes Sambucus. Aber die heutigen Grenzen sind nicht die der damaligen Menschen, und sie alle empfanden sich als zugehörig zu ein und derselben Literatur: der europäischen, die jetzt allerdings auch auf jenen Kontinenten gepflegt wird, wo sich Europäer niedergelassen haben: in Amerika und Asien. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts – in einigen Ländern wie Frankreich früher, in anderen wie Ungarn später – wird Dichtung und Fiktion zunehmend von den Nationalsprachen gepflegt; auch wenn es noch bedeutende Werke auf Latein gibt wie die Romane des John Barclay, die pindarischen Oden des Paul Schede Melissus oder die Satiren des Jesuiten Jacob Balde, und auch wenn noch eine Unzahl an lateinischer Dichtung in allen Bereichen vom Epigramm bis zum Großepos verfasst wird, sind die bedeutenden lateinischen Vertreter des 17. Jahrhunderts vor allem Naturwissenschaftler wie Keppler und Galileo, Juristen wie Hugo Grotius, Philosophen wie Descartes, Spinoza und Leibniz.

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 49
linie

Und auch diese veröffentlichten nicht nur in Latein, sondern zunehmend auf Französisch. Noch während der Leipziger Messe im Jahre 1700 war das Verhältnis der lateinischen Angebote zu denen in allen anderen Sprachen zusammen 50 : 50, was heißt, dass derzeit bei weitem mehr Bücher auf Latein erschienen, als in einer der Nationalsprachen; aber in der Folgezeit nahm die Bedeutung des Lateinischen für die Literatur behende ab. Man kann überspitzt sagen, im Gleichschritt mit dem Bedeutungszuwachs nationalen Denkens schwand die europäische Literatur und machte den jeweiligen Nationalliteraturen Platz. Gegen diese Entwicklung stemmten sich natürlich vor allem die Vertreter kleinerer Sprachgemeinschaften. Das ungarische Parlament wehrte sich beispielsweise verzweifelt gegen die Einführung des Deutschen als Parlamentssprache und hielt am Lateinischen als offizieller Sprache bis 1844 fest. Auch gab es durchaus nennenswerte, belletristische Literatur auf Latein: Aus dem 18. Jh. kommen lateinische Romane wie Holbergs Nils Klimt oder Dugonics Argonautenroman Vellus Aureum. Im 19. Jh. allerdings ist ein bedeutender, nichtwissenschaftlicher Text auf Latein eine Seltenheit, auch wenn die ersten dichterischen Gehversuche Rimbauds auf Latein erfolgen, und auch wenn sich etwa auf den ehemaligen Kolonien Spaniens in Amerika geradezu in Auseinandersetzung mit der Sprache der Eroberer eine literarische Bewegung zur Wiederbelebung des Lateinischen aufmachte. Der letzte international berühmte Dichter in lateinischer Sprache heißt Giovanni Pascoli; seine Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen Poemata Christiana gelten unter Kennern als besser denn seine vielgelesene italienische Dichtung. Bis heute noch schreibt, ja dichtet man auf Latein; die Übersetzung Harrius Potter et Philosophi lapis erschien etwa im Jahre 2000; aus Finnland kommt eine Radiosendung in lateinischer Sprache und ich habe schon eine Reihe wissenschaftlicher Vorträge auf Latein gehört. Aber die wirkliche, literarische Bedeutung der neulateinischen Literatur liegt – zumindest gegenwärtig – in der Zeit zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert, als europäische Literatur im Wettstreit mit den nationalen.

Habe ich hier einen kurzen, belletristisch ausgerichteten und auch sehr oberflächlichen Überblick über die Geschichte der neulateinischen Literatur gegeben, so gilt es jetzt, eine Reihe von Missverständnissen aus dem Wege zu räumen, oder ehrlich gesagt von Irrtümern, die auf der lateinischen Literatur der Neuzeit lasten. Ich erwähnte schon, dass die Grammatik des Neulateinischen jene des Cicero, nicht die des Archipoeta ist. Das gilt auch, so seltsam es auf den ersten Blick scheint, für die Orthographie. In wissenschaftlichen Editionen findet man häufig neulateinische Texte in mittelalterlich anmutender Schreibweise, das haec etwa zu hec verballhornt, statt notitia etwa noticia geschrieben. Man muss sich dabei vergegenwärtigen, dass dies auch, aus der Position der Autoren, die Orthographie der Cicero-Texte gewesen ist, die sie zu lesen bekamen.

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 50
linie

Unsere gegenwärtigen Cicero-Texte und die antike Orthographie überhaupt ist das Ergebnis einer Reihe von, sozusagen, Rechtschreibreformen, die darauf zielten, den ursprünglichen orthographischen Bestand des Originaltextes zu rekonstruieren. Von dieser Reform allerdings werden, aus historisch korrekten Gründen, die neulateinischen Schriftsteller häufig ausgenommen: Sie schrieben ja wirklich so, wie wir es in ihren eigenen Handschriften lesen können. Das jedoch verzerrt heute ihr damaliges Verhältnis zur Sprache der Antike; und es ist eine gute Entwicklung, dass wenigstens für Schul- und Lesebücher die Rechtschreibung des neulateinischen Autors nach modern-antiken Regeln normiert wird. Ein weiterer, häufig zu lesender Irrtum ist besonders absurd: Man unterstellt der neulateinischen Literatur, seit ihrer Konstitution im 14. Jahrhundert keine Wandlung mitgemacht zu haben; mithin sei sie eine künstliche, nicht entwicklungsfähige, konstruierte Literatur ohne Anspruch auf Eigenständigkeit. Entstanden ist dieses Vorurteil durch die Oberflächlichkeit der Forscher: Man sah, dass die antiken Genera wie Elegie und Drama langsam wieder neuentstanden und dann aber, ohne Veränderung im Versmaß, bis in die Gegenwart fortgetrieben wurden; man sah, dass die Grammatik sich immer strenger an Cicero orientierte und, kaum dass man sein Maß erreicht hatte, keine Wandlung mehr möglich zu sein schien. Aber auch wenn dieser Befund, im Detail übrigens haltlos, aber grosso modo richtig sein dürfte, so lässt sich gewöhnlich sofort ein Werk aus dem 18. Jahrhundert ohne Kenntnis des Autors in die richtige Zeit einordnen und von einem Werk aus dem 16. Jahrhundert klar unterscheiden. Der Wandel in der Literatur wurde nicht bewirkt durch die äußere Form - Gattungen, Versmaß und Grammatik -, sondern durch die Art, mit der Sprache umzugehen, etwa der Neigung zu gesuchten, abgelegenen Gleichnissen im „barocken“ 17. Jahrhundert, während das 15. Jahrhundert noch Allerweltsgleichnisse bevorzugte. Entwickelt hat sich auch die Behandlung des Gegenstandes, und zwar parallel, mal inspirierend, mal beeinflusst von den Werken der Nationalsprachen: Barclays Satyricon aus dem beginnenden 17. Jh. ist ein Picaro- oder Schelmenroman seiner Zeit; Holbergs Nils Klimt (1741) ist aus Gullivers Reisen (1726) erklärbar; Dugonics' Vellus Aureum (1778) ist beeinflusst von Fénélons Télémaque (1699); mehr als untereinander sind sie verwandt mit den zeitgleich entstandenen Werken, und nicht weniger, als sie die Nationalliteratur beeinflusste, wurde die neulateinische Literatur von den jeweiligen Volksprachen selber beeinflusst. Und ein letzter Irrtum ist deswegen auszuräumen: Die lateinische Literatur der Renaissance war nicht ausschließlich ein Zwiegespräch mit der klassischen Antike Ciceros und Vergils. Der Kanon nachahmenswerter, antiker Autoren ging von Catull bis Claudian, von Ennius bis Hieronymus, umfasste also ganz selbstverständlich Autoren der Spätantike wie solche der augusteischen Klassik; und der Katalog gelesener Werke schloss solche des Mittelalters ein wie in besonderem Maße solche der jeweiligen Volkssprache: Alanus ab Insulis Anticlaudianus wie die Divina Commedia Dantes.

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 51
linie

Ein Großteil dieser Irrtümer sind Versteinerungen aus der Latinistik vom Anfang bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts, ja, sie gehen sogar zurück bis auf Burckhardts bahnbrechendes, hochlesbares und immer noch inspirierendes Werk Die Kultur der Renaissance von 1860. Tatsächlich hatte das 19. Jahrhundert durchaus viel an Sammelarbeit geleistet auch im Bereich des Neulateinischen; auch das 20. Jahrhundert fing – mit Namen wie Paul Oskar Kristeller und Georg Ellinger – vielversprechend für die neulateinische Forschung in Deutschland an – übrigens auch in anderen Ländern. Zerstört wurde dies alles bei uns durch die nationale und sozialistische Begeisterung der 30er Jahre – Ellinger etwa beging Selbstmord, Kristeller floh in die Vereinigten Staaten. In den 60er Jahren fanden sich, mit beispielsweise Harry Schnur und Manfred Fuhrmann, vereinzelte Befürworter neulateinischer Studien; aber wirklich bewegt hat sich, meiner persönlichen Einschätzung nach, erst etwas im Jahre 1971: dort fand der – vom damaligen Gräzisten Jozef IJsewijn initiierte – erste internationale, neulateinische Kongress in Leuwen statt. Die 1973 gegründete International Association for Neo-Latin-Studies, – oder in ihrem lateinischen Titel: die Societas Internationalis studiis Neolatinis provehendis –, tagte nunmehr dreijährig und wurde zum Podium einer immer mehr auch tatsächlich internationalen Forschergemeinschaft, die sichtbar von Treffen zu Treffen um ganze Landschaften erweitert wurde. Besonders eindrucksvoll fand ich den - von mir selbst beobachteten – Aufschwung der neulateinischen Studien in Spanien während der 90er Jahre sowie den gegenwärtigen Aufschwung in allen Staaten des europäischen Ostens, von Polen über Ungarn bis hin zur Ukraine. 1998 wurde dann auch die Neulateinische Gesellschaft in Deutschland initiiert und vereinte bei ihrer ersten Mitgliederversammlung 2003 vor allem Forscher der Latinistik mit Germanisten und Historikern der Frühen Neuzeit. In demselben Zeitraum, also von Beginn der 70er Jahre bis heute, wuchs die Zahl der neulateinischen Veröffentlichungen derart, dass in Bonn 1999 mit dem Neulateinischen Jahrbuch eine – neben den älteren Studia Lovaniensia – zweite, internationale Zeitschrift begonnen wurde, die sich ausschließlich der neuzeitlichen, lateinischen Literatur widmet. Gegenwärtig werden hierzulande eine ganze Reihe von Dissertationsvorhaben – zumeist Editionen – durchgeführt, die sich nicht nur mit deutschen, sondern auch vor allem mit italienischen Humanisten beschäftigen. Ganze Fachkongresse widmen sich neulateinischen Dichtern, die noch vor einigen Jahrzehnten fast unbekannt, in ihrer Bedeutung jedenfalls völlig falsch eingeschätzt waren: Pontano, Sannazaro, Marullo, alles süditalienische Dichter. Die Lektüre neulateinischer Texte ist an fast jeder Universität normal geworden, der Stoff hat Eingang in die Schultexte und, was noch wichtiger ist, auch in die Lektüre des realen Unterrichts gefunden.

Das ist die positive Seite. Es sollte aber die negative nicht übersehen werden: Die Arbeit an neulateinischen Texten ist, von der Karriere eines Forschers aus gesehen, eine Sackgasse; initiiert werden die Forschungen vor allem von Einzelpersonen, mit deren Wegfall auch die Forschungen verkümmern werden; Doktorarbeiten erscheinen wohl zahlreich, aber interessanterweise Habilitationen nicht.

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 52
linie

Auch hat sich die deutsche Teilnahme an internationalen Treffen durchaus als launenhaft erwiesen: Waren naturgemäß beim vorletzten Kongress in Bonn eine Reihe von Jungforschern aus Deutschland erschienen, so sind meiner Zählung nach beim diesjährigen Kongress in Budapest von 203 Vortragenden lediglich 9 Deutsche gewesen, eine internationale Präsenz von weniger als 5%! Auch habe ich von der Präsenz der Neulateinischen Gesellschaft, deren Mitglied ich ja bin, durchaus wenig mitbekommen, bis heute. Selbstverständlich erfassen diese Gesellschaften nur einen geringen Teil der tatsächlich neulateinisch tätigen Forscher; die bei weitem meisten arbeiten irgendwie vor sich hin und lassen sich nur gelegentlich sehen: Neulatein ist eine Forschung des Individuums, keine der Institutionen. Man kann aber keinesfalls von einem Durchbruch in der Forschung sprechen; meiner Einschätzung nach hinkt gerade Deutschland augenblicklich der internationalen Forschung geradezu peinlich hinterher; und auch woanders scheinen mir die Fortschritte zu sehr an das Wirken Einzelner gekoppelt, als dass sie notwendigerweise dauerhaft sein würden. Dennoch ist, vermutlich von der europäischen Einheit begünstigt, die Existenz einer europäischen Literatur in das Blickfeld aller daran beteiligten Philologien, der lateinischen wie der verschiedenen neueren Sprachen, gerückt und wird ihre Bedeutung mit immer weniger Widerwillen anerkannt.

Was sind nun die Aufgaben neulateinischer Forschung im 21. Jahrhundert, was ihre Perspektiven? Hierzu muss man sich zuerst einmal des Wertes neulateinischer Literatur bewusst werden, und zwar auf ganz elementarer Ebene. Ich habe ein paar Jahre in einigen Ländern verbracht, deren Sprache ich zunächst nicht hinreichend kannte und deren Literatur ich mir erst dort mühevoll und manchmal nicht hinlänglich erarbeiten musste. Da war es mir eine Hilfe, dass ich in jedem großen Bücherladen etwa in Pécs lateinische Gedichte des ungarischen Schriftstellers Michael Csokonai kaufen konnte, in Florenz Poggios Facetien, in Spanien Juan de Vilches Silven. Ich bin mir auch einigermaßen sicher, niemals das Polnische oder Tschechische erlernen zu müssen, und auch nur sehr unwahrscheinlich einmal nach Brasilien zu kommen. Trotzdem lese ich polnische, tschechische und brasilianische Schriftsteller ohne die Krücke einer Übersetzung, auf Latein eben, so wie sie schrieben. Der Wert neulateinischer Literatur liegt in ihrer Unmittelbarkeit: Aus ganz Europa kann man Autoren kennenlernen, ohne die europäischen Sprachen allesamt gelernt haben zu müssen. Das sollte für die Erziehung des gebildeten Europäers möglicherweise ein Argument sein.

Die erste Aufgabe neulateinischer Forschung ist es deswegen, überhaupt erst einmal diese lateinischen Texte wieder zugänglich zu machen. Sicherlich ist ein Teil, ein gewisser Kanon, schon seit dem 19. Jahrhundert ediert worden, aber der Großteil liegt nur in Drucken aus der jeweiligen Zeit vor, in wenigen Exemplaren und auch – wenn fotomechanisch nachgedruckt – schwer zu lesen, und ein nicht geringer Teil auch bedeutender Werke und Autoren ist bis heute nur handschriftlich überliefert erhalten. Wenn auch seit einiger Zeit nun schon diese editorische Arbeit forciert wurde, so bleibt immer noch ein immenser Berg an bis heute nicht aufgearbeitetem Material vor uns.

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 53
linie

Dass man aber lateinische Bücher zuhause lesen kann, ohne eine wissenschaftliche Bibliothek aufzusuchen oder gar zu verreisen, dafür sorgen gegenwärtig eine immer größere Anzahl von Online-Bibliotheken, gerade für die lateinische Literatur: Es gibt eine Online-Bibliographie von Dana Sutton (suche: „nltexts“), bei der man nur den Namen des gewünschten Schriftstellers suchen muss, dann – unter bisher 19.960 Vermerken – das gewünschte Werk, und mit einem Klick wird man verwiesen auf die jeweilige Seite, auf der im Internet sei es eine photographische Wiedergabe, eine Edition oder auch nur eine einfache, noch fehlerhafte Abschrift des Werkes zu finden ist. Für den deutschen Raum noch bequemer ist das Projekt CAMENA, ursprünglich in Mannheim entstanden und dann nach Heidelberg umgesiedelt: Es sammelt in Abschrift und eingescannter Fotokopie eine Vielzahl deutscher Dichter des Neulateinischen – 100 Autoren mit vollständigen Werken, 156 Autoren in Auswahl, 60.000 Seiten, und gegenwärtig werden dort auch Geschichtsschreiber bearbeitet – 65 Autoren auf 48.000 Seiten. Man gibt Camena bei google ein, lässt sich weiterleiten und kann zumeist wählen zwischen fotographischer Wiedergabe der alten Ausgabe oder – fehlerhafter, aber schnell auszudruckender – Abschrift. Aufgabe der Zukunft ist es also, den Bestand an online verfügbaren Texten international so weit wie möglich auszudehnen; denn noch unzählige Autoren sind seit ihrem Erstdruck im 16. Jahrhundert in den Bibliotheken ungelesen verblieben, und Camena etwa bietet nur eine schmale Auswahl. Das Internet macht sie jetzt dem verfügbar, der – wenn er nur Latein lesen kann – sich für welches abgelegene Werk auch immer interessiert.

Wenn er denn nur Latein lesen könnte! Die nächstwichtige Aufgabe der neulateinischen Forschung ist aus diesem "Wenn" entstanden. Wenn schon Studenten der Latinistik heutzutage nur mit Mühe anspruchsvolle Texte übersetzen können, wie trostlos sieht es da bei manchem Historiker, Kunstgeschichtler oder Philologen der jeweiligen Nationalsprachen aus? Für sie gibt es nur die Alternative: Entweder sie beschränken sich in ihrer forscherischen Tätigkeit auf die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, die weitgehend frei ist von neulateinischen Einflüssen; oder aber sie suchen sich mithilfe von Übersetzungen ein Bild von ihrer Literaturlandschaft zu machen. Hierzu ist es die Aufgabe des Latinisten, egal welcher Herkunft, möglichst getreue Übersetzungen auch weniger zentraler Autoren lateinischer Sprache zu erstellen und sie, in der Edition, neben den eigentlichen Text zu setzen. Diese Aufgabe ist keine kleine, auch wenn man über gute Lateinkenntnisse verfügt; denn wenn auch die Sprache diejenige eines Ciceros sein möchte, so ist doch der historische Hintergrund ein völlig anderer. Mancher Altphilologe dürfte hier eine mehr als schlechte Figur machen, denn zum richtigen Erfassen eines lateinischen Textes aus dem 17. Jahrhundert gehört eine gute Kenntnis der Technik, Politik, Umgangsformen dieser Zeit und vor allem auch eine Vertrautheit mit der zeitgleichen nationalsprachlichen Literatur der jeweiligen Region.

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 54
linie

Und dies führt zur dritten, vornehmlichen Aufgabe neulateinischer Forschung: der Kommentierung des Edierten und Übersetzten. Hier vor allem ist darauf zu achten, dass der Klassische Philologe sich die jeweilige regionale Literatur genauso aneignet wie etwa der Germanist die lateinische und griechische der Antike bis ins Mittelalter. Nur die wenigsten, bedeutendsten Werke sind bis heute kommentiert worden; die Einführung in Realien aber ist für jeden, der sich mit der neulateinischen Literatur beschäftigt und dazu als Rüstzeug lediglich entweder das antike oder das neuzeitliche Wissen mitbringt, von eminenter Bedeutung.

Wovon ich bisher gesprochen habe, sind allesamt Aufgaben einer positivistischen, als überwunden geglaubten Forschungsrichtung. Sammeln und Präsentieren, das ist aber der gegenwärtige Stand der Forschung. Das – immer noch positivistische – Verfassen einer Literaturgeschichte des Neulateins, auch wenn es nur eine auf eine Region oder eine Gattung beschränkte Literaturgeschichte sein sollte, ist dagegen mit großer Unsicherheit verbunden, solange nicht wenigstens die Mehrzahl der vorhandenen Literatur ans Licht geholt wurde: Wie die Geschichte der neulateinischen Lyrik Deutschlands von Ellinger würde ein neues Projekt Gefahr laufen, allzuschnell überholt zu sein von derzeit noch nicht gesichteten, aber signifikanten Texten. Dennoch ist eine solche Literaturgeschichte ein Projekt, das unbedingt einmal in Angriff genommen werden sollte: IJsewijn legte mit seinem Companion to Neo-Latin Scholarship einen ersten, nach Ländern geordneten, Befund der Literatur vor; die verschiedenen nationalen und übernationalen Projekte stellen jetzt leicht im Netz zugängliche Texte zur Verfügung; wenn in derselben Schnelligkeit unser Bestand erhöht wird wie in den letzten 20 Jahren, dann wird es bald soweit sein, dass man sich an eine solche Aufgabe machen kann. Darüber hinausgehende Forschungen sind jedoch mit noch mehr Unsicherheiten verbunden: Notwendig wäre es, die Intertextualität neulateinischer Literatur einerseits gezielt auf die Wirkungen der Volks- auf die lateinische Literatursprache auszuweiten, andererseits nach Veränderungen im Laufe der Epochen zu untersuchen. Notwendig wäre es auch, moderne Literaturtheorien an die neuzeitlichen Texte zu legen, wo sie vielleicht besser greifen könnten als bei den Texten der Antike. Aber all das, und noch viel mehr, steht im Zeichen einer Literatur, die soeben erst ernsthaft wiederentdeckt wird, und deren Autoren überhaupt erst wieder Eingang in die Literaturlexika finden, wo sie im 18. Jahrhundert noch selbstverständlich gestanden hatten.

Die Erfüllung dieser Aufgaben erfordert einen – in der Altphilologie gar nicht so gern gesehenen – neuen Typ des Philologen, den nämlich des bekennenden Laien, des selbstbewussten Autodidakten. Ein Text des 16. Jahrhunderts ist gar nicht zu genießen, ohne dass der Leser einerseits die gesamte Literatur der Antike, bis hin in die Spätantike, im Kopf hat und andererseits in nicht geringerem Maße die jeweilige, regionale Literatur in der Volkssprache wie auf Latein.

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 55
linie

Spätestens dann, wenn ein solcher Forscher dann auch noch europaweit die Literatur untersuchen will, sollte er freimütig zugeben, dass er dieser Aufgabe gar nicht gewachsen sein kann, auch dann nicht, wenn er 80 Jahre Erfahrung mitbringen würde. Insofern ist letztlich der erfahrene Emeritus und der gewitzte Neuanfänger auf derselben Stufe und sollte sich dessen auch bewusst sein: Niemand bringt als Einzelner all die Informationen in seinem Kopf unter, die nötig wären, die neulateinische Literatur in ihrer ganzen Breite zu verarbeiten. Dennoch kann ein zukünftiges, modifiziertes Studium an dieser Stelle eine gewisse Hilfe leisten, jedenfalls im engen Rahmen der Latein als Fachwissenschaft Studierenden. Es war ein folgenschwerer Schritt, dass sich das Fach Mittellatein als ein ganz eigenes konstituierte: Ohne die natürliche Anbindung an das Studium der klassischen Antike gab es sich einerseits, zu nationalistischen Zeiten, den jeweiligen nationalen Literaturen hin; umgekehrt brauchte sich die Altphilologie nun nicht mehr mit einer von ihr als barbarisch empfundenen Literatur zu beschäftigen und gab sogar nicht ungern die Kompetenz über viele spätantike Autoren als frühmittelalterliche ab. Die Konsequenz war die Geburt des dumpfen Caesar-Cicero-Catull-Teutonen, die Trennung ins Latein der Römer und jene „Texte“ danach.

Eine analoge Entwicklung wäre auch zu erwarten, sollte sich ein Fach Neulatein an den Universitäten isoliert emanzipieren. Es gäbe dann 1-2 Studenten, die sich um die europäische Literatur auf Latein kümmerten, und 100 andere, welche in den Animus von Cicero kriechen möchten, in seinen, aber keinen anderen. Dieser Gefahr kann man, gerade im gegenwärtigen Augenblick der Umgestaltung des universitären Unterrichts entgegentreten; sie führte ja schon dazu, dass gegenwärtig das Fach Mittellatein kaum mehr von Studenten gewählt wird. Nötig wäre hier eine neue Sicht auf die von unserer Philologie behandelten Gegenstände und eine Teilung mitten durch die Klassische Philologie hindurch: Ab einem bestimmten Zeitpunkt müsste sich der Student entscheiden, was er vor allem studieren möchte, Altphilologie oder Latinistik. Studenten der Altphilologie würden sich – ab einer bestimmten Stufe wie der des abgeschlossenen Bachelors – darauf beschränken, entweder die Kultur der Antike zu studieren, und ihre Energie auf das klassische Latein, das klassische Griechisch, Alte Geschichte und Archäologie zentrieren; Studenten der Latinistik müssten dagegen unter Verzicht auf eine minutiöse Kenntnis der antiken Welt sich auf Latein als Literatursprache konzentrieren und dafür ihr Wissen um die lateinische Literatur des Mittelalters und der Neuzeit vermehren. Ein – fachwissenschaftliches – Studium allein des klassischen Lateins, also unter Vernachlässigung einerseits des Griechischen oder andererseits der späteren lateinischen Literatur – sollte nicht mehr geduldet werden.

                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 56
linie

Eine solche Entwicklung ist natürlich angesichts leerer Kassen und der offenkundigen Wertlosigkeit literarischer Bildung wenig realistisch; sie wäre nichtsdestoweniger höchst wünschenswert. Meiner Erfahrung nach krankte der Lateinunterricht an den Universitäten in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts am Mangel von beiden Seiten: Weder verfügte der durchschnittliche Lateinstudent mehr über eine hinreichende, gediegene Kenntnis der griechischen Literatur, noch hatte er auch nur eine Ahnung von der Fülle und Bedeutung der lateinischen Literatur vermittelt bekommen. Die gegenwärtige Beachtung lateinischer Literatur der Frühen Neuzeit könnte hier Abhilfe leisten, indem sie zeigt, dass man sich entscheiden muss zwischen zwei gleichermaßen unbequemen Richtungen: Entweder man ist Spezialist für die Antike, dann aber ohne Bevorzugung einer bestimmten Sprache, oder man ist Spezialist für die lateinische Literatur, dann aber ohne Bevorzugung einer bestimmten Epoche. Fände eine solche Sichtweise dann auch dauerhaften Aufenthalt in der schulischen Ausbildung, könnte sie durchaus einen elementaren Beitrag zum Verständnis Europas leisten: Ihre gemeinsame Literatur auf Latein ist das, was einen gebildeten Polen mit einem Spanier, einen Dänen mit einem Kroaten verbindet.


PD Dr. Nikolaus Thurn
Am Fenn 8
14532 Kleinmachnow
E-mail: Nikolaus.Thurn@web.de