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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VII/1 (2007), 31

Peter von Möllendorff

Grübler, Schwätzer, Scharlatane —
das Bild des Intellektuellen bei Lukian

Der junge Mann, dessen einzuschlagender Bildungsweg hier von Freunden und Familienangehörigen diskutiert wird, folgt dem wohlmeinenden Ratschlag und geht bei seinem Onkel in eine Steinmetzlehre. Der Einstieg misslingt: Schon am ersten Tag zerbricht er eine wertvolle Steinplatte, wird vom Meister durchgeprügelt und läuft weinend nach Hause. In der Nacht hat er einen Traum: Zwei Frauenspersonen fassten mich zu gleicher Zeit bei den Händen und zogen mich jede mit solcher Gewalt und Heftigkeit auf ihre Seite, daß sie mich, weil keine die Schande haben wollte nachzugeben, beinahe darüber in Stücke zerrissen hätten. Bald wurde die eine Meister und hatte mich fast ganz in ihrer Gewalt, bald darauf fand ich mich wieder in den Armen der anderen. Beide schrien gewaltig aufeinander ein:  ‚Er ist mein, ich habe ein älteres Recht an ihm und laß ihn mir nicht nehmen’ —  ‚Er geht dich nichts an, du bemühst dich vergeblich, ihn mir wegzunehmen!’ Die erstere hatte ein arbeitsames und männliches Aussehen, ihre Haare waren schmutzig, ihre Hände voller Schwielen, ihr Rock hoch aufgeschürzt, ihre ganze Person mit Kalk bestäubt; kurz, sie sah geradeso aus wie mein Onkel, wenn er Steine polierte. Die andere hingegen war eine Frau von feiner Gesichtsbildung, von edlem Anstand und zierlich gekleidet. Die beiden Traumfrauen einigen sich dann doch auf eine verbale Auseinandersetzung, in der jede ihre Vorzüge vorstellt. Die Arbeiterin ist die personifizierte Steinmetzkunst. Sie bietet dem jungen Mann ein Leben nach dem Motto „Bleibe daheim und nähre dich redlich“. Die andere hingegen verlockt ihn so: Ich, mein Sohn, bin die Bildung. Folgst du mir, so werde ich dich vor allen Dingen mit allem, was die edelsten Menschen der Vorwelt Bewunderungswürdiges gesprochen, getan und geschrieben haben, und überhaupt mit allem, was wissenswert ist, bekannt machen; insbesondere aber werde ich dein edelstes Teil, dein Herz, mit Mäßigung, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Sanftmut, Billigkeit, Klugheit und Standhaftigkeit,


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mit der Liebe zum Schönen und mit Streben nach jeder Vollkommenheit zieren; denn diese Tugenden sind der Seele wahrer unvergänglicher Schmuck. Es soll dir nichts verborgen sein, was ehemals Denkwürdiges geschah, noch was jetzt geschehen muß; ja, du wirst durch mich sogar das Künftige vorhersehen: mit einem Worte, ich will dich in allen göttlichen und menschlichen Dingen, und zwar in kurzer Zeit, vollständig unterrichten.Da die Bildung dem Jüngling am Scheidewege auch noch mit höchstem internationalen und nationalen Ansehen, Reichtum und Macht als Resultat einer bei ihr absolvierten und, wie wir gehört haben, noch nicht einmal anstrengenden Erziehung winkt, ist es klar, für wen er sich entscheidet.

Intellektuelle Bildung, griechisch ‚Paideía’, und die Frage, wie man sie erwirbt und wie man sie zu leben hat, sind Themen, die den im zweiten Jahrhundert nach Christus schreibenden Syrer Lukian aus Kommagene am Rand des Imperium Romanum in einem bedeutenden Teil seines recht umfangreichen Œuvres immer wieder beschäftigt haben. Den Grund für diese Präokkupation hat man erst vor gut 15 Jahren recht eigentlich zu verstehen begonnen, seit nämlich das Augenmerk der Forschung sich zunehmend auf die Bildung als einen zentralen Faktor im soziopolitischen Gefüge der römischen Kaiserzeit gerichtet hat. Paideia avanciert seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert zunehmend zu einem Statussymbol der griechischsprachigen lokalen Oberschichten. Durch seine Bildung erst erweist ein Grieche, zumal wenn er außerdem über einen gewissen familiären Hintergrund und ein ihm Unabhängigkeit verschaffendes Vermögen verfügt, die Berechtigung seines Anspruchs auf Teilhabe an politischer Macht und gewinnt er eine Autorität, die nicht nur in seinem lokalen Wirkungskreis, sondern auch in der römischen Provinzialverwaltung und sogar am Hof der römischen Kaiser (man denke etwa an die Philhellenen Hadrian und Marc Aurel) anerkannt wird. Es nimmt daher nicht wunder, dass die Intellektuellen dieser Zeit einander heftig befehden und die Echtheit ihrer Bildung streitig machen, dass sie eingehend darüber diskutieren, was im Mittelpunkt und was am Rande von Bildungskanones zu stehen hat. Es erstaunt auch nicht, dass Bildung bisweilen nur vorgetäuscht wird und dass sich die wirklich Gebildeten um die Entlarvung solcher Scharlatane bemühen. Tatsächlich ist Lukian einer der Autoren jener Epoche, der uns die schillerndsten Beschreibungen solcher Auseinandersetzungen hinterlassen hat. Mein Anliegen in diesem Beitrag ist die Frage, was denn aus der Sicht dieses eminenten Intellektuellen zum Bildungsstandard seiner Zeit gehört, wie man bloße Bildungsprätention enttarnt und auf wie viele verschiedene Weisen ein nicht wirklich Gebildeter sich in jener Zeit blamieren kann.

Paideias Angebot umfasst zwei Bereiche. Zum einen geht es um schieres Wissen, jedoch nicht in erster Linie um ein Wissen von der Gegenwart, sondern von dem, „was die edelsten Menschen der Vorwelt Bewundernswürdiges gesprochen, getan und geschrieben haben.“


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Ein solches Wissen erwirbt man vor allem durch Lektüre literarischer und historiographischer Werke, und in der Tat ist das in der Kaiserzeit eine, wenn nicht die bedeutsamste Quelle des Bildungswissens. Allerdings nimmt Paideia auch eine Wertung vor: Nur das Bewunderungswürdige, das Wissenswerte, die Taten und Worte der edelsten Menschen dürfen zu Bildungsobjekten avancieren, die mithin Gegenstand der Kanonisierung und Hierarchisierung sind. Das Hauptaugenmerk griechischer kaiserzeitlicher Gebildeter richtet sich — dies erfahren wir aus einer Vielzahl anderer Textquellen — demgemäß auf die belletristische und auf die im weitesten Sinne historiographische Literatur der vorhellenistischen Epoche, also von Homer im späten achten bis Platon und Demosthenes im vierten Jahrhundert. Bei der Rezeption dieser Texte geht es nicht nur um ihre inhaltliche Wahrnehmung, sondern nicht zuletzt auch um ihre sprachliche Aneignung: Der kaiserzeitliche Gebildete bedient sich in seinen gebildeten Äußerungen einer Sprache, die stark überformt ist durch den Einfluss der als klassisch empfundenen Literatur des 5. und 4. Jahrhunderts, vorzugsweise derjenigen, die im Sprachraum Athens und Attikas verfasst ist. Es ist daher sicher nicht unangemessen, diesen ersten Bereich der Bildung vorläufig einmal mit dem Schlagwort der „Rhetorik“ zu belegen.

Mindestens ebenso wichtig ist aber in den Augen der Paideia ein zweiter Bereich: die ethische Ausbildung. Es geht ihr um nicht weniger als „Mäßigung, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Sanftmut, Billigkeit, Klugheit, Standhaftigkeit und die Liebe zum Schönen“, um die Aneignung eines wertorientierten Denkens. Damit beansprucht Paideia ein Feld, dessen systematische Ausgestaltung in der paganen Antike grundsätzlich der Philosophie vorbehalten war. Diese Systematik konnte ein potentieller Adept selbstverständlich ebenfalls durch Lektüre der einschlägigen Klassiker der klassischen und hellenistischen Philosophenschulen von Platon bis Epikur kennenlernen. Allerdings konnte es damit evidentermaßen nicht getan sein. Denn ein ethisches Wissen impliziert ja die Ausrichtung und Durchdringung der eigenen Lebensführung nach und mit jenen Werten. Es bedarf also in besonderem Maße eines geeigneten Lehrers, ja mehr noch: geradezu eines ständigen Begleiters, der beobachtet und korrigiert: eines Erziehers also im emphatischen Sinne des Wortes.

Tatsächlich kommt aber nicht nur die philosophische, sondern auch die rhetorische Seite der Bildung nicht ohne eine solche Lehrpersönlichkeit aus. Denn wie gesagt, musste der gebildete Oberschichtsangehörige seine Paideia ja immer wieder zur Schau stellen und in seinen öffentlichen und halböffentlichen Äußerungen gewissermaßen zur Anwendung bringen, sei es in diplomatischen und politischen Gesprächen, sei es bei anlassgebundenen Reden vor dem Volk, dem Rat, dem Magistrat, dem Kaiser. Rhetorik war also in hohem Maße Angelegenheit intensiver praktischer Einübung auf den verschiedensten Schwierigkeitsstufen und an den unterschiedlichsten thematischen Gegenständen, der Auszubildende bedurfte mithin auch hier ständiger Hilfe und Verbesserung von außen.


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Der Ernst- und eigentliche Testfall der rhetorischen Paideia war jedoch die Stegreifrede: Hier zeigte sich erst wirklich, wie weitgehend der Redner das klassizistische Bildungsideal wirklich verinnerlicht hatte, ob es nur angelernt war und für den jeweiligen Anlass mühsam zusammengeklaubt wurde oder ob es ihm zur zweiten Natur geworden war. Die philosophische Paideia bewährte sich demgegenüber eher im alltäglichen Auftreten, in der Art und Weise der Führung von Amtsgeschäften, dem Umgang mit Gleichgestellten, mit Untergebenen, mit Bittstellern, ja sogar im Verhalten innerhalb der eigenen Familie; nicht ohne Grund kennen wir aus der Kaiserzeit auch diverse philosophische Traktate, die sich mit Eheführung und Kindererziehung befassen, man denke etwa an Plutarch.

Während die Rhetorik zum normalen Ausbildungsprogramm jedes jungen Mitgliedes der Oberschicht gehörte, war der Gang zum Philosophielehrer denen vorbehalten, deren Eltern auf eine solche Vervollkommnung der Persönlichkeit Wert legten; dass dieses Ausbildungssegment also realiter seltener besucht wurde, mag ein Grund dafür sein, dass die Traumerscheinung der Paideia diesen Aspekt ihres Angebots so besonders hervorhebt. Der Philosoph, der im allgemeinen die Richtung einer der großen Schulen vertrat, stand in einem quasi zentrifugalen Verhältnis zur zeitgenössischen Gesellschaft und sah es als seine Aufgabe an, sozusagen von außen falsche Einstellungen beim einzelnen wie in der Gemeinschaft zu tadeln und so auf Besserung hinzuwirken. Die selbstgewählte Distanz zur Gesellschaft, die ja auch bestimmte Verzichte nach sich zog, bewirkte, dass diese Gesellschaft eine solche ihr grundsätzlich kritisch gegenüberstehende Instanz überhaupt akzeptierte. Entsprechend wirkte der Philosoph auf seine Schüler in erster Linie über seine Persönlichkeit, über die Glaubwürdigkeit und Autorität, mit der er seine Ratschläge zur Lebensführung untermauern konnte. Diese seine Autorität und Selbststilisierung konnte in Verbindung mit einem entsprechenden Charisma so angesehen sein, dass er den Nimbus eines Weisen, ja womöglich den eines ‚heiligen Mannes’ erlangte.

Aber auch die Rhetorik verfügte über einen vergleichbaren ‚idealen’ Exponenten: den Sophisten. Aus wohlhabender Familie stammend und mit den Erfordernissen der Paideia von klein auf vertraut, führte er die klassizistische Bildung, insbesondere ihre literarrhetorische Seite, in ihrer Reinform vor; er reiste durch die Städte der Oikuméne und hielt vor einem oft großen und zu einem nicht geringen Teil auch sachkundigen Publikum Prunk- und Schaureden (‚epideíxeis’), in denen das Ideal der Nachahmung der klassischen Literatur ohne realen Anlass oder Zweck zur Perfektion gesteigert vorgeführt wurde. Man hat — ein wenig abfällig, aber von der Sache her nicht unpassend — hierfür in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Begriff des ‚Konzertredners’ geprägt.

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Auch auf die Gefahr einer etwas vergröberten Sichtweise hin wird man also sagen dürfen, dass sich die Persönlichkeit eines gebildeten Mitglieds der Oberschicht der Hohen Kaiserzeit im Kraftfeld zwischen den Polen der Rhetorik und der Philosophie ausbildete, dass der Gebildete, der ‚pepaideuménos’, am Ideal des Sophisten und des Philosophen gleichermaßen partizipierte. Ebenso lässt sich aber auch erkennen, dass Paideia einen äußerst hohen Anspruch an ihre Adepten stellt und dass es mit einem kurzen Nippen am Becher der Gelehrsamkeit keinesfalls getan ist. Wenn den Leser daher bei dem marktschreierischen Auftreten der Traum-Paideia und ihrem Versprechen, sie werde den jungen Mann „in allen göttlichen und menschlichen Dingen, und zwar in kurzer Zeit, vollständig unterrichten“, ein gewisses Unbehagen gepackt haben sollte, dann mit gutem Grund! Denn mit dieser Ankündigung hat sich die Paideia des Traums selbst als Scharlatan entlarvt, ist doch das Ideal einer die ganze Persönlichkeit durchdringenden, zur zweiten Natur werdenden Bildung eine Angelegenheit, die nicht nur große Begabung, sondern auch völlige Hingabe und, wie es in der aktuellen Pisa-Diskussion so schön heißt, die „Bereitschaft zu lebenslangem Lernen“ erfordert. Und in der Tat ist es eines der wichtigsten Anliegen des Spötters Lukian, falsche Bildungsversprechen ebenso wie mangelnde Bildungseignung bloßzustellen und auf diese indirekte Weise sein Bild von einer wahrhaftigen und echt gelebten Paideia zu zeichnen. Wer nicht gebildet ist, soll auch nicht so tun, als ob er’s wäre, und das beginnt schon beim Kauf jener Objekte, die bis heute Markenzeichen des Intellektuellen sind, dem Kauf von Büchern: „Du glaubst nämlich, die schönsten Bücher eifrig zu erwerben, werde dir den Ruf verschaffen, in Sachen Bildung jemand zu sein. Aber das Ergebnis bleibt doch in Bodennähe und gerät eher zum Beweis deiner Unbildung. Vor allem kaufst du ja noch nicht einmal die schönsten, sondern du vertraust jeder Reklame, du bist ein gefundenes Fressen für alle, die den Büchern verlogene Lobessprüche anhängen, und eine offene Schatztruhe für die Buchhändler. Woher solltest du denn auch unterscheiden können, welche Bücher alt und wertvoll und welche minderwertig und unbrauchbar sind, wenn du nicht der Tatsache, daß sie angefressen und zerknickt sind, Beweiskraft zusprichst und für ihre Prüfung als Ratgeber die Motten herbeiziehst? Indes: für die Diagnose ihrer Genauigkeit und Fehlerlosigkeit, welche Fähigkeiten besitzt du da?“ Den ungebildeten Büchernarren lässt Lukian nicht nur nicht ungeschoren davonkommen. Er entwickelt vielmehr einen geradezu zelotischen Vernichtungshaß: „Du wirst nicht zu behaupten wagen, du seist ausgebildet worden oder du habest jemals Interesse gezeigt, mit Büchern in Tuchfühlung zu kommen, oder daß der und der dein Lehrer war oder du bei dem und dem gehört hast. Nein, heute beruht deine Hoffnung darauf, alles das laufe nur darauf hinaus, viele Bücher zu besitzen. Was das betrifft: raffe alles zusammen, was der Redner Demosthenes mit eigener Hand geschrieben hat, und das Gesamtwerk des Thukydides und schließlich all das, was Sulla von Athen nach Italien sandte: inwiefern könntest du damit deinen Besitz an Bildung vermehren, selbst wenn du dir das alles unters Kopfkissen legst oder es alles in einen einzigen Einband schlägst und es ständig bei dir trägst? Affe bleibt Affe, wie das Sprichwort sagt, auch wenn er goldene Orden trägt. Da hältst du nun dein Buch in der Hand und bist ständig am Lesen, aber verstehen tust du von dem Gelesenen nichts, sondern bist wie der Esel, der die Ohren spitzt und auf die Leier lauscht.“ 


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„In Asien lebte vor nicht langer Zeit ein reicher Mann, der durch einen Unfall beide Füße verloren hatte; ich glaube, sie waren ihm erfroren und abgefault, weil er einen langen Fußmarsch im Schnee hatte unternehmen müssen. Nun war er also in diesem beklagenswerten Zustand, und um seinem Unglück abzuhelfen, ließ er sich Füße aus Holz anfertigen, die schnallte er unter und konnte sich so, wenn er sich gleichzeitig auf seine Diener stützte, fortbewegen. Und dann beging er die folgende Lächerlichkeit: er kaufte sich immer wundervolle neue Schuhe und scheute keinerlei Mühen, um nur ja seine Hölzer mit dem schönsten Schuhwerk zu schmücken. Verhältst du dich nicht genauso, wo du für deinen lahmen und schwachen Verstand goldene Schuhe erwirbst, in denen sogar einer mit geraden Beinen kaum herumlaufen könnte?  Da du ja unter anderem auch viele Ausgaben des Homer gekauft hast, laß dir einmal den zweiten Gesang seiner Ilias vorlesen — mit ihren übrigen Gesängen beschäftige dich nicht: die sind nichts für dich. Darin läßt er einen absolut lächerlichen Menschen als Volksredner auftreten, ein schiefes und buckliges Schandmaul. Wenn dieser Thersites nun, so wie er ist, die Rüstung des Achilles anlegte, glaubst du, daß er deshalb sofort auch Schönheit und Stärke gewänne, daß er über den Fluß springen, daß er dessen Fluten mit Phrygerblut besudeln, den Hektor und vorher den Lykaon und den Asteropaios töten würde, wo er doch die Lanze aus Eschenholz nicht tragen könnte? Das würdest du wohl nicht behaupten wollen. Nein, man würde ihn sogar auslachen, wie er da unter den Schild gebückt einherhumpelt, unter dem Gewicht zusammenbricht und aufs Maul fällt und, wann immer er den Kopf hochwirft, unter dem Helm seine Schielaugen zeigt und den Panzer auf seinen buckligen Rücken hievt, die Beinschienen hinter sich her schleppt und, alles zusammen, beiden Schande macht, dem Hersteller und dem Herrn der Waffen. Ja, siehst du denn nicht, daß es dir genauso geht, wenn du ein exquisites Buch in der Hand hältst, das einen purpurn gefärbten Einband und einen goldenen Deckelknopf hat, es dann wie ein Barbar vorliest, verdirbst und verdrehst, verlacht von den Gebildeten, aber gelobt von den Schmeichlern, die immer um dich sind, aber oft hinter deinem Rücken die Augen verdrehen und spöttische Bemerkungen machen?“ — Der Kyniker Demetrios sah in Korinth einmal einen Ungebildeten ein großartiges Buch lesen — die Bakchen des Euripides glaube ich, und er war gerade an der Stelle angekommen, wo der Bote vom schrecklichen Tod des Pentheus und von der Tat der Agave berichtet —: da riß er es ihm aus den Händen, zerfetzte es in kleine Stücke und sagte:  ‚Besser ist es für Pentheus, er wird einmal von mir als viele Male von dir zerfetzt!’“

Spricht Lukian hingegen von gleich zu gleich, dann wählt er gern die Maske einer Figur namens Lykinos; zu ihr später noch mehr, es sei aber hier schon vorausgeschickt, dass Lykinos’ Manier nicht die pamphletistische polemische Attacke ist, sondern die raffinierte Widerlegung in Form von Gesprächen, die nach dem Vorbild der Dialoge des Platonischen Sokrates modelliert sind.


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Hier werden meistens leisere, aber darum nicht weniger existentiell drängende Töne angeschlagen. Eines der vollendetsten und subtilsten Gespräche führt dieser Lykinos mit einem sechzigjährigen Mann, der sich seit 20 Jahren auf das Studium der stoischen Philosophie verlegt hat. Lykinos begegnet ihm, in bester sokratischer Tradition, zufällig auf der Straße und verwickelt ihn in ein Gespräch:  „Soll ich raten, Hermotimos? Du bist auf dem Weg zu deinem Professor, nach dem Buch unterm Arm zu urteilen und nach deinen eifrigen, schnellen Schritten! Und bestimmt warst du dabei in tiefe Betrachtungen versunken: Die Lippen hast du bewegt und leise irgend etwas vor dich hingemurmelt. Und solche Gesten hast du gemacht, gerade als ob du im Stillen eine Rede entwerfen würdest. War bestimmt eine von den ganz kniffligen Fragen oder so eine trickreiche Knobelei, worüber du da gegrübelt hast. Du gibst wohl nicht mal beim Gehen Ruhe, sondern bist immer eifrig und ernsthaft bei der Sache, wenn du nur im Lernen vorankommst.“  „Beim Zeus, Lykinos, du hast schon Recht. Ich habe nämlich gerade die Stunde von gestern repetiert und bin alles durchgegangen, was er gesagt hat. Weißt du, man darf einfach keine Sekunde ungenutzt lassen! Es ist eben wahr, was der Arzt aus Kos gesagt hat: ‚Die Kunst ist lang, und kurz ist unser Leben!’ Und dabei hat er das über die Medizin gesagt, eine vergleichsweise einfache Angelegenheit. Aber die Philosophie erst! Das ist eine unendliche Geschichte! Da darfst du nichts verpassen, du mußt dich auf sie konzentrieren, du mußt völlig auf sie fixiert sein, sonst wird’s nichts! Und dabei geht es um alles oder nichts! Entweder bleibst du nämlich ein unbedeutender Wicht im Haufen der anderen Nichtswisser, oder du wirst ein glückseliger Mensch: ein Philosoph!“ Schon im ersten Satz wird Hermotimos enttarnt, jedenfalls für den Leser, der Lukian ein wenig kennt. Er trägt in der Öffentlichkeit ein Buch unterm Arm — und das tun nur die Leute, die es nötig haben (...) Aber Hermotimos ist natürlich in ganz anderer Weise ernst zu nehmen als der ungebildete Büchernarr. Immerhin hat er im Alter von 40 Jahren, also zu dem Zeitpunkt, zu dem man nach antiker Auffassung den Höhepunkt seiner geistigen Entwicklung erreicht hatte und sich auf dem Zenit seiner Urteilskraft befand, sein Leben radikal geändert und sich und sein Vermögen ganz und gar der philosophischen Wissenschaft geweiht. Für ihn ist Paideia tatsächlich eine Lebenswahl geworden. Um so existentieller, um so brutaler ist die Entzauberung dieser Karriere durch Lykinos, der den Hermotimos immer enger argumentativ einkreist und ihm schließlich beweist, dass seine Hinwendung zur Philosophie eben nur ausschließlich rationaler Natur war, was bedeutet: Er hat sich logischen Spitzfindigkeiten und metaphysischen Spekulationen hingegeben, dafür aber die ethische Entwicklung seiner Persönlichkeit vernachlässigt. Er bemerkt nicht, dass sein Philosophieprofessor ein geldgieriger, verfressener Parasit und Scharlatan ist, der alles andere tut als die Prinzipien seiner eigenen Lehren in die Tat umzusetzen, ja, schlimmer noch: er heißt dessen unsaubere Praktiken und sein blamables öffentliches Benehmen aus falsch verstandener Nibelungentreue sogar noch gut. Er hat sich keine Rechenschaft darüber abgelegt, dass die letzten und größten Wahrheiten möglicherweise unerkennbar sein könnten. Er kann gar nicht recht erklären, warum er gerade Stoiker geworden ist und keine andere philosophische Richtung gewählt hat.


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Kurz: Hermotimos hat sich selbst belogen auf seiner Suche nach der Glückseligkeit, dem Ziel allen Philosophierens: „Um in die Nähe der Glückseligkeit zu gelangen — und daß du das geschafft hast, will ich gerne zugeben —, mühst du dich so viele Jahre ab, zehrst deine Kräfte auf, und schon ist dein Leben — und es war doch nicht kurz! — vorüber, vertan in Gleichgültigkeit, Erschöpfung und durchwachten Nächten! Und du willst dich — das hast du selbst gesagt — noch weitere zwanzig Jahre schinden, damit du dann als Achtzigjähriger — vorausgesetzt, es kann dir einer garantieren, daß du so lange lebst — trotz allem immer noch zu denen gehörst, die die Glückseligkeit noch nicht erreicht haben? Außer natürlich, du glaubst, du werdest als einziger das erreichen und endlich in Händen halten, dem vor dir so viele vergeblich nachgejagt sind, Leute, die gut waren und viel schneller als du. Aber meinetwegen, bitte, fasse dein Glück und halte es fest in den Armen — also erstens vermag ich beim besten Willen nicht zu sehen, was so herrlich sein könnte, daß es einen echten Gegenwert bieten würde für so viel Plackerei. Zweitens: Wie viele Jahre wirst du denn noch etwas davon haben? Du bist alt, was das Leben schön macht, liegt hinter dir, du stehst mit einem Bein im Grabe, wie man so sagt. Es sei denn, natürlich, du trainierst schon für das nächste Leben, mein Lieber, damit du es da besser machst, weil du ja dann wissen wirst, wie man richtig lebt, so wie einer, der alles vorbereitet und aufs feinste anrichtet, um noch besser zu dinieren, und hier rückt und da ändert — und ehe er sich’s versieht, ist er verhungert. Dabei hast du aber nicht bedacht, meine ich, daß die Vollkommenheit in der Tat liegt, also darin, gerecht, weise und tapfer zu handeln. Ihr hingegen — wenn ich ‚ihr’ sage, dann meine ich damit die Koryphäen der Philosophie — schiebt gerade das beiseite und übt euch statt dessen in unseligem Gerede, in Syllogismen, in Aporien, und verschwendet euer Leben an diese Dinge, und wer in so etwas stark ist, den erklärt ihr zum herrlichen Sieger. Daher kommt es wohl auch, daß ihr diesen Professor da bewundert, den Alten, weil er seine Umgebung in die Enge treibt und sich aufs Fragen versteht, auf Tricks, auf Fallstricke, aufs Festnageln; und während ihr euch die Früchte eurer Bemühungen einfach entgehen laßt — im Handeln hätten sie ja bestanden! —, müht ihr euch um die Rinde und bewerft euch mit Blättern in euren Diskussionen! Oder macht ihr vielleicht etwas anderes, Hermotimos, ihr alle, von früh bis spät?“  „Was hast du mir angetan, Lykinos! Mein Schatz — nichts als Kohlen! Und so viele Jahre, so viel Mühe und Plage — verschenkt!“

Es könnte der Eindruck entstehen, als sei eine theoretische Beschäftigung mit der Philosophie grundsätzlich von Übel. Aber dem ist gewiss nicht so: Auch Lykinos erweist sich ja als theoretisch beschlagen und wohlinformiert. Aber der Intellektuelle, der nur denkt und sinniert, sich aber zum rechten Handeln nicht entschließen kann, verdient den Namen des Gebildeten nicht. Natürlich stellt sich sogleich die Frage, ob denn nicht wenigstens Lykinos selbst als ein solches Ideal gelten kann, dem man sich daher anvertrauen, dessen Weisung man folgen kann.

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Hier ist Vorsicht geboten. Denken wir an die Paideia aus dem Traum zurück. Ihre Konfrontation mit der Steinmetzkunst, die Wahl des rechten Lebensweges, vor die sich der junge Mann gestellt sah: Das war ja kein Motiv, das Lukian erfunden hatte, sondern ahmt, gemäß den literarrhetorischen Anforderungen an die Intellektuellen, wonach Originalität nicht in Neuschöpfung, sondern in kreativer Anverwandlung der klassischen Tradition besteht, die berühmte Anekdote von Herakles am Scheidewege nach. In dieser Geschichte traf der junge Herakles, der noch nicht so recht wusste, was er mit seiner unbesiegbaren Kraft anfangen sollte, eines Tages auf zwei Frauen, die ‚Tugend’ und die ‚Schlechtigkeit’, die ihm beide die jeweils zu erwartenden Versprechungen machten. Herakles, wie könnte es anders sein, wählte die Tugend. Und was wählt Lukians junger Träumer? Lässt sich Paideia einfach 1:1 mit der Tugend gleichsetzen? Oder gar die Steinmetzkunst mit der Schlechtigkeit? Sollte uns nicht die Beobachtung, dass die Paideia des Traums ganz ähnlich gekleidet ist wie die Schlechtigkeit in der Herakles-Anekdote, zu denken geben, vor allem dann, wenn man daran denkt, dass sie viel Erfolg und wenig Arbeit prognostiziert? Und entspricht nicht die Tugend am Ende sogar viel eher der Lukianschen Steinmetzkunst, die harte Arbeit und ehrlich erworbenen Ruhm prophezeit?

Dieser Paideia sollten wir uns also lieber nicht völlig kritiklos anvertrauen. Und genau dies gilt auch für die Figur des Lykinos. Dessen Vorbild Sokrates bezeichnete seine Gesprächskunst als Hebammentechnik, was bedeutete, dass er seinen Schützlingen, deren besserem Wissen er durch seine Befragungen sozusagen auf die Welt geholfen hatte, auch eine gewisse Nachsorge angedeihen ließ: Xenophon beschreibt recht ausführlich, wie sich Sokrates um diejenigen, bei denen er einen ernsthaften Willen zum Umdenken bemerkte, auch nach der Initialzündung der ersten Widerlegung ihrer Lebensführung intensiv kümmerte, sie in weitere Gespräche und Zusammenkünfte zog. All das ist des Lykinos Sache nicht. Wenn er seinen Schlag geführt hat, zieht er sich zurück, übernimmt keine weitergehende Verantwortung: Wollte man im sokratischen Bild bleiben, so müsste man ihn mit einer Hebamme vergleichen, die das Kind gleich nach der Geburt fallen lässt und ruft: „Und jetzt steh selbst!“ Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch intensiv eingesetzte Techniken der literarischen Nachahmung, die Lykinos, wie schon die geträumte Paideia, mit Figuren der klassischen Tradition assoziiert, die sich ebenfalls nicht durch besondere Vertrauenswürdigkeit auszeichnen, beispielsweise mit der allegorischen Figur der „Ungerechten Rede“ aus Aristophanes’ Anti-Sokrates-Stück Die Wolken.

Interessant ist hierbei nicht zuletzt, dass Lukian mit dieser Darstellungstaktik seine Protagonistenfigur Lykinos zur Zielscheibe einer Kritik macht, die schon ihr Vorbild Sokrates zu seinen Lebzeiten, also rund 600 Jahre zuvor, getroffen hatte, nämlich der Vorwurf, unverantwortlich zu lehren und ungeeignete Personen für seine Bekehrungsversuche auszuwählen.

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Und in der Tat kann man sich ja fragen, ob denn der offensichtlich nicht besonders sattelfeste, ja bisweilen geradezu naiv wirkende Hermotimos wirklich als adäquater Gegner für die radikale und intelligente Skepsis des Lykinos angesehen werden kann. Macht Lykinos es sich nicht einfach ein bisschen zu leicht? Warum attackiert er statt dessen nicht die offensichtlich geschliffene Zunge von Hermotimos’ Philosophielehrer? Bedenken wir nun, dass der Name des Lykinos, so sehr sich die Figur unfraglich mit Sokrates assoziieren lässt, natürlich auch den Namen seines Autors, Lukianós, anklingen lässt, und bedenken wir weiterhin, dass in diesem Namen ohne Zweifel auch das Substantiv lykos, Wolf, verarbeitet ist, dann lässt sich aus diesen Anspielungen zweierlei folgern. Die lautliche Verbindung mit dem Autornamen werden wir, erstens, nun kaum anders denn als Ausdruck einer Selbstironie verstehen können: Auch der Autor ist, bei all seiner intellektuellen Überlegenheit und bei aller Berechtigung der ethischen Positionen, die er vertritt, keine Instanz, der ein potentieller Bildungs-Adept ohne jedes Misstrauen folgen sollte. Und zweitens:  Dieser Autor-Protagonist schreibt sich selbst einen wölfischen Zug zu und betont damit ausdrücklich noch einmal seine Gefährlichkeit, die zum einen in seinem scharfen satirisch-polemischen Biss, zum anderen in seiner Gerissenheit und eben in seiner Gier nach intellektueller Beute bestehen dürfte. Auch diese Selbstcharakterisierung dient möglicherweise dem Zweck der Ironisierung der eigenen Person, nach deren Sinn wiederum noch zu fragen sein wird.

Halten wir einmal kurz inne und fragen wir uns, was wir bisher über das Bild des Intellektuellen bei Lukian herausgefunden haben. Der Gebildete muss zunächst einmal über ein rhetorisches Wissen verfügen, das sich in erster Linie auf eine inhaltlich wie sprachlich als klassisch angesehene Literatur bezieht, die er so eingehend und intensiv studiert haben muss, dass sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen ist und ihm für seine kreativen Nachahmungen stets und ständig zur Verfügung steht. Er soll daneben auch über eine Kompetenz in praktischer Philosophie verfügen, das heißt: alle persönlichen und gesellschaftlichen Werte verkörpern und vollendet in seine Lebensführung integrieren. Diese Kompetenz eignet er sich einerseits durch Lektüre an: Das Lesen ist sicher eine der wichtigsten Betätigungen des Gebildeten, und nicht ohne Grund lassen sich in Lukians Zeit viele Oberschichtsangehörige auf ihren Grabmälern mit einer Buchrolle in der Hand darstellen. Gerade dies, die Präsentation von Büchern, ihr ostentativer Besitz, der sozusagen publik gemachte Umgang mit ihnen, ist allerdings in Lukians Augen eher Signet eines Ungebildeten, selbst dann, wenn dieser Form der Inszenierung der eigenen Bildung auch ein tatsächliches Wissen um die Inhalte jener Werke entspricht. Paideia wird andererseits durch Lehrer vermittelt. Sie, die eigentlichen Exponenten der Bildung, werden von Lukian besonders kritisch beäugt. Ist ihre Bildung echt, das heißt: entspricht ihre Lebensführung dem, was sie im Unterricht vertreten? Oder ist sie bloße Prätention? Ja, Lukian scheint sogar grundsätzliche Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit von Bildungsvertretern zu hegen:

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Die entsprechenden Protagonisten seiner Texte rückt er jedenfalls gern in ein schiefes Licht, das auf ihre prinzipielle Integrität einen Schatten wirft: Die Überlegenheit ihrer Bildung scheint sie dazu zu verleiten, sie an willigen Opfern zu beweisen und in Szene zu setzen, und es ist fraglich, ob dies eines wirklichen Gebildeten würdig ist. Auf der anderen Seite lässt sich Bildung, die, wie wir gesehen haben, in jener Gesellschaft eine so eminente soziokulturelle, ja politische Bedeutung besitzt und permanent aktiv präsentiert werden muss, wenn denn ihre Früchte geerntet werden können sollen, ohne ein solches Moment von Wettbewerb gar nicht denken. Wie geht ein Gebildeter mit dieser Schwierigkeit um, einerseits seine Paideia immer wieder agonal bewähren zu müssen, seine Überlegenheit aber andererseits nur sehr reflektiert und zurückhaltend einsetzen zu dürfen?

Betrachten wir, um einer Beantwortung dieser Frage näher zu kommen, abschließend einen Text, dessen das Aberwitzige streifende Komik beide Positionen — die Agonalität wie die reflektierte Zurückhaltung — in drastischer Zuspitzung präsentiert: Lukians Symposion. Der reiche und gebildete Aristainetos hat zu der Feier, die er zur Hochzeit seiner Tochter Kleanthis mit dem Philosophie studierenden Sohn des Geldverleihers Eukritos ausrichtet, neben dem uns schon bekannten Lykinos (der auch der Erzähler der folgenden Ereignisse ist) alles eingeladen, was in der Intellektuellenszene Rang und Namen besitzt: „Warum sollte ich dir die anderen aufzählen? Die Vertreter von Philosophie und Rhetorik hingegen, von denen du, glaube ich, in erster Linie hören willst, waren der alte Stoiker Zenothemis und zusammen mit ihm Diphilos mit dem Beinamen ‚Labyrinth’, der Lehrer von Aristainetos’ Sohn Zenon; von den Peripatetikern Kleodemos, du weißt schon, der Zungenfertige, der Disputiermeister, ‚Schwert’ nennen ihn seine Schüler und ‚Hackebeil’. Aber auch der Epikureer Hermon war da, und schon bei seinem Eintreten sahen die Stoiker ihn böse an. Diese waren als Freunde und Bekannte des Aristainetos selbst zum Mahl eingeladen worden und mit ihnen der Grammatiker Histiaios und der Rhetor Dionysodoros. Dem Bräutigam Chaireas zu Gefallen saß auch der Platoniker Ion, sein Lehrer, mit an der Tafel, ehrwürdig anzuschauen, jeder Zoll divin, und mit dem Ausdruck höchster Sittlichkeit auf dem Gesicht: Schließlich nennen ihn die meisten ja auch ‚Maßstab’ mit Blick auf die Geradheit seiner Anschauungen. Bei seiner Ankunft machten ihm alle Platz und begrüßten ihn wie einen von den Mächtigen, kurz: der Herrgott auf Besuch, das war’s, dass der vielbestaunte Ion gekommen war.“ Schon als es um die Sitzordnung bei Tisch geht, fangen die hohen Herren an zu streiten. Und dann geht der Ärger mächtig weiter: Der eine Philosoph macht spitze Bemerkungen über die Essgewohnheiten der Konkurrenz, der andere bändelt mit einem hübschen jungen Diener an, der uneingeladen kommende Kyniker Alkidamas attackiert systematisch alle Anwesenden, der nicht eingeladene Stoiker Hetoimokles lässt einen beleidigten Brief verlesen, in dem er unter anderem den Sohn des Aristainetos der Unzucht mit seinem philosophischen Lehrer Diphilos bezichtigt, der Grammatiker Histiaios rezitiert eigene Gedichte.

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Der Trubel wird immer heftiger, die Aggressionen schaukeln sich immer höher. Die Philosophen beschuldigen sich gegenseitig der Tempelschändung, der Unzucht, der Zuhälterei, des Wuchers und schließlich gar des Giftmordes: „Und mit diesen Worten schüttete Zenothemis den anderen den Rest seines Bechers, fast noch die Hälfte, über den Kopf. Auch Ion, der daneben saß, bekam seinen Anteil ab, und verdient hatte er es durchaus. Hermon beugte sich vor, um sich den Wein vom Kopf zu wischen, und rief die Anwesenden zu Zeugen an für das, was ihm passiert war. Kleodemos, der keinen Becher hatte, drehte sich zu Zenothemis um, bespuckte ihn und packte ihn mit der Linken am Bart, um ihm ins Gesicht zu schlagen, und er hätte den Alten umgebracht, wenn Aristainetos ihm nicht die Hand festgehalten hätte, über Zenothemis hinübergeklettert wäre und sich zwischen sie gelegt hätte, damit sie mit ihm als Sperrmauer Frieden halten mußten.“ Schließlich kommt es zu einer finalen Schlacht um ein Brathühnchen, bei der ein fliegender Pokal dem ganz unbeteiligten Bräutigam den Schädel spaltet. Doch damit nicht genug: „Bei all dem zeichnete sich Alkidamas als Kampfgenosse des Zenothemis aus und zertrümmerte dem Kleodemos mit seinem Knüppel den Schädel, dem Hermon zermalmte er den Kiefer, und er verwundete einige der Diener, die ihnen zu helfen versuchten: die anderen ließen sich allerdings nicht so leicht in die Flucht schlagen, im Gegenteil! Kleodemos bohrte dem Zenothemis mit gestrecktem Zeigefinger das Auge aus, packte ihn an der Nase und biß sie ihm ab, und Hermon warf den Diphilos, der zur Unterstützung des Zenothemis herbeieilte, kopfüber vom Speisesofa herunter. Auch Histiaios der Grammatiker wurde bei dem Versuch, sie zu trennen, verwundet, indem er, glaube ich, von Kleodemos, der ihn für Diphilos hielt, einen Tritt in die Zähne bekam. Da lag er nun, der Arme, und „spie noch Blut“, genau wie es bei seinem Homer steht. Kurz, ein gewaltiges Durcheinander und Geheule. Die Frauen flatterten um Chaireas herum und schrieen und jammerten, die übrigen versuchten zu schlichten. Das größte Übel von allen stellte Alkidamas dar, der, da er sich nun einmal seiner Lieblingsbeschäftigung zugewandt hatte, jeden, der ihm in den Weg kam, verprügelte. Und viele wären zu Boden gegangen, da kannst du sicher sein, wenn er nicht seinen Knüppel zerbrochen hätte. Ich drückte mich an die Wand und beobachtete alles, ohne mich einzumischen, wohl belehrt durch das Beispiel des Histiaios, wie riskant es ist, in einer solchen Situation vermitteln zu wollen. Lapithen und Kentauren hättest du nun hier sehen können, umgekippte Tische, Blut in Strömen, Pokale im Flug. Zuletzt warf Alkidamas die Lampe um und stürzte alles in tiefe Dunkelheit, wodurch die Sache natürlich nur um so schlimmer wurde. Denn so schnell hatten sie kein anderes Licht zur Hand, und viele schreckliche Dinge geschahen in der Dunkelheit. Und als endlich einer kam und Licht brachte, ertappten wir Alkidamas dabei, wie er gerade die Flötenspielerin auszog und vergewaltigen wollte, und Dionysodoros wurde bei einer anderen spaßigen Sache erwischt: ihm fiel nämlich beim Aufstehen ein Pokal aus dem Mantel. Er redete sich dann damit heraus, Ion habe ihn an sich genommen und ihm in der Aufregung gegeben, damit er nicht verloren ginge, und Ion, rührend besorgt, bestätigte das.“

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So endet das Gastmahl der Gebildeten in einem völligen Desaster. Lykinos bringt die Problematik seinem Freund Philon gegenüber, dem er von dem Fest erzählt, folgendermaßen auf den Punkt: „Währenddessen, Philon, gingen mir die verschiedensten Überlegungen durch den Kopf, zuerst jene naheliegende, daß ein großes Wissen, wie man sieht, zu überhaupt nichts nutze ist, wenn man nicht auch sein Leben zum Besseren hin ordnet. Jedenfalls mußte ich mit ansehen, wie diese Leute, die großartig im Reden waren, sich dem Gelächter preisgaben, wenn es zum Handeln kam. Dann fragte ich mich, ob vielleicht wahr ist, was so viele Leute sagen, daß die Bildung diejenigen, die immer nur in ihre Bücher und auf die Gedanken darin starren, vom Weg der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes abbringt. Jedenfalls waren hier so viele Philosophen versammelt, und das Schicksal wollte es, daß darunter nicht ein einziger ohne Fehl zu sehen war, sondern die einen taten Peinliches, die anderen sagten noch Peinlicheres. Eine verkehrte Welt also! Die Privatleute unter den Gästen verhielten sich so ordentlich, wie es sich für ein Fest gehört, man konnte sehen, daß sie weder betrunken waren noch sich gehen ließen. Sie lachten nur und blickten, glaube ich, voller Verachtung auf die anderen, die ich doch immer bewundert hatte, in dem Glauben, es  handle sich um Leute von Format. Währenddessen vergaßen die weisen Männer jede Zurückhaltung, beschimpften einander, schlugen sich die Bäuche voll, pöbelten herum und wurden handgreiflich. Der herrliche Alkidamas pinkelte sogar mitten in den Saal, ohne Rücksicht auf die Frauen.“

Trotz dieser peinvollen Einsicht hält Lykinos jedoch still. Weder versucht er auch nur ansatzweise, das aufkommende Gezänk zu schlichten, noch greift er später vermittelnd  in die Auseinandersetzungen ein, denn (Sie haben es ja schon gehört): „Ich drückte mich an die Wand und beobachtete alles, ohne mich einzumischen, wohl belehrt durch das Beispiel des Histiaios, wie riskant es ist, in einer solchen Situation vermitteln zu wollen.“ Das ist an sich bestimmt ein guter Grund. Aber Lykinos’ Gesprächspartner Philon unterstellte ihm schon zu Beginn seiner Erzählung noch ein ganz anderes Motiv. Lykinos will nämlich zuerst gar nicht so recht heraus mit der Sprache. Viel zu peinlich sei das alles gewesen, als dass man es nun auch noch breittreten und herumtratschen müsse. Darauf Philon: „Du zierst dich, Lykinos! Aber vor mir brauchst du jedenfalls nicht so zu tun, vor mir, der ich ganz genau weiß, daß du noch viel mehr darauf erpicht bist zu erzählen, als ich zu hören, und ich habe den Eindruck, du würdest dich, wenn dir die Zuhörer ausgingen, ebenso gern an eine Säule oder Statue wenden und alles hintereinanderweg und ohne Luft zu holen heraussprudeln. Ich wette, wenn ich jetzt gehen will, dann wirst du mich nicht lassen, bevor ich nicht alles gehört habe, sondern du wirst mitgehen und mir nachlaufen und bitten und betteln. Und dann bin ich an der Reihe damit, mich zu zieren.“ Ist also Lykinos’ Empörung wenigstens ein bisschen auch nur gespielt? Macht es ihm nicht Freude, die Skandalgeschichten weiterzuerzählen? Ja, mehr noch: Lässt er die Dinge nicht sogar eskalieren, obwohl es in seiner Macht gelegen hätte, das Schlimmste zu verhindern? 

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Immerhin war sein Platz unmittelbar neben dem Bräutigam, mitten unter den Philosophen, zu denen er offensichtlich gerechnet werden soll, also doch an herausgehobener Stelle. Lykinos ist offensichtlich kein nachrangiger Gast. Nichtsdestoweniger scheint er es nicht für seine Aufgabe zu halten, sich einzumischen. Aber hatte er nicht eben noch selbst gesagt: „Jedenfalls durfte ich sehen, wie diese Leute, die großartig im Reden waren, sich dem Gelächter preisgaben, wenn es zum Handeln kam“? Und hatte er nicht gegenüber Hermotimos ebenfalls auf dem Primat des Handelns insistiert: „Dabei hast duaber nicht bedacht, meine ich, daß die Vollkommenheit in der Tat liegt, also darin, gerecht, weise und tapfer zu handeln“?

Erneut stoßen wir also auf eine Ironisierung der scheinbar unangefochtenen und überlegenen Bildungsposition des Lykinos, dessen äußerste Zurückhaltung bei diesem Fest noch stärker auffällt, wenn man sie mit der Lebhaftigkeit der Anteilnahme, ja geradezu Dominanz des Sokrates in Platons Symposion, Lukians wichtigster klassischer Vorlage, vergleicht. Wieder ist Lykinos als Intellektueller im umfassenden Sinne des Gebildeten, des pepaideuménos, nicht über jeden Tadel erhaben. Das mag gleichwohl auch daran liegen, dass er bei diesem Gastmahl mit Leuten konfrontiert ist, die sich wahrscheinlich kaum aus ihrer geradezu grotesken Fixierung auf die agonale Auseinandersetzung herausholen lassen würden, so überzeugt sind sie von der Richtigkeit ihrer Position, von der Wichtigkeit ihrer Person. Gerade in dieser Borniertheit, in dieser Weigerung, eine kritische Distanz zu sich selbst und ihren Ansichten einzunehmen, besteht im letzten ihre Unbildung. Wie anders doch Hermotimos, der jener Diskussion, die ihm seine weitere Hinwendung zur Philosophie unmöglich machen sollte, am Ende doch nicht aus dem Weg ging! Allerdings ließ sich auch in diesem Fall ein Einwand erheben, nämlich der, dass er von seinen Ansichten und seiner Lebenswahl viel zu schnell und viel zu naiv abrückte.

Die Wahrheit, das heißt: die richtige Haltung scheint also in der Mitte zu liegen. Doktrinäre Verstocktheit ist für einen Intellektuellen genauso unangemessen wie allzu leichtgläubige Hingabe an die Bildungsüberlegenheit anderer, blindes und kritikloses Vertrauen in die Argumente anderer ist genauso ein Ausweis intellektueller Defizienz wie die entschiedene Weigerung, fremde Auffassungen auch nur zur Kenntnis zu nehmen und bereits allein die Tatsache, dass es andere Auffassungen sind, zum Gegenstand wüster persönlicher Polemik zu machen. Zeichnet sich also hier ab, dass der wahre Intellektuelle zwischen diesen Extremen eine vermittelnde Einstellung zu finden hat, dann mag hierin auch der Schlüssel liegen für ein Verständnis der ironischen Demontage des Intellektuellen Lykinos: Auch in seinem aktiven Ausspielen und Vorführen seiner Bildung muss der Intellektuelle eine Mitte finden zwischen der Verlockung, im Wettkampf der Gebildeten stets und über jeden Sieger sein zu wollen, und dem Rückzug auf eine bloße Beobachterposition, die am Ende eben doch nur mangelndes ethisches und soziales Engagement verrät.

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Dem Bild des Intellektuellen, das wir bei Lukian finden, wären daher zwei weitere Aspekte hinzuzufügen: die Notwendigkeit eines selbstbewussten, aber doch zugleich selbstkritischen Auftretens zum einen, zum anderen die Freude an der gebildeten Auseinandersetzung, die doch auf ironische Selbstbeobachtung und auf Distanznahme zu sich selbst nicht verzichtet.

Literaturhinweise
Lukian, Werke in drei Bänden, übers. C. M. Wieland, Berlin 1974
Lukian, Hermotimos oder Lohnt es sich, Philosophie zu studieren, übers. P. v. Möllendorff, Darmstadt 2000
Lukian. Gegen den ungebildeten Büchernarren, übers. P. v. Möllendorff, Zürich/Düsseldorf 2006

Empfehlenswerte Sekundärliteratur
J. Bompaire, Lucien écrivain. Imitation et création, Paris 1958.
J. Hahn, Der Philosoph und die Gesellschaft. Selbstverständnis, öffentliches Auftreten und populäre Erwartungen in der hohen Kaiserzeit, Stuttgart 1989
J. Hall, Lucian’s Satire, New York 1981
C. P. Jones, Culture and Society in Lucian, Cambridge (Mass.) 1986
T. Schmitz, Bildung und Macht. Zur sozialen und politischen Funktion der zweiten Sophistik in der griechischen Welt der Kaiserzeit, München 1997

 

Prof. Dr. Peter von Möllendorff
Institut für Altertumswissensschaften
Justus-Liebig-Universität Gießen
Otto-Behaghel-Str. 10, Haus G
35394 Gießen
E-mail: peter.v.moellendorff@klassphil.uni-giessen.de