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                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 115

Nikolaus Ruf - Augustus und der Prinzipat - Teil 2
zurueck zu Teil 1



(3) Religiosität und Götterkult

Quellen

Q 3.1: Augustus, r. gest. 3 (Zusatz)(1): refecit Capitolium sacrasque aedes numero octoginta duas.

Übersetzen Sie den Text.

Q 3.2: Horaz, carm. saec.(2)

 

    Phoebe silvarumque potens Diana,
    lucidum caeli decus, o colendi
    semper et culti, date quae precamur
         tempore sacro,

  

 

Phoibos und du, der Wälder Herrin, Diana,
leuchtende Himmelszier, o ihr, zu verehren
stets und stets verehret, gewährt, was wir erbitten
          zu heiliger Festzeit,

 

5  quo Sibyllini monuere versus
    virgines lectas puerosque castos
    dis, quibus septem placuere colles,
         dicere carmen.

 

 

da ermahnten die sibyllinischen Sprüche
ausgewählte Jungfrauen und reine Knaben
sollten den Göttern, die Gefallen gefunden an den sieben Hügeln,
          singen ein Preislied:

 

    alme Sol, curru nitido diem qui
10 promis et celas aliusque et idem
    nasceris, possis nihil urbe Roma
         visere maius.

 

 

Wohltätige SONNE, die auf leuchtendem Wagen den Tag du
Heraufführst und wieder verbirgst, die du eine andere stets und                    stets doch dieselbe
verjüngt entstehst, mögest du neben der Stadt Rom nichts können
          erblicken Größeres.

 

    Rite maturos aperire partus
    lenis, Ilithyia, tuere matres,
15 sive tu Lucina probas vocari
         seu Genitalis:

 

 

Dass ihre Niederkunft recht gedeihe,
sieh mild, Eileithyia, hin auf die Mütter,
sei´s dass du lieber „Lucina“ lässest dich nennen,
          sei´s lieber „Erzeugerin“:

 

    diva, producas subolem patrumque
    prosperes decreta super iugandis
    feminis prolisque novae feraci
20     lege marita,

 

 

Göttin, bringe Nachwuchs hervor, und der Väter
Entschlüsse lass gedeihn für die Verbindung
der Mädchen für die neue Nachkommenschaft fruchtbar
          nach ehelichem Gesetze,

 

    certus undenos deciens per annos
    orbis ut cantus referatque ludos
    ter die claro totiensque grata
         nocte frequentis.

 

 

auf dass, ist geschlossen von elf Jahrzehnten
der Kreis, er das Festlied erneure und die Feiern,
die dreifach am strahlenden Tag und ebenso oft in holder
          Nacht sich erfüllen.

 

25 Vosque, veraces cecinisse Parcae,
    quod semel dictum est stabilisque rerum
    terminus servet, bona iam peractis
         iungite fata.

 

 

Ihr auch, die wahr ihr gesungen, ihr Parzen,
was einmal gesagt ist und fest der Grenzen
Hort bewahren möge: gut an die schon vergangenen
          fügt nun die Geschicke.

 

    Fertilis frugum pecorisque Tellus
30 spicea donet Cererem corona;
    nutriant fetus et aquae salubres
              et Iovis aurae.

 

 

Reich an Frucht und Vieh möge Tellus
zieren Ceres mit dem Ährenkranz,
nähren mögen die Keime heilsame Wasser
          und Jupiters Lüfte.

 

    condito mitis placidusque telo
    supplices audi pueros, Apollo;
35 siderum regina bicornis, audi,
          Luna, puellas.

 

 

Gesenkt den Bogen, mild und freundlich
die bittenden Knaben höre, Apoll;
der Gestirne Königin im Schmuck des Doppelhorns, höre,
          Mondgöttin, die Mädchen.

 

    Roma si vestrum est opus Iliaeque
    litus Etruscum tenuere turmae,
    iussa pars mutare lares et urbem
40     sospite cursu,

 

 

Ist Rom euer Werk und haben von Ilion
Erreicht den etruskischen Strand die Scharen,
geheißen sie zu wechseln Laren und Stadt
          auf sicherer Fahrt,

 

    cui per ardentem sine fraude Troiam
    castus Aeneas patriae superstes
    liberum munivit iter, daturus
          plura relictis:

 

 

denen ohne Schaden durch das brennende Troia
der schuldlose Aeneas, die Heimat überlebend,
freien Pfad gebahnt, dereinst zu geben
          Größeres als das Verlassene:

 

45 di, probos mores docili iuventae,
    di, senectuti placidae quietem,
    Romulae genti date remque prolemque
          et decus omne.

 

 

Ihr Götter, schenkt Redlichkeit der Jugend, die zu lernen bereit,
ihr Götter, schenkt dem ruhigen Alter Stille
dem Volke des Romulus gewährt Gedeihen und Nachwuchs
          und jegliches Heil.

 

    Quaeque vos bobus veneratur albis
50 clarus Anchisae Venerisque sanguis,
    impetret, bellante prior, iacentem
          lenis in hostem.

 

 

Und was erfleht von euch mit weißer Rinder Weihung
des Anchises und der Venus edler Spross,
mög er´s erlangen, dem Gegner übermächtig, dem überwundenen
          Feinde mild.

 

    iam mari terraque manus potentis
    Medus Albanasque timet securis,
55 iam Scythae responsa petunt, superbi
          nuper et Indi.

 

 

Schon zu Meer und zu Land unsere mächtigen Scharen
der Meder fürchtet und auch die Beile von Alba;
schon bitten die Skythen um Antwort, die stolzen
          Inder nun auch;

 

    iam Fides et Pax et Honos Pudorque
    priscus et neglecta redire Virtus
    audet adparetque beata pleno
60      Copia cornu.

 

 

schon TREUE und FRIEDE und EHRE und SCHAM
wie in alter Zeit und auch die verschmähte TUGEND wiederzukehren
wagen, und es erscheint segensreich mit vollem
          Füllhorn der REICHTUM.

 

    Augur et fulgente decorus arcu
    Phoebus acceptusque novem Camenis,
    qui salutari levat arte fessos
          corporis artus,

 

 

Der Seher im Schmuck des glänzenden Bogens,
Phoibos, Freund der neun Musen,
der mit heilender Kunst erleichtert die ermüdeten
          Glieder des Körpers,

 

65 si Palatinas videt aequos aras,
    remque Romanam Latiumque felix
    alterum in lustrum meliusque semper
          prorogat aevum,

 

 

So wahr er schaut voll Huld die palatinischen Altäre:
Roms Reich und Latium segensreich
führt er hinein in neue Jahre, in immer bessere
          ewige Zeiten;

 

    quaeque Aventinum tenet Algidumque,
70 quindecim Diana preces virorum
    curat et votis puerorum amicas
          adplicat auris.

 

 

die da den Aventin beherrscht und den Algidus,
Diana, hat auf die Bitte der Fünfzehn Männer
acht, und den Gebeten der Knaben freundliches
          Gehör gewährt sie.

 

    Haec Iovem sentire deosque cunctos
    spem bonam certamque domum reporto,
75 doctus et Phoebi chorus et Diana
          dicere laudes.

 

 

Dass alles dies Jupiter beschließt und mit ihm alle Götter,
diese gute gewisse Hoffnung trage ich heim,
der Chor, gelehrt, des Phiobos und der Diana
          Lob zu singen.


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Q 3.3: Ara pacis(3)

Links: http://www.hardav.co.uk/group7/Ara%20pacis%20back%20view.jpg
http://wings.buffalo.edu/AandL/Maecenas/black/ara_pacis/ab661132.jpg
http://www.wiw.pl/kulturaantyczna/twardecki/pict/zoom/Romaet28.jpg

Q 3.4: Ara pacis – Detail Ostseite(4)

Link: http://cache.eb.com/eb/image?id=3980

Aufgaben

(1) Augustus ist ganz besonders an einer sittlich-moralisch-religiösen Erneuerung im Sinne einer Rückbesinnung auf den mos maiorum gelegen: Die Männer werden zum Anlegen der stoffreichen, lästigen Toga verpflichtet, die Frauen zum Tragen der flach fallenden Stola – das Synonym für weibliche Tugend und Scham; alte Kulte werden wiederbelebt und zerstörte Tempel in beeindruckender Zahl wieder aufgebaut. Bearbeiten Sie Q 3.1.
(2) Nach zehn Jahren religiös-moralischer Erneuerung entfalten Bauten, Bilder, Opfer und Feste allmählich ihre Überzeugungskraft: Zuversicht in den neuen Staat und Vertrauen in den Princeps wachsen, jeder kann die Erfolge am eigenen Leib erfahren. Jetzt wird es nötig, Bilder und Symbole zu finden, die die Wirklichkeit überhöhen, den Glückszustand der Gegenwart als das erreichte Ziel der Geschichte Roms beschwören und sich tief in die kollektive und individuelle Wahrnehmung einprägen.
(2.1) Für 17 v. Chr. ist ein Komet angesagt – wie damals bei Caesars Tod: Was liegt näher als für die Zeit vom 30. Mai bis 3. Juni desselben Jahres ein Säkularfest anzukündigen und damit das neue Zeitalter für angebrochen zu erklären? Säkularfeste fanden alle 110 Jahre zur Versöhnung der unterirdischen Götter statt, das letzte lag jedoch schon 136 Jahre zurück und wurde während des Krieges gegen die Karthager ausgerichtet; die mathematisch-theologische Begründung für den jetzt so günstigen politischen Zeitpunkt war sicher nicht leicht. Dennoch: Herolde in alter Tracht ziehen aus, um das Fest anzukündigen. Vor Beginn verteilen die zuständigen quindecimviri, die Fünfzehnmänner, unter ihnen Augustus, Sühne- und Reinigungsmittel: Schwefel, Erdpech und Fackeln, mit denen sich jeder in privatem Ritual zu reinigen hat; Augustus selbst wirkt stundenlang an diesem beeindruckenden, feierlichen Vorgang mit. Das eigentliche Fest ist eine Abfolge großartiger Inszenierungen mit ausdruckstarken Bildern an ausgewählten Heiligtümern und Kultplätzen.
In der ersten Nacht werden den Parzen neun Schafe und neun Ziegen geopfert. Augustus spricht dabei ein mit uralten Formeln durchsetztes Gebet für imperium und maiestas der Römer, für Wohlergehen, Sieg und Gesundheit des Volkes und der Legionen, die Mehrung des Reichs, die Priesterschaften und zuletzt explizit für sich, sein Haus und seine Familie. In den folgenden Nächten werden die Geburtsgöttin Ilithyia und Terra Mater angerufen, der Augustus eigenhändig in einem archaischen Ritual eine trächtige Sau opfert.
Die Tagszenen sind kaum weniger beeindruckend: Am ersten und zweiten Tag finden Opfer für Iuppiter und Iuno Regina auf dem Kapitol statt, am dritten Tag für Apollo, Diana und Latona auf dem Palatin. In deren Tempel werden unter den Kultbildern die neu redigierten sibyllinischen Bücher in goldenen Behältern aufbewahrt, die uralten, Roms Zukunft und Größe sichernden Weissagungen. Augustus steht selbst am Opferaltar: zwei Ochsen für Iuppiter, zwei Kühe für Iuno, libum (Opferkuchen) für Apollo und Diana. Abschließend singt auf dem Palatin ein Chor von je drei mal neun strahlend weiß gekleideten Knaben und Mädchen das vom Dichter Horaz für diesen Anlass gedichtete Festlied, das Carmen saeculare, das auf dem Kapitol wiederholt wird(5).


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(2.1.1) Schreiben Sie alle Götter, denen im Verlauf des Festes geopfert wird, sowie die im Carmen saeculare (Q. 3.2) angerufenen heraus und informieren Sie sich über deren Bedeutung bzw. Zuständigkeiten. Leiten Sie daraus zwei Aspekte ab, die in dieser Säkularfeier offensichtlich im Vordergrund stehen; begründen Sie Ihre Einschätzung.
(2.1.2) Gliedern Sie das Carmen saeculare in maximal sieben bis acht Abschnitte (Q 3.2); formulieren Sie zusammenfassende Überschriften für die einzelnen Abschnitte und nennen Sie lateinische Schlüsselwörter. Beschreiben Sie Regelmäßigkeiten bzw. Symmetrien oder Entsprechungen z.B. in Strophenzahl, Inhalt etc. Versuchen Sie, den einzelnen Abschnitten die Knaben- bzw. die Mädchenstimme oder den Gesamtchor zuzuordnen.
(2.1.3) Welches Bild bzw. Szene hätte Sie am nachhaltigsten beeindruckt? Schreiben Sie einen fiktiven Brief an einen abwesenden Freund, in dem Sie davon berichten (ca. 1 Seite).
(2.1.4) Führen Sie sich den äußeren Rahmen und die vollzogenen Handlungen der Säkularfeier als Ganzes vor Augen: Fassen Sie die Gesamtaussage dieses dreitägigen Gesamtkunstwerks prägnant zusammen.
(2.2) Im Jahr 9 v. Chr., d.h. acht Jahre nach dem Säkularfest, wird in Rom die Ara pacis, der Friedensaltar, eingeweiht; sie steht beim Augustusmausoleum auf dem Marsfeld am Tiber, wo sie heute in den erhaltenen Teilen neu restauriert zusammen mit der Inschrift des Rechenschaftsberichts des Princeps, der Res gestae, zu besichtigen ist.
Der eigentliche Opferaltar, zu dem nur die Priester über mehrere Stufen Zugang haben, befindet sich im Inneren der Anlage (Q 3.3). Die vier Außenwände sind in eine obere Hälfte mit Figurenreliefs und eine untere mit Pflanzenreliefs geteilt. Bei diesen handelt es sich um erfundene und reale Rankenpflanzen, zwischen denen sich allerlei Getier tummelt; dieser untere umlaufende Teil symbolisiert die paradiesische Üppigkeit des Goldenen Zeitalters, der aurea aetas.
(2.2.1) Verschaffen Sie sich mit Hilfe von Q 3.3. einen Überblick über die Figurendarstellungen der oberen Hälfte der Außenwände und über die innere und äußere Architektur. Welche Seite der Ara pacis erkennen Sie auf dem Photo?
(2.2.2) Zwischen den Einzeldarstellungen bestehen inhaltliche Bezüge, d.h. es liegt ein sog. Bildprogramm vor. Was ist das Thema des Bildprogramms? Übersetzen Sie die Gesamtaussage der Bilder in einen fünf bis sechs Sätze umfassenden Text.
(2.2.3) Q 3.4 zeigt ein Detail der Ostseite. Die Figur kann einerseits als personifizierte Italia identifiziert werden, wo Ochse und Schaf friedlich ruhen bzw. weiden. Andererseits ist auch die Deutung als Tellus = Terra mater möglich, denn seit alters wird sie auf einem Stein sitzend dargestellt.  


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Welche anderen Göttinnen erkennen Sie in derselben Figur, wenn Sie a) Gesicht, Körper und Bekleidung untersuchen, b) die beiden Kinder zum Ausgangspunkt Ihrer Interpretation machen, c) den blühenden Mohn und die Ähren im Hintergrund, die Früchte auf dem Schoß und den Haarkranz in Betracht ziehen (die Figuren links und rechts symbolisieren die Aurae: Land- und Seewind, die Regen und günstiges Wetter bringen)? Nehmen Sie als Führer Ihrer Interpretationsversuche das Carmen saeculare (Q 3.2) zur Hand und notieren Sie entsprechende Textstellen (Strophen- bzw. Versangabe, lateinische Schlüsselwörter).
(2.2.4) „In der traditionellen Götterikonographie(6) konnte eine bestimmte Haltung, z.B. Demeters Sitzen auf der Erde, Kleidung oder Attribut, beim Betrachter den ganzen Mythos evozieren. Die neuen Gottheiten aber verkörpern keine mythischen Gestalten mehr, sondern Werte und Kräfte, die nur mit Attributen umschrieben werden können. Das gilt für alle Personifikationen der römischen Kunst.“(7)
Welche „neue Gottheit“ könnte – ausgehend vom Namen des Altars – durch diese Figur personifiziert dargestellt sein? Halten Sie in Form einer mindmap alle Werte und Kräfte fest, die Sie unter Berücksichtigung Ihrer Ergebnisse aus 2.2.3 mit dieser Figur assoziieren; nennen Sie möglichst die lateinischen Ausdrücke.

 

(4) Familienpolitik

Quellen

Q 4.1: Horaz, carm. 3,6(8)

     Delicta maiorum inmeritus lues,
     Romane, donec templa refeceris
          aedisque labentis deorum et
              foeda nigro simulacra fumo.

  

 

5   dis te minorem quod geris, imperas.
     hinc omne principium, huc refer exitum!
          di multa neclecti dederunt
              Hesperiae mala luctuosae.

 

 

     iam bis Monaeses et Pacori manus
10 inauspicatos contudit impetus
          nostros et adiecisse praedam
              torquibus exiguis renidet.

 

Schon zweimal hat Monaises und des Pakoros Schar
ohne günstige Götterweisung geführte Attacken vereitelt,
          die wir gewagt, und beigefügt zu haben die Beute
              ihren ärmlichen Halsketten hohnlachen sie.

     paene occupatam seditionibus
     delevit urbem Dacus et Aethiops,
15      hic classe formidatus, ille
              missilibus melior sagittis.

 

Fast hätten, da sie befangen war in Aufruhr,
zerstört die Stadt der Daker und der Äthiopier,
          dieser durch seine Flotte fürchterlich, jener
              überlegen im Pfeilschuss.

     fecunda culpae saecula nuptias
     primum inquinavere et genus et domos:
          hoc fonte derivata clades
20           in patriam populumque fluxit.

 

 

     motus doceri gaudet Ionicos
     matura virgo et fingitur artibus
          iam nunc et incestos amores
              de tenero meditatur ungui.

 

Ioniertänze zu lernen, freut sich
die heranwachsende Jungfrau, übt in Verführungskünsten sich
          schon jetzt, auf unreine Liebe
              sinnt sie von zartestem Alter an.

25 mox iuniores quaerit adulteros
     inter mariti vina neque eligit,
          cui donet inpermissa raptim
              gaudia luminibus remotis

 

Bald sucht sie sich jüngere Liebhaber
beim Weingelage des Gatten und ist nicht wählerisch,
          wem sie wohl gewähre in Hast unerlaubte
              Freuden, wenn die Lichter entfernt,

     sed iussa coram non sine conscio
30 surgit marito, seu vocat institor
          seu navis Hispanae magister,
              dedecorum pretiosus emptor.

 

nein, aufgefordert vor aller Augen, nicht ohne Mitwissen
des Gatten, erhebt sie sich, sei´s dass sie ruft ein Krämer
          oder eines spanischen Schiffes Eigner,
              ihre Schande freigiebiger Käufer.

     non his iuventus orta parentibus
     infecit aequor sanguine Punico
35      Pyrrhumque et ingentem cecidit
              Antiochum Hannibalemque dirum;

 

Nicht stammte jene Jugend von solchen Eltern,
die färbte das Meer mit dem Blute der Punier,
          die den Pyrrhos geschlagen und den gewaltigen
              Antiochos und Hannibal, den Grausen

     sed rusticorum mascula militum
     proles, Sabellis docta ligonibus
          versare glaebas et severae
40           matris ad arbitrium recisos

 

nein, es war ländlicher Soldaten männliche
Nachkommenschaft, geübt, mit sabinischen Spaten
          zu wenden die Schollen und nach der gestrengen
              Mutter Geheiß niedergehauene

     portare fustis, sol ubi montium
     mutaret umbras et iuga demeret
          bobus fatigatis, amicum
              tempus agens abeunte curru.

 

Stämme heimzutragen, wenn die Sonne der Berge
Schatten wandern ließ und die Joche abnahm
          den ermüdeten Ochsen, die angenehme
              Stunde bringend, da sich entfernt der Sonnenwagen

45 damnosa quid non inminuit dies?
     aetas parentum, peior avis, tulit
          nos nequiores, mox daturos
              progeniem vitiosiorem.

 

Schadenstiftend was verschlechtert nicht die Zeit?
Die Generation der Eltern, schlechter als die der Großeltern, hat geboren
          uns, die böser sind, bald aber hervorbringen werden
              ein neues Geschlecht voll schlimmerer Laster.


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 119

Q 4.2: Ehegesetze des Augustus(9)
Lex Iulia de maritandis ordinibus: Im Jahre 18 beantragte Augustus das neue Grundgesetz über die Ehe („Julisches Gesetz über die Eheordnung“, lex Iulia de maritandis ordinibus); es wurde eine Generation später, im Jahre 9 n. Chr., durch ein von den Konsuln des Jahres, Marcus Papius Mutilus und Quintus Poppaeus Secundus, eingebrachtes Ehegesetz (lex Papia Poppaea nuptialis) erweitert, ergänzt und korrigiert. Wegen der schlechten Überlieferung des ersten Gesetzes, das durch das zweite überlagert und darum weniger gut bekannt ist, lässt sich schwer getrennt über die beiden Gesetze berichten.
Die Gesetzgebung galt für alle Römer gleichermaßen, für Fremde hingegen nicht. Wie schon die Strafsentenzen zeigen, zielte das Gesetz jedoch in erster Linie auf die Senatoren. Als Kernpunkte der gesamten Gesetzgebung sind der Zwang zur Ehe und das Gebot der Zeugung anzusehen. Die Ungeheuerlichkeit dieses Eingriffs in die Privatsphäre wurde durch die detaillierten gesetzlichen Bestimmungen nicht etwa abgemildert, sondern noch unterstrichen. Jeder Römer im ehefähigen Alter, Männer vom 25. bis zum 60., Frauen vom 20. bis zum 50. Lebensjahr, hatte verheiratet zu sein. Starb ein Ehepartner oder wurde die Ehe geschieden, musste sich der Mann innerhalb von 100 Tagen wieder verheiraten; der Frau gewährte der Gesetzgeber für die Wiederheirat großzügig eine Frist von zunächst einem Jahr, später zwei Jahren nach dem Tode des Ehemanns, bei Scheidung nur von zunächst sechs, dann 18 Monaten. Dazu wurden etliche, zum Teil jahrhundertealte Rechtsvorschriften, die die Heirat erschweren konnten, außer Kraft gesetzt. So konnte die Weigerung des Vaters, seine Tochter in die Ehe zu geben und ihr die Mitgift auszuhändigen, durch die Bestellung eines besonderen Vormunds für die Tochter von seiten eines Magistrats umgangen und damit das Institut der väterlichen Gewalt (patria potestas) für diesen Fall außer Kraft gesetzt werden. Die Forderung, Nachkommen zu zeugen, wurde durch das Gebot präzisiert, mindestens drei Kinder in die Welt zu setzen, der Freigelassene erhielt eine Art Malus durch die Forderung nach vier Kindern. Blieb die Ehe kinderlos, sollte sie nach einer bestimmten Frist aufgelöst und eine neue Ehe eingegangen werden. Um die senatorischen Familien von Personen mit üblem Leumund oder geringer Herkunft rein zuhalten, wurde den Senatoren und ihren weiblichen Angehörigen, aber nur ihnen, nicht auch den anderen Römern, die Heirat mit Freigelassenen oder Schauspielern untersagt; allen Römern war es hingegen verboten, Prostituierte, deren Vermittler (Kuppler) oder überführte Ehebrecherinnen zu heiraten.


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 120

Die Verweigerung der Ehe hatte allerdings keine unmittelbaren Rechtsfolgen, und auch die gegen eines der Verbote eingegangene oder aufrechterhaltene Ehe blieb rechtsgültig; das konnte schon deswegen nicht anders sein, weil bei dem Mangel einer umfassenden Kontrollmöglichkeit andernfalls eine große Rechtsunsicherheit entstanden wäre. Die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen suchte Augustus daher – außer durch gesellschaftlichen Boykott, auf den er jedoch wegen der Unbeliebtheit der Gesetze nicht recht vertrauen konnte – durch Strafen und Belohnungen zu erreichen. Wer im ehefähigen Alter nicht verheiratet war, durfte nicht an den Spielen teilnehmen; diese Maßnahme wurde später abgemildert. Der Senator, der weniger Kinder hatte, als das Gesetz forderte, musste in der Ämterlaufbahn erhebliche Nachteile hinnehmen, während umgekehrt der mit hinreichend Kindern gesegnete Senator privilegiert wurde. So hatte der Konsul mit der geforderten Kinderzahl den Vortritt vor dem kinderarmen Kollegen, und der kinderreiche durfte sich seine Provinz aussuchen und sich um so viele Jahre vor dem gesetzlich vorgesehenen Termin um sein Amt bewerben, wie er Kinder hatte.

Lex Iulia de adulteriis coercendis: Seiner Schnüffelei in den Ehebetten der hohen Gesellschaft setzte Augustus durch die Kriminalisierung des Ehebruchs die Krone auf. Ehebruch war früher durch das Hausgericht des Ehemanns, der die des Ehebruchs überführte Gattin verstieß, oder durch Tötung des auf frischer Tat ertappten Ehebrechers, also durch Selbsthilfe, geahndet worden – oder eben auch nicht. Im öffentlichen Bereich wurde höchstens in besonders drastischen Fällen einmal eine Buße verhängt, doch war die spätere Republik in der Verfolgung des Ehebruchs eher lässig. Der unsittliche Lebenswandel ist nur gelegentlich durch die Zensoren öffentlich gerügt worden, die bei der von ihnen vorgenommenen Überprüfung der Senatsliste in dieser Hinsicht besonders auffällige Senatoren aus dem Senat entfernten. Das wurde jetzt anders.
Durch ein von Augustus selbst eingebrachtes Gesetz „über die Eindämmung des Ehebruchs“ (lex Iulia de adulteriis coercendis), das wohl noch in das Jahr 18 gehört, wurde der Ehebruch (adulterium) ebenso wie der nichteheliche Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau sowie sexuelle Beziehungen zwischen freien Männern (stuprum), aber auch die Kuppelei (lenocinium) zu einem strafrechtlichen Tatbestand. Das Gesetz über den Ehebruch zielte auf die Frau, die allein die Deszendenz in der Familie sicherte, und auf den Ehemann nur, sofern er in eine andere Ehe eindrang; die Untreue des Mannes gegenüber seiner eigenen Frau hingegen blieb straffrei. Das Anklagerecht kam jedem Bürger zu (Popularklage), doch standen dem Ehemann und demjenigen, in dessen Gewalt die Frau stand, ein Vorrecht bei der Anklageerhebung zu. Bei Überführung verlor der Mann die Hälfte seines Vermögens, die Frau die Hälfte ihrer Mitgift und ein Drittel des Vermögens. In besonderen Fällen scheint als Strafe bereits in diesem Gesetz die Verbannung an einen abgeschiedenen Ort (relegatio in insulam) vorgesehen gewesen zu sein. Für die prozessuale Behandlung des Delikts wurde eigens ein Gerichtshof für Ehebruch (quaestio de adulteriis) unter dem Vorsitz eines Prätors eingerichtet.


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 121

Die Ehegesetzgebung des Augustus war nicht nur für seine Zeitgenossen folgenreich. Sie bestand, teils verändert, bis in das 3. Jahrhundert hinein fort, in einzelnen Bestimmungen bis zum Ende des antiken Staates; die strafrechtliche Behandlung des Ehebruchs überlebte sogar die Antike.

Q 4.3: Augustusfamilie
Die Jahre 4 – 14 n. Chr. gelten als die Krisenzeit des augusteischen Principats. Äußere, meist militärische Misserfolge (z.B. die verheerende Niederlage im Teutoburger Wald im Jahr 9 n. Chr.), vor allem aber immer wieder neu ausbrechende Familienkonflikte trafen den Princeps empfindlich. Sie ergaben sich alle mehr oder weniger aus seinem schon lange vor dem Jahr 4 durch mehrere Fehlschläge immer wieder vereitelten Bemühen, einen ihm genehmen Nachfolger zu finden.
Seine Frau Livia hatte aus ihrer ersten Ehe mit Tiberius Claudius Nero einen Sohn desselben Namens. Schwanger mit ihrem zweiten Kind musste sie sich von ihrem Mann trennen und Augustus – damals noch Octavian - heiraten, nachdem sie ihn 38 v. Chr. kennen gelernt hatte. Dieser hatte seinerseits nach einjähriger Ehe die von ihm schwangere Scribonia verlassen. Drei Monate nach der Heirat brachte Livia ihren zweiten Sohn Drusus zur Welt – ganz Rom spottete über das „Dreimonatskind“ -, der seinem Vater Nero übergeben, nach dessen Tod jedoch von Augustus zusammen mit seinem älteren Bruder Tiberius adoptiert wurde.
Augustus hatte mit Livia keine Kinder, aus der vorangegangenen Ehe mit Scribonia jedoch eine Tochter: die ältere Julia (der „puer“ der - vor ihrer Geburt geschriebenen - vierten Ekloge Vergils). Diese verheiratete er mit Agrippa, der für Octavian in der Seeschlacht von Actium (31 v. Chr.) als Admiral die Entscheidung im Bürgerkrieg gegen Antonius errungen hatte. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor: Lucius, Caius, die jüngere Julia und Agrippa Postumus, dessen Beiname sich daraus erklärt, dass sein Vater bei seiner Geburt schon gestorben war.
Das Jahr 2 brachte schrille Misstöne und schwere Schläge: Die ältere Julia wurde wegen Ehebruchs von ihrem eigenen Vater auf die Insel Pandateria verbannt, ihr für die Nachfolge des Augustus ausersehener Sohn Lucius starb. Nachdem dann im Jahr 4 auch der an dessen Stelle getretene Bruder Caius gestorben war, adoptierte Augustus seinen - ungeliebten und unpopulären - Stiefsohn Tiberius. Aber auch danach riss die Serie der Missgeschicke und Skandale nicht ab. So verbannte Augustus in den Jahren 7 und 8 die zwei übrig gebliebenen Kinder der schon im Jahr 2 von ihm verbannten älteren Julia, seiner eigenen Tochter: die jüngere Julia und Agrippa Postumus.

Q 4.4: Ovids Exil
Das zweite, an Augustus adressierte Buch der Tristien besteht aus einem einzigen, langen, in Distichen geschriebenen Gedicht, in dem Ovid Umstände und mögliche Gründe seiner Verbannung andeutet.
Die Verbannung hat den Charakter einer relegatio (Personenstand und Vermögen bleiben erhalten; im festgelegten Verbannungsort und außerhalb des verbotenen Gebiets herrscht Freiheit:


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 122

Ovid übernimmt in Tomis Verwaltungsposten, hat dort auch Steuerfreiheit zugesprochen bekommen; ausgesprochen bei Unzucht, Verleumdung, Zauberei), sodass Ovid weiterhin publizieren kann. Die Relegation geht auf alleinige Veranlassung des Augustus zurück, d.h. sie erfolgt ohne einen Senats- bzw. Richterbeschluss (trist. 2,131). Ovid führt zwei Vergehen für seine Relegation an: duo crimina - carmen et error (trist. 2,207).
Mit carmen meint Ovid mit Sicherheit die um die Zeitenwende veröffentlichte Liebeskunst, die Ars amatoria. Er schreibt zum einen, er werde beschuldigt, „durch schändliche Dichtung Lehrer schamlosen Ehebruchs geworden zu sein: turpi carmine factus arguor obsceni doctor adulterii (trist. 2,211f.). Zum anderen schreibt er, der Kaiser tadele ihn wegen seiner „schon längst herausgegebenen Kunst: notaret iam pridem emissa Caesar ab Arte mea“ (trist. 2,7). Die Ars wird von Augustus also explizit als Relegationsgrund angeführt. Dies erscheint insbesondere mit Blick auf die strenge Ehegesetzgebung des Augustus plausibel, denn die Ars kann als Anleitung zum Ehebruch gelesen werden und zwischen den Zeilen lässt sich durchaus eine frivole Respektlosigkeit gegenüber dem hohen sittlichen Anspruch der kaiserlichen Ehegesetzgebung erkennen. Aber allein schon deshalb, weil Augustus diese Art der Polemik gegen sein Reformwerk mehrere Jahre lang nicht als strafwürdig angesehen hatte, darf man annehmen, dass die Ars nur ein Vorwand und der eigentliche Grund für die Relegation Ovids das andere der beiden ihm vorgeworfenen Vergehen ist.
Um diesen error ranken sich zwei mehr oder weniger plausible Spekulationen. Aus der Bemerkung Ovids, er habe etwas gesehen, was er nicht hätte sehen dürfen (trist. 2,103ff.), und dem direkt an diese Bemerkung anschließenden Vergleich seines Schicksals mit dem des mythischen Jägers Actaeon - er hatte aus purem Zufall die Jagdgöttin Diana nackt beim Baden gesehen und war als Strafe von dieser in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Jagdhunden zerfleischt worden (met. 3,138ff.) - wird eine unfreiwillige Kenntnis bzw. Beteiligung Ovids an einem Ehebruch der jüngeren Julia  konstruiert, zumal diese unmittelbar vor ihm im Jahr 7 von Augustus, ihrem eigenen Großvater, verbannt wird.
Diese Annahme wird durch eine weitere Textstelle erhärtet: In trist. 2,109 schreibt Ovid, ein schlimmes Versehen habe zu seiner Entfernung geführt: me malus abstulit error. Derselbe Vers findet sich bei Vergil, ecl. 8,41: Ein Hirte klagt, er habe sich in ein Mädchen verliebt, als er dieses zufällig zusammen mit dessen Mutter beim Aufsammeln taufeuchter Äpfel gesehen habe. Mit der Anspielung auf diese Vergilstelle wolle Ovid – so die Theorie – zu verstehen geben, dass er Einblick in geheime Liebschaften der älteren und jüngeren Julia bekommen habe, dies aber aus Zufall geschehen sei und deshalb seine Verbannung nicht rechtfertige.
Aus derselben Bemerkung wird eine ebenfalls zufällige Mitwisserschaft Ovids in einer heiklen Angelegenheit in der ohnehin sensiblen Frage der Nachfolge des Augustus konstruiert, durch die er in Konflikt mit dem Princeps gekommen sein soll.


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 123

Kurz nacheinander (im Jahr 2 bzw. 4) sterben die beiden männlichen Blutsverwandten des Augustus, seine Enkel Lucius und Caius. Deren jüngerer Bruder Agrippa Postumus kommt wegen seines jungen Alters für die Principatsnachfolge nicht in Frage. Zudem drängt die Zeit: Augustus befindet sich am Ende des siebten Lebensjahrzehnts. So kommt es zur „Notlösung“: Augustus adoptiert im Jahr 4 seinen Stiefsohn Tiberius, den älteren der beiden Söhne Livias aus ihrer ersten Ehe mit Tib. Cl. Nero. Kurz darauf wird im Jahr 6 Agrippa Postumus, der „enttäuschte Prinz“ und letzter leiblicher männlicher Nachkomme des Augustus von diesem, seinem eigenen Großvater,  ebenfalls verbannt.
Am 19.8.17 stirbt Augustus nach über 40 Jahren der Herrschaft, gut einen Monat vor seinem 76. Geburtstag. Tiberius tritt die Nachfolge wie geplant an, und eines der ersten Ereignisse unter dem neuen Princeps ist die Vergiftung des auf die Insel Planasia verbannten Agrippa Postumus - mit großer Wahrscheinlichkeit auf Betreiben seiner Mutter Livia, der Witwe des Augustus, um die Nachfolge ihres leiblichen Sohnes zu sichern und keine diesbezüglichen Zweifel oder Unruhe aufkommen zu lassen. Im Nachhinein erscheint damit die von Augustus veranlasste Verbannung des Agrippa Postumus als gezielte Kaltstellung des eigenen und einzigen Enkels!
Von diesen innerfamiliären Ränkespielen des Kaiserhauses könnte Ovid durch einflussreiche Freunde - die er am Hof sicherlich hatte - zufällig Kenntnis bekommen haben und damit in die heikle Nachfolgefrage ungewollt eingeweiht gewesen sein. Damit habe der populärste Dichter Roms tiefste Einblicke in delikate Privatangelegenheiten des Kaiserhauses gehabt, die zugleich von höchster politischer, d.h. öffentlicher Brisanz waren – habe in der Tat etwas gesehen, was er nicht hätte sehen dürfen (trist. 2,103ff.) und habe Augustus schlaflose Nächte verursacht. Dieser habe, so die Konstruktion, den einzigen Ausweg in der Relegation Ovids gesehen als Warnung an den Dichter, sein Wissen nicht preiszugeben.
Für diese Konstruktion spricht, dass es einerseits durchaus im Interesse der - sehr machtbewussten - Livia war, ihren eigenen leiblichen Sohn Tiberius und damit ihr Geschlecht der Claudier zu Ungunsten des letzten männlichen Iuliers Agrippa Postumus an die Macht zu bringen. Andererseits spricht ebenfalls dafür, dass Tiberius nach seinem Amtsantritt Ovid nicht begnadigt hat, obwohl dies der Zeitpunkt schlechthin für eine Amnestie gewesen wäre.

Q 4.5: Ovid, met. 2,417ff. – Callisto(10)
Das Mädchen der folgenden Erzählung ist Callisto, ein keusches Mädchen aus dem Gefolge keuscher Mädchen der keuschen Jagdgöttin Diana (= Dictynna).


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 124

Ulterius medio spatium sol altus habebat,
cum subit illa nemus, quod nulla ceciderat aetas;
exuit hic umero pharetram lentosque retendit
420 arcus inque solo, quod texerat herba, iacebat
et pictam posita pharetram cervice premebat.

Iuppiter ut vidit fessam et custode vacantem,
'hoc certe furtum coniunx mea nesciet' inquit,
'aut si rescierit, sunt, o sunt iurgia tanti!'
425 protinus induitur faciem cultumque Dianae
atque ait: 'o comitum, virgo, pars una mearum,
in quibus es venata iugis?' de caespite virgo
se levat et 'salve numen, me iudice' dixit,
'audiat ipse licet, maius Iove.' ridet et audit
430 et sibi praeferri se gaudet et oscula iungit,
nec moderata satis nec sic a virgine danda.
qua venata foret silva, narrare parantem
inpedit amplexu nec se sine crimine prodit.
illa quidem contra, quantum modo femina posset
435 (adspiceres utinam, Saturnia, mitior esses),
illa quidem pugnat, sed quem superare puella,
quisve Iovem poterat? superum petit aethera victor
Iuppiter: huic odio nemus est et conscia silva;
Unde pedem referens paene est oblita pharetram
440 tollere cum telis et quem suspenderat arcum.
Ecce, suo comitata choro Dictynna per altum
Maenalon ingrediens et caede superba ferarum
Adspicit hanc visamque vocat: clamata refugit
et timuit primo, ne Iuppiter esset in illa;
445 sed postquam pariter nymphas incedere vidit,
sensit abesse dolos numerumque accessit ad harum.
heu! quam difficile est crimen non prodere vultu!
vix oculos attollit humo nec, ut ante solebat,
iuncta deae lateri nec toto est agmine prima,
450 sed silet et laesi dat signa rubore pudoris;
et, nisi quod virgo est, poterat sentire Diana
mille notis culpam: nymphae sensisse feruntur.

  

Die Sonne stand hoch und war schon über die Mitte vorgerückt, als das Mädchen einen Wald betrat, der noch zu keiner Zeit gefällt worden war. Hier nimmt sie den Köcher von der Schulter [420] und spannt den geschmeidigen Bogen ab. Und schon lag sie auf dem mit Gras bewachsenen Boden, und ihr Nacken ruhte auf dem bemalten Köcher.
Kaum sah Iuppiter die Erschöpfte unbewacht, sprach er: „Diesen Seitensprung wird meine Gattin bestimmt nicht erfahren, oder, wenn sie davon Wind bekommt – um diesen herrlichen Preis lohnt sich die Schelte.“ [425] Alsbald nimmt er Gestalt und Tracht der Diana an und spricht: „O Jungfrau aus meiner Schar, auf welchen Bergen hast du gejagt?“ Sie erhebt sich vom Rasenteppich. „Sei gegrüßt“, sprach sie, „Gottheit, die nach meinem Urteil größer ist als Iuppiter – mag er es nur selbst hören!“ Er hört es lächelnd, [430] freut sich, dass er sich selbst vorgezogen wird, und gibt ihr Küsse, die weder maßvoll genug waren noch so recht zu seiner Jungfrauenrolle passten. Sie will erzählen, in welchem Walde sie gejagt hat, doch er hindert sie daran durch seine Umarmung und verrät sich nicht ohne Vergehen. Sie wehrt sich zwar, soweit sie es als Frau vermag [435] – hättest du es mitangesehen, Saturnia, du wärest milder! -, sie wehrt sich, doch wen könnte ein Mädchen und wer könnte Iuppiter besiegen? Siegreich schwingt sich Iuppiter zum hohen Äther empor. Ihr aber sind Wald und Hain als Mitwisser verhasst. Als sie den Ort verließ, vergaß sie beinahe, Köcher und [440] Pfeile mitzunehmen und den Bogen, den sie dort aufgehängt hatte.
Siehe, da schreitet Dictynna daher über den hohen Maenalus, von ihrem Gefolge begleitet und stolz auf die blutige Jagdbeute. Sie erblickt das Mädchen und ruft es herbei: Die Gerufene wich zurück und befürchtete zuerst, Iuppiter verberge sich in der Göttin. [445] Doch nachdem sie gesehen hatte, dass die Nymphen mit ihr kamen, begriff sie, dass kein Trug im Spiele war, und gesellte sich zu der Schar. Ach, wie schwer es ist, Schuld nicht durch die Miene zu verraten! Kaum hebt sie den Blick vom Boden; sie geht auch nicht mehr wie früher unzertrennlich an Dianas Seite und steht nicht mehr an der Spitze des ganzen Zuges, [450] sondern sie schweigt und gibt durch Erröten zu erkennen, dass ihre Keuschheit verletzt ist. Wäre Diana keine Junfrau, hätte sie an tausenderlei Anzeichen Callistos Verfehlung bemerken können – die Nymphen sollen es bemerkt habe.

Orbe resurgebant lunaria cornua nono,
cum de venatu fraternis languida flammis,
455 nacta nemus gelidum dea, quo cum murmure labens
ibat et attritas versabat rivus harenas.
ut loca laudavit, summas pede contigit undas;
is quoque laudatis 'procul est' ait 'arbiter omnis:
nuda superfusis tinguamus corpora lymphis!'
460 Parrhasis erubuit; cunctae velamina ponunt;
una moras quaerit: dubitanti vestis adempta est,
qua posita nudo patuit cum corpore crimen.
attonitae manibusque uterum celare volenti
'i procul hinc' dixit 'nec sacros pollue fontis!'
465 Cynthia deque suo iussit secedere coetu.
Senserat hoc olim magni matrona Tonantis
distuleratque graves in idonea tempora poenas.
causa morae nulla est, et iam puer Arcas (id ipsum
indoluit Iuno) fuerat de paelice natus.
470 quo simul obvertit saevam cum lumine mentem,
'scilicet hoc etiam restabat, adultera' dixit,
'ut fecunda fores, fieretque iniuria partu
nota, Iovisque mei testatum dedecus esset.
haud inpune feres: adimam tibi namque figuram,
475 qua tibi, quaque places nostro, inportuna, marito.'
dixit et adversam prensis a fronte capillis
stravit humi pronam. tendebat bracchia supplex:
bracchia coeperunt nigris horrescere villis
curvarique manus et aduncos crescere in unguis
480 officioque pedum fungi laudataque quondam
ora Iovi lato fieri deformia rictu.
neve preces animos et verba precantia flectant,
posse loqui eripitur: vox iracunda minaxque
plenaque terroris rauco de gutture fertur;
485 mens antiqua tamen facta quoque mansit in ursa,
adsiduoque suos gemitu testata dolores
qualescumque manus ad caelum et sidera tollit
ingratumque Iovem, nequeat cum dicere, sentit.
  

Die Hörner des Mondes begannen sich zum neunten Male zum Kreise zu runden, als die Jägerin unter den Göttinnen, erschöpft von den heißen Strahlen ihres Bruders, [455] einen kühlen Hain betrat, aus dem murmelnd ein Bach entsprang und den Ufersand bespülte und hin- und herbewegte. Sie lobte den Platz und berührte die Oberfläche des Wassers mit der Zehenspitze; sie lobte auch das Wasser und sprach dann: „Fern ist jeder Augenzeuge. Lasst uns die nackten Leiber mit Wassergüssen benetzen!“ [460] Die Parrhasierin errötete; alle legen die Hüllen ab, eine nur sucht es hinauszuzögern; während sie noch zauderte, zog man ihr das Kleid aus. Nachdem es abgelegt war, trat zugleich mit dem entblößten Körper auch die Schuld ans Licht. Während Callisto wie vom Donner gerührt dasteht und mit den Händen den Leib verbergen will, spricht Cynthia: „Geh weit von hinnen und beflecke nicht den heiligen Quell.“ [465] Und sie verbannte sie aus ihrem Gefolge.
All dies hatte die hohe Frau des großen Donnerers schon lange bemerkt und die harte Bestrafung auf einen geeigneten Zeitpunkt verschoben. Jetzt gab es keinen Grund mehr zu warten; schon war Arcas, ein Junge – eben dies ärgerte Iuno ganz besonders -, von der Nebenfrau geboren; [470] sie senkte ihr Auge und ihr grausames Herz auf ihn und sprach: „Das hat gerade noch gefehlt, Ehebrecherin, dass du fruchtbar bist, dass dein Nachwuchs meine Schmach bekannt macht und meines Iuppiters Schandtat öffentlich bezeugt! Das sollst du mir büßen! Ich will dir nämlich die Gestalt nehmen, [475] die dir selbst, du aufringliches Weib, und meinem Eheliebsten so gut gefällt.“
Spach´s, packte sie bei den Haaren an der Stirn und warf sie vornüber zu Boden. Callisto wollte flehend die Arme ausstrecken – doch die Arme wurden allmählich rauh und bekamen schwarze Zotteln, die Hände krümmten sich, wuchsen sich zu gebogenen Krallen aus [480] und übernahmen die Aufgabe von Füßen; das Gesicht, das einst Iuppiters Wohlgefallen erregt hatte, wurde hässlich und bekam ein breites Maul. Und damit keine Bitten und flehenden Worte die Herzen umstimmen können, wird ihr die Fähigkeit des Sprechens genommen: Eine zornige, drohende Stimme, die Schrecken verbreitet, kommt aus rauher Kehle. [485] Doch das frühere Bewusstsein blieb ihr auch als Bärin. Sie bekundet ihren Schmerz durch beständiges Stöhnen, hebt die Hände, so entstellt sie auch sind, zu den Sternen am Himmel. „Undankbarer Iuppiter!“ Sie kann es nicht sagen, aber sie denkt es.


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 125

Aufgaben

(1) Die ersten sechs Gedichte des dritten Odenbuchs sind bekannt unter der Bezeichnung Römeroden, da Horaz hier römisches Leben, Politik und Religiosität der Vergangenheit und Gegenwart thematisiert. Die 6. Römerode (Q 4.1) ist die älteste und entsteht sicherlich vor dem Sommer 29 v. Chr., d.h. noch bevor Octavian aus Ägypten zurückkehrt und seinen Triumph feiert.
(1.1) Übersetzen Sie mit Hilfe des Wörterbuchs die fehlenden Strophen von carm. 3,6 (Q 4.1); gliedern Sie carm. 3,6 und formulieren sie zusammenfassende Überschriften.
(1.2) Die Römer führen ihren eigenen Niedergang (Niederlagen gegen äußere Gegner, insbesondere gegen die Parther 53 v. Chr.; Bürgerkriege zwischen Caesar und Pompeius bzw. Octavian und Antonius) selbst auf zwei Ursachen zurück, die Horaz in carm. 3,6 thematisiert. Nennen Sie diese beiden Ursachen und führen Sie Belege aus dem lateinischen Text an. Gliedern Sie die Ode in max. fünf bis sechs Abschnitte. Was für einen Ton schlägt Horaz in der Ode an? Belegen Sie Ihre Aussage aus dem lateinischen Text.
(2) Seit 27 v. Chr. führt Octavian den vom Senat verliehenen Ehrentitel „Augustus“ und gilt als der erste Mann im Staat, als Princeps. Als solcher erlässt er 18 v. Chr. zwei Ehegesetze (Q 4.2).
Untersuchen Sie, aus welcher Überlegung heraus diese Gesetze entstanden sind; berücksichtigen Sie dabei Ihre Erkenntnisse aus 1.2 Beurteilen Sie den Inhalt der Gesetze und stellen Sie Vermutungen über ihre Durchsetzbarkeit an. Beziehen Sie bei Ihren Überlegungen außerdem die ersten drei Abschnitte aus Q 4.3 mit ein.
(3) Erstellen Sie mit Hilfe von Q 4.3 einen Stammbaum der Augustusfamilie; heben Sie leibliche Nachkommen des Princeps besonders hervor.
(4) Im Jahr 8 n. Chr. ereilt Ovid der Verbannungsbefehl des Augustus. Ovid kehrt nie mehr zurück und stirbt im Winter 17/18 an seinem Verbannungsort Tomis am Schwarzen Meer, dem heutigen rumänischen Konstanza. Ovid verfasst im Exil mehrere Bücher Exildichtung (Tristia, Epistulae ex Ponto) und gilt als Begründer der Exilliteratur.
(4.1) Machen Sie sich an Hand von Q 4.4 mit dem Charakter und den Umständen seiner Verbannung vertraut; halten Sie die wichtigsten Punkte schriftlich fest.


                                     Pegasus-Onlinezeitschrift VI/2+3 (2006), 126

(4.2) In den Metamorphosen, einem der großen Werke Ovids, erzählt der Dichter die Geschichte von Callisto. Entwickeln Sie ausgehend von Q 4.5 eine weitere Theorie für die Verbannung Ovids. Charakterisieren Sie dazu zunächst Callisto in ihrer Rolle als Geliebte, Iuppiter als Verführer bzw. Liebhaber und sein Verständnis von Liebe, sowie Iuno als getäuschte Ehefrau. Beurteilen Sie sodann das ovidische Götterbild im Vergleich mit dem geläufigen Götterbild der Römer.
(4.3) Beziehen Sie bei der Formulierung Ihrer Verbannungstheorie mit ein, a) dass Ovid den Princeps an zwei Stellen seiner Metamorphosen explizit mit Iuppiter gleichsetzt (met. 1,204; 15,860), b) dass Augustus die Ehegesetze erlässt (Q 4.2), c) dass Augustus´ Ehe mit Livia kinderlos ist (Q 4.3), d) dass Augustus seit 12 v. Chr. als Pontifex Maximus für die Staatsreligion verantwortlich ist, e) dass die Metamorphosen zum Zeitpunkt der Verbannung zwar noch nicht publiziert, nach antiker Praxis aber durch Lesungen und Diskussionen in ausgewählten Kreisen in Auszügen bekannt sind, ein Gesamteindruck für nicht zum Freundeszirkel Gehörige sich dagegen noch nicht einstellen dürfte.
(5) Bewerten Sie abschließend Augustus als privaten und staatlichen Familienpolitiker und begründen Sie Ihre Bewertung; verfassen Sie dazu einen zusammenhängenden Text (max. eine Seite).


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  • (1) Die Zusätze zum Rechenschaftsbericht des Augustus sind speziell für die Provinzen bestimmt, verfasst vom Senat oder von den lokalen Verwaltungsbehörden.
  • (2) Vgl. Kytzler, B. (Hg. und Ü.): Horaz, Oden und Epoden, Stuttgart, 51981, S. 230ff.
  • (3) Vgl. Simon E.: Augustus: Kunst und Leben in Rom um die Zeitenwende, München, 1986, S. 31; Czimmek, R., Zeller, B.: Augustus – Herrscher der Zeitenwende, in: AU 1 (2000), S. 24
  • (4) Vgl. Zanker, P.: Augustus und die Macht der Bilder, München, 42003, S. 175, 179
  • (5) Über den genauen Ablauf sind wir durch 1890 gefundene umfängliche Bruchstücke einer Inschrift unterrichtet, die zum ewigen Andenken an die Feier auf einem Marmorpfeiler am Ort der Spiele aufgestellt wurde (Abdruck der Inschrift z.B. Kiessling, A. (Hg. u. Komm.): Q. Horatius Flaccus: Oden und Epoden, Berlin, 91958, S. 469).
  • (6) Ikonographie = Beschreibung und Deutung von Bildern
  • (7) Zanker, P.: Augustus und die Macht der Bilder, München, 42003, S. 178
  • (8) Vgl. Kytzler, B. (Hg. und Ü.): Horaz, Oden und Epoden, Stuttgart, 51981, S. 132f.
  • (9) Vgl. Bleicken, J.: Augustus, Berlin, 1998, S. 484ff.
  • (10)  Vgl. v. Albrecht, M. (Hg. und Ü.): P. Ovidius Naso: Metamorphosen, Stuttgart 1994, S. 91ff.