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                        Pegasus-Onlinezeitschrift V/2+3 (2005), 46

Gerson Schade

Forschung aktuell: Die homerische Kunstsprache und die Klassische Philologie

 

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Zu dem komplexen Problem der so genannten Homerischen Frage, also der Frage nach der Entstehung der homerischen Epen, gehört auch die homerische Sprache. Während die moderne Diskussion um Homer und die homerischen Gedichte bereits seit über 300 Jahren im Gange ist, setzt die wissenschaftliche Beschäftigung mit der homerischen Sprache erst später ein. Gerade etwas über 150 Jahre ist die moderne Debatte alt.

Mein Artikel gliedert sich in drei Teile: Zunächst werde ich die Genese und die Bedeutung des Begriffs Kunstsprache im Rahmen einer forschungs- und problemgeschichtlichen Skizze vorstellen. Im Anschluss werde ich darstellen, wie Erkenntnisse der griechischen Sprachwissenschaft einerseits und Beobachtungen von Klassischen Philologen andererseits einander ergänzen. Abschließend gebe ich einige Hinweise auf für den Schulunterricht relevante Literatur.

(1)

Bis ins 19. Jahrhundert hinein war es eine ausgemachte Sache, dass Homer die Sprache verwendet, die zu seinen Lebzeiten in seiner Heimat, also vermutlich im kleinasiatischen Ionien, benutzt worden ist. Sprachwissenschaftliche Erwägungen waren nicht im Blickfeld der älteren Forschung. Die Entdeckung des Digamma durch Richard Bentley zu Beginn des 18. Jahrhunderts war die Ausnahme, die die Regel bestätigt.(1) Erst die aufblühende epigraphische Forschung, die ein facettenreiches Bild der griechischen Dialektlandschaft ergab, und die neue indogermanische Sprachwissenschaft, eine Wissenschaft, die es in dieser Form bisher nicht gegeben hatte, lenkten zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Augenmerk auf neue Fragestellungen.


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Der Erste, der die bisher stillschweigend vorausgesetzte Annahme erschütterte, dass es sich bei der homerischen Sprache um eine Art Urgriechisch handele, war Heinrich Ludolf Ahrens.(2) Er hatte in seinem Werk über die griechischen Dialekte aus dem Jahr 1839 darauf hingewiesen, dass im Homertext neben der ionischen Basis auch eindeutig als aiolisch zu klassifizierende Formen begegnen.

Einen ersten Versuch, im homerischen Epos ältere und jüngere Sprachschichten zu trennen, hatte Adolf Kirchhoff in seinen Untersuchungen zur Odyssee aus dem Jahr 1859 unternommen.(3) August Fick glaubte, die Analysen mit der Beobachtung unterstützen zu können, dass die von der Forschung als älter bezeichneten epischen Schichten sich mehr oder minder mühelos in aiolische Dialektform umsetzen ließen.(4)

Wenn diese These richtig gewesen wäre, dann wäre es gelungen, die traditionelle, sich auf philologische Beobachtungen gründende Homeranalyse auf ein festes Fundament zu stellen. Der Versuch konnte jedoch aus zwei Gründen nicht gelingen: Einerseits gibt es in den für alt gehaltenen Partien des Epos eine Menge metrisch geschützter ionischer Formen, die ohne gewaltsame Änderungen des Textes nicht ins Aiolische zurückübersetzt werden können: es handelt sich um die so genannten 'festsitzenden Ionismen'.(5) Andererseits gibt es in den für jung gehaltenen Partien des Epos eine Reihe von aiolischen Formen, denen prosodisch gleichwertige ionische Formen gegenüberstehen – es bleibt also unerklärt, warum an diesen Stellen die ionischen Dichter aiolisch formuliert haben; es handelt sich um die so genannten 'überschüssigen Aiolismen'.


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Die Hypothese von Fick wurde von Friedrich Bechtel daraufhin modifiziert.(6) Seine These besagt, dass es vor dem ionischen Heldengesang offensichtlich eine ältere Periode rein aiolischer Dichtung gegeben habe. Die ionischen Sänger hätten sich natürlich vor allem anfänglich an den aiolischen Vorbildern orientiert; stehende Wendungen und an bestimmten Versstellen festsitzende Formeln sind eben erhalten geblieben, wenn sie nicht durch prosodisch gleichwertige ionische Ausdrücke ersetzbar waren.

Die These beschreibt die homerische Sprache als einen Mischdialekt, der sich durch seine Entstehung erklären lasse. Bechtels Annahme eines solchen Mischdialekts, die mit einer historischen Ablösung des aiolischen Heldengesangs durch einen ionischen Heldengesang rechnete, lässt sich ihrerseits jedoch nicht ohne Modifikationen annehmen:

Die Aufteilung der homerischen Wörter und Formen unter die Rubriken ionisch und aiolisch wird nämlich nicht allen Phänomenen gerecht. Es gibt eine Reihe von Ausdrücken im Homertext, die anscheinend weder einem ursprünglichen Ionisch noch dem Aiolischen angehören. Dagegen finden sich Entsprechungen für diese homerischen Ausdrücke in den so genannten achaiischen Dialekten Kyprisch und Arkadisch. Antoine Meillet(7) hat als erster auf Ausdrücke wie den arkadisch-kyprischen W‹naj hingewiesen (und auch oäow angeführt, das außer bei Homer und der davon abhängigen Dichtersprache nur im Arkado-Kyprischen belegt ist). Seine Deutung, dass es nur natürlich sei, dass ein großer achaiischer Fürst auch einen achaiischen Titel trägt und diesen bei Homer beibehält, ist nahe liegend. Diese Interpretation von Meillet impliziert jedoch, dass es vor der aiolischen Phase noch eine weitere Phase älterer Heldendichtung gegeben habe, die seit Meillet die achaiische oder altachaiische Phase genannt wird.

Diese Hypothese, die der bisher angenommenen Zweiphasigkeit in der Frühgeschichte der epischen Dichtung eine dritte Phase hinzufügt, schien Anfang der fünfziger Jahre eine Bestätigung zu erfahren durch die Entzifferung der aus mykenischer Zeit stammenden Lineartafeln. Die auf den Tontafeln aus dem 13. Jahrhundert erkennbare frühe Gestalt des Griechischen stimmt nämlich weitgehend mit der Dialektform überein, die man für den noch ungetrennten Dialekt der Arkader und Kyprier in mykenischer Zeit anzusetzen hatte. Und was noch bedeutender ist – einige der schon bisher als altachaiisch eingestuften Elemente des homerischen Wortschatzes tauchten in den mykenischen Tontafeltexten als Bestandteile der damaligen Umgangs- und Verwaltungssprache auf. So begegnet beispielsweise der Titel Wanax und bezeichnet den königlichen Herrscher des Landes. Ebenso begegnen mykenische Personennamen, die ptolemos und ptolis als Wortbildungselemente aufweisen, und zeigen, wie alt das Nebeneinander der Formen ptolemos/polemos und ptolis/polis wirklich ist. Der Ansatz einer ältesten, noch in mykenische Zeit gehörenden Phase heroischen Dichtens schien durchaus plausibel.


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Aber waren jetzt, angesichts der neuen dialektgeographischen Situation, die sich durch das Mykenische ergeben hat, die Aiolismen wirklich noch Aiolismen?

In der Tat hat Klaus Strunk nachgewiesen,(8) dass es sich bei den so genannten Aiolismen der homerischen Sprache zum größten Teil gerade nicht um auf das Aiolische beschränkte Dialekteigentümlichkeiten handelt. Vielmehr sind viele dieser Aiolismen als Archaismen der Sprache einzustufen. Als ein Musterfall seien die Genitive auf –oio (die bei Homer ja neben denen auf –ou stehen) genannt, die man immer für Aiolismen gehalten hat, da sie in aiolischen Dialekten bezeugt sind. Da aber auch das Mykenische diese Genitivform bezeugt, handelt es sich eben um einen sogenannten Achaiismus oder einfach eine gemeingriechische ältere Sprachform.

Aber ganz so einfach ist es auch wieder nicht. Es bleiben einige unbestreitbare Aiolismen im Homertext übrig, die sich nicht eliminieren lassen. Es handelt sich nämlich eindeutig um aiolische Formen, wenn bei Homer p¡lvrow ('gewaltig', 'monströs', 'riesig') steht und gerade nicht *t¡lvrow. Denn nur in aiolischen Dialekten gilt das Lautgesetz, dass ein Labiovelar auch vor hellem Vokal zu einem Labial wird, wohingegen er in allen anderen griechischen Dialekten vor hellem Vokal als Dentallaut erscheint. Die Frage bleibt also noch im Raum, wie diese Formen in den Homertext gekommen sind.

In dieser aporetischen Situation hilft der Blick auf die anderen, im überlieferten Epentext ins Auge fallenden und der Erklärung bedürftigen Erstaunlichkeiten. Da ist z.B. das schon erwähnte Nebeneinander der Genitivformen teils auf –oio, teils auf –ou. Parallel dazu steht etwa das Nebeneinander der Genitivformen der maskulinen Stämme, die teils auf    -āo enden (Atreidāo), teils auf – ausgehen (Pēlēiadeō). Die Erklärung dieser Formen ist schon lange gegeben: Es stehen einfach ältere neben jüngeren, archaische neben rezenten Formen.


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In einer gesprochenen Sprache jedoch ist das Nebeneinander älterer und jüngerer Formen undenkbar. Mithin ist nur eine Annahme möglich: Es handelt sich bei der homerischen Sprache überhaupt nicht um einen Dialekt, auch nicht um einen Mischdialekt. Die homerische Sprache ist eine Kunstsprache, die nirgendwo und nirgendwann von dem berühmten Mann auf der Straße gesprochen wurde.

Zwei Dinge haben dazu geführt, dass in einem Text ältere Formen erhalten geblieben sind. Zum einen hat das Metrum Formen vor einer Weiterentwicklung bewahrt. So ergab sich allmählich ein fester Bestand formelhafter Wendungen, die in der mündlichen Sängertradition vererbt werden konnten.

Zum anderen jedoch verdanken die archaischen Formen der epischen Dichtung ihr Weiterexistieren gerade auch einer dichterischen Absicht. Diese Intention bestand darin, der Sprachform des Epos eine gewisse Altertümlichkeit und damit auch eine gewisse Erhabenheit und Feierlichkeit zu verleihen, die dem mit dieser Sprachform auszusagenden heroischen Inhalt besonders angemessen schien.

Dass sich ein Stilwille hinter der Erhaltung archaischer Formen verbirgt, bezeugen eindeutig die mit den echt archaischen Formen konkurrierenden archaisierenden Formen. Das sind Formen, die nicht alt sein können, aber den Eindruck erwecken und offensichtlich auch erwecken sollen, in eine ältere, ehrwürdige Periode der Sprache zu gehören. Diesen wichtigen Unterschied möchte ich an zwei Beispielen illustrieren:(9)

Bei dem ersten Beispiel handelt es sich um die Kasusformen auf –fin. Diese gelten zumeist als archaische Formen, zu recht, wie das Mykenische zeigt. Allerdings fügen sich die homerischen Formen nur zu einem kleinen Teil den in einem früheren Stadium des Griechischen geltenden Regeln. Sie sind nicht mehr ausschließlich instrumental-separative Pluralformen, sondern sie können bei Homer sowohl instrumental-separativ als auch genitivisch, dativisch und lokativisch und mal mit, mal ohne Präpositionen gebraucht werden. Außerdem sind sie zum großen Teil falsch gebildet. Wenn in der Odyssee in der Bedeutung 'auf dem Herd' die Form ¤p€ ¤sxarñfin begegnet (5.59), ist das eine archaisierende Monstrosität. Denn 'auf dem Herd' hätte als lokativisches ¤p€ ¤sx‹rú erscheinen müssen, und andererseits hieße die sprachrichtige Form *escharē-phi (denn es handelt sich um einen lang a-Stamm, der ionisch zu ē wird) und würde 'mit den Herden' bzw. 'von den Herden weg' bedeuten. Die vorliegende Form kann also nur bedeuten, dass die epischen Dichter eine obsolet gewordene und nur in wenigen erstarrten Resten noch erhalten gebliebene Bildungsweise künstlich zu neuem Leben erweckt haben und bei der Neubildung solcher altertümlich wirkender Formen und bei der Zuweisung dieser Formen an bestimmte syntaktische Funktionen recht großzügig vorgegangen sind.


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Bei dem zweiten Beispiel handelt es sich um die bei Homer zahlreich vertretenen Adjektive, die mit dem Suffix –ent gebildet sind und das häufige Vorhandensein des im Grundwort steckenden Elementes bezeichnen wie Þxyuñeiw 'fischreich'. Die mykenischen Tafeln zeigen diese Bildung häufig; im Attischen dagegen spielt eigentlich nur noch xarÛeiw eine Rolle; die Bildeweise scheint also nicht mehr produktiv zu sein. Man wird also wieder, wie im Fall der fin-Endungen, annehmen dürfen, dass die epischen Dichter eine alte, in der Umgangssprache jedoch im Schwinden begriffene Bildungsweise nicht nur künstlich konserviert haben, sondern darüber hinaus versucht haben, die Bildeweise wiederzubeleben. Dass es sich um solche Wiederbelebungsversuche handelt, wird wiederum durch die Tatsache nahegelegt, dass die bei Homer vorliegenden –ent–Adjektiva falsch gebildet sind. Denn nach dem Vorbild des richtigen xarÛeiw dürfte es eben nur Þxyæeiw heißen, und der Thema- oder Bindevokal o hat hier nichts zu suchen. Formen wie Þxyuñeiw gehören in den Bereich der artifiziellen Archaismen, und gerade bei ihnen wird deutlich, dass bei ihrer Schaffung neben den gewiss nicht zu vernachlässigenden metrischen Rücksichten die stilistische Intention die Hauptrolle gespielt hat: Die epische Aussage sollte durch die Verwendung altertümlich klingender Formen eine wert steigernde Patinierung, eine Heraushebung aus der Normalität und Alltäglichkeit erfahren.

Eine weitere Eigenheit der homerischen Sprache gehört in denselben Zusammenhang: Es handelt sich um die Neologismen bzw. Autoschediasmata der homerischen Kunstsprache. Gemeint sind Wörter und Formen, die in der epischen Tradition durch beabsichtigte oder unbeabsichtigte Umdeutung überlieferter Wendungen entstanden bzw. neu geschaffen sind. Gemeint sind die berühmten homerischen Wörter Manu Leumanns, die mit den bisher genannten Formen oft genug das Merkmal der Künstlichkeit und der Sprachunrichtigkeit teilen.(10)

Als Beispiel sei dñja genannt. Das scheinbar früheste Zeugnis findet sich in der Dolonie, dem 10. Gesang der Ilias, wo die Formulierung Žpò dñjhw im Sinne von 'abseits der, gegen die Erwartung' begegnet (10.324). Diese Fügung erscheint wieder in der Odyssee (11.344)  und wirkt wie eine Variation der überaus geläufigen, keineswegs nur dichterischen Formel parŒ dñjan 'gegen die Erwartung', die seit Theognis (v. 639) begegnet.

'Meinung', 'Vermutung', 'Erwartung' und dann positiv konnotiert 'Geltung' und 'Ruhm' sind die Bedeutungen des Nomens dñja. Es ist allerdings unmöglich, das Nomen dñja morphologisch vom zugehörigen Verb dok¡v abzuleiten. Die entsprechenden Nomina heißen dñkhsiw und dñjiw und sind auch belegt. Woher kann das Wort also stammen?


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Die Formel parŒ dñjan und seine homerische Variante Žpò dñjhw bieten die Handhabe zu einer Erklärung: In der Formel parŒ dñjan war dñjan ursprünglich gar nicht der Akkusativ von dñja, sondern das Neutrum des Partizips im Aorist. Es war parŒ   dñjan, und die Wendung bedeutet 'entgegen dem glaubhaft Scheinenden, entgegen dem Gemeinten, Vermuteten'. Das Partizip dñjan wurde dann, etwa nach parŒ moÝran, umgedeutet zum Akkusativ eines Femininums. Aus parŒ   dñjan wurde also parŒ t¯n dñjan. Danach wurde der Nominativ dñja neu geschaffen. Anders als mit der skizzierten Umdeutung durch einen epischen Dichter lässt sich dñja nicht erklären.

Die homerische Sprache ist also in reichem Maße und einer besonders auffallenden Weise durch das Vorhandensein von künstlichen, nicht umgangssprachlichen Formen geprägt. Es begegnen echte Archaismen ebenso wie archaisierende Formen, es finden sich artifizielle Bildungen wie Neologismen verschiedener Art. Und die Mehrzahl dieser Formen verdankt ihr Vorhandensein nicht irgendwelchen sprachlichen Entwicklungen, sondern einzig und allein dem bewussten Stilprinzip und Stilwillen der Dichter. Auch die so genannten Aiolismen dürfen wohl in die genannte Reihe der Homerismen eingereiht werden – mag es sich nun um absichtlich bewahrte Archaismen oder artifizielle Bildungen handeln.(11)

 

(2)

 

Dies ist der Befund der griechischen Sprachwissenschaft. Die Klassische Philologie hat sich ihrerseits ebenfalls mit den Problemen der homerischen Sprache befasst, ist bei der Analyse der homerischen Gesänge allerdings eigene Wege gegangen. Trotzdem gibt es Berührungspunkte, deren Problematik gezeigt werden soll.

Die erwähnte neue Bildung dñja begegnet in der Ilias nur in der Dolonie. Die angeführten Überlegungen von Leumann sprechen dafür, eine innerepische Uminterpretation von parŒ dñjan nach dem bekannten parŒ moÝran anzunehmen: Aus dem Partizip Aorist Neutrum wird der Akkusativ Singular Femininum eines kurz a-Stammes.


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Das Ganze wäre nur ein weiteres sogenanntes Leumann-Wort, wenn man als Philologe nicht stutzig würde. Das Wort begegnet ja in der Ilias nur in der Dolonie; die Dolonie jedoch, den 10. Gesang der Ilias, hatte bereits die antike Kritik verdächtigt. Den antiken Scholiasten zufolge ist sie eine gesonderte Rhapsodie gewesen, die Peisistratos an ihren gegenwärtigen Platz stellte.

Ein gewichtiges inhaltliches Argument für die junge Entstehung der Dolonie, in der der trojanische Späher Dolon von Odysseus und Diomedes gestellt, ausgehorcht und umgebracht wird, ist die Tatsache, dass die Heroen nicht mit dem Kampfwagen fahren, sondern reiten – Odysseus und Diomedes reiten auf den erbeuteten Pferden des Königs Rhesos zurück ins griechische Lager: ein in der Ilias ganz einzigartiger Vorgang. Vom Reiten spricht Homer sonst nur noch zweimal und dies ganz beiläufig (Il. 15.679, Od. 5.371). Könnte es also nicht sein, dass der inhaltlich jungen Dolonie auch eine sprachlich junge Dolonie entspricht? Lässt sich vielleicht noch mehr Material finden, das wie dñja auf eine junge Entstehung deutet?

Pierre Chantraine hat die Dolonie untersucht und die entsprechenden Indizien gesammelt.(12) Sein Resultat ist, dass die Menge der rezenten Sprachformen (wie die Perfekta auf –ka, die zahlreichen Pseudo-Instrumentale auf –fin sowie Nominalabstrakta wie dñsiw) als kumulative Evidenz genügt, einen eindeutig jungen Eindruck zu ergeben.

Die Ansätze der griechischen Sprachwissenschaft auf der einen und der Klassischen Philologie mit ihren inhaltlichen Beobachtungen und Interpretationen auf der anderen Seite ergänzen sich also aufs schönste. Aber der genannte Punkt lässt sich noch viel weiter ausführen:

Die Dolonie ist das Beispiel eines jungen Textstücks in den homerischen Epen, das als ganzer Gesang, als ganze Rhapsodie, eingesetzt ist. Genau dieselben jungen sprachlichen Erscheinungen der Dolonie finden sich aber auch in solchen längeren, in sich geschlossenen Passagen der Ilias, die nahtlos in einen anderen Gesang eingefügt sind.

Albrecht Dihle hat im Anschluss an Ernst Heitsch(13) bei seinen Untersuchungen zur Aeneis in der Ilias (20.156-291) auf die sprachlichen Erscheinungen hingewiesen, die die Aeneis mit der Dolonie teilt. Und bei der homerischen Aeneis gibt es wie bei der Dolonie neben den sprachlichen Verdachtsgründen auch einen gewichtigen inhaltlichen Verdachtsgrund: Dem unbedeutenden und sonst funktionslosen Kämpfer Aeneas solch breiten Raum einzuräumen, ist ganz auffällig.


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Darüber hinaus hat Dihle(14) noch eine weitere Passage der Ilias identifiziert, die sich durch dieselben jungen sprachlichen Erscheinungen auszeichnet wie Dolonie und Aeneis. Es handelt sich um einen Teil des 14. Gesangs der Ilias, die sogenannte Diòw Žp‹th (die 'Täuschung des Zeus', Ilias 14.153-351), in der Hera ihren Gatten erotisch bezaubert, um während seines Schlummers auf Seiten der Griechen in den Kampf um Troja einzugreifen.

Die inhaltliche Beobachtung im Fall der Diòw Žp‹th, die eine junge Entstehung nahe legt, stammt von Walter Burkert. Burkert hat für diese Passage, die ein sprachlich junges Gepräge trägt, auf die orientalisierenden Einflüsse hingewiesen.(15) Als ein Beispiel nennt Burkert, dass einzig in dieser Passage bei Homer kosmogonische Thematik vorgestellt wird: Hera will zu Okeanos und Tethys gehen, dem 'Ursprung der Götter'; in ihrer Vermischung erst entstehe die Welt – und genau dies findet sich im babylonischen Weltschöpfungsepos Enuma Elisch. Die Ausführungen Heras stimmen mit dem Anfang von Enuma Elisch in frappanter Weise überein.

Um es zusammenzufassen: Dolonie, Aeneis und Diòw Žp‹th zeigen sowohl sprachliche als auch inhaltliche Erscheinungen, die auf ein junges Entstehungsdatum hinweisen: In der Dolonie reiten Odysseus und Diomedes, in der Aeneis hat ein Held eine Aristie, der mit der ganzen Ilias und ihrem Achilleis-Kern nichts zu schaffen hat, und in der Diòw Žp‹th kommen orientalisierende Einflüsse zur Geltung, die nirgendwo sonst bei Homer begegnen.

 

(3)

 

Im Schulunterricht in diese Problematik einzuführen, ist verlockend, und auch lohnend. Aber die Darstellung dieser komplexen Befunde in der Schule ist sicher nur eingeschränkt möglich.


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Es ist nahe liegend, zunächst einen Überblick über die sprachlichen Erscheinungen der homerischen Kunstsprache heranzuziehen, wie ihn der Anhang von Ernst Risch in der Griechischen Grammatik von Eduard Bornemann bietet. Die auffälligste Eigenheit der Sprache der homerischen Epen ist ihre Uneinheitlichkeit, die Risch mit seiner Liste der äolischen Formen deutlich macht (§ 310 1.b, d und e, 2.a und g, 3.b). Aber nicht nur stehen nebeneinander Ionisches und Außerionisches, sondern natürlich auch Älteres neben Jüngerem (also etwa ionische unkontrahierte neben attischen kontrahierten Formen) und vor allem Normalsprachliches neben Dichtersprachlichem. Das Metrum mit seinem unerbittlichem Zwang zur richtigen Prosodie hat dazu geführt, dass schwerfällige und überkommene Wortlaute an das Versmaß angepasst werden mussten, vorliegende Verse aus älterer Tradition umzudichten waren und überhaupt Neuschöpfungen ohne deutliches Vorbild in der Dichtersprache erfolgten. Diesen Befund illustriert am Beispiel der ersten zehn Verse der Odyssee Bernhard Forssman in seinem maßgeblichen Aufsatz Schichten der homerischen Sprache.(16) Forssman nennt zu jedem Wort in diesem Textstück seine homerischen Varianten mitsamt Belegstellen und diskutiert das Material. Sollte der Stundenplan es erlauben, kann auch für eine längere Passage aus Homer auf einen sprachwissenschaftlich fundierten Kommentar zurückgegriffen werden, der von Jürgen Untermann mit seiner Einführung in die Sprache Homers, Der Tod des Patroklos, Ilias 16.684-867 (Heidelberg 1987), erschienen in der Reihe der Heidelberger Studienhefte zur Altertumswissenschaft, vorliegt.

Für mehr als diesen Versuch der Hinführung wird in der Schule wenig Raum sein. Wer sich einen Überblick über die Forschungssituation verschaffen möchte, findet bei Michael Meier-Brügger in seinem mit neuester Literatur versehenen Aufsatz Die homerische Kunstsprache(17) eine kundige Anleitung. Ein schönes Handbuch fehlt leider. Natürlich ist es immer noch lohnend, in Manu Leumanns Homerischen Wörter die einleitenden Passagen anzusehen, aber das Werk als Ganzes müsste neu bearbeitet werden. Und ebenso lehrreich ist die zweibändige Grammaire homérique von Pierre Chantraine, die aber in ihrer Breite der Darstellung eher zum Nachschlagen als zum Durchlesen geeignet ist. Eine neue Grammatik der homerischen Sprache hat Rudolf Wachter im Rahmen des Gesamtkommentars zu Homers Ilias vorgelegt: Joachim Latacz (Hrsg.), Prolegomena (zu den Büchern 1-24), München/Leipzig 2000 (S. 61ff.).


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Als anregende Lektüre sei abschließend auf zwei klassische Titel verwiesen: Alfred Heubeck hat in der Reihe Archaeologia Homerica den Band Schrift verfasst (Stuttgart 1979), der eine Reihe von Fragen, die mit der homerischen Kunstsprache zusammenhängen, natürlich mitbehandelt. Und von Lilian Hamilton Jeffery stammt das monumentale Werk The local scripts of archaic Greece (Oxford, 2. Auflage 1990), das auf über 80 Tafeln reiches Material bietet zur Geschichte jener phantastischen Idee, aus den phönizischem Alphabet das griechische zu machen – von der Herodot (5.58) berichtet, und die neben anderen Texten auch die homerische Kunstsprache bewahrt hat.

 

Gastprofessor Dr. Gerson Schade
Freie Universität Berlin
Seminar für Klassische Philologie
Ehrenbergstr. 35
14195 Berlin
(Dahlem)
(gerson.schade@gmx.net)


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(1) R. Pfeiffer, Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen, München 1982, 195, C.O. Brink, Klassische Studien in England, Stuttgart/Leipzig 1997, 102f.

(2) H.L. Ahrens, De Graecae linguae dialectis, Göttingen 1839. Von Ahrens stammt auch ein Griechisches Elementarbuch aus Homer, ein Schulbuch für den Griechischunterricht, den Ahrens im ersten Jahr durchgängig auf Homer aufbaut: Nach einem sechswöchigen Vorkurs, der in die grammatischen und metrischen Vorkenntnisse einführt, folgt der Lektürebeginn mit Odyssee, 9. Gesang, für den ein halbes Schuljahr veranschlagt ist. Es schließt sich an eine Lektüre der ersten drei Bücher der Odyssee. Das Buch erschien zuerst Göttingen 1850, in einer zweiten Auflage 1870, und wurde 1904 von Reinhold Agahd neu bearbeitet. Zu einer Würdigung von Ahrens’ didaktischem Konzept vgl. S. Kipf, Griechischlernen mit Homer und Herodot. Versuche einer Neugestaltung des griechischen Anfangsunterrichts seit dem Neuhumanismus, in: W. Hüllen, F. Klippel (Hgg.), Sprachen der Bildung – Bildung durch Sprachen im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 2005, 91-104.

(3) A. Kirchhoff, Die homerische Odyssee, Berlin 1859.

(4) A. Fick, Die homerische Odyssee in ihrer ursprünglichen Sprachform wiederhergestellt, Göttingen 1883, ders., Die Ilias, Göttingen 1886.

(5) Aus der Griechischen Grammatik von Bornemann-Risch lässt sich auf die prosodisch verschiedenen, also nicht durcheinander ersetzbaren Formen für ‚er verfehlte’ verweisen; es begegnen ‘marte sowie ³mbrote (§ 310.2g).

(6) F. Bechtel, Die Vokalkontraktion bei Homer, Halle 1908.

(7) A. Meillet, Aperçu d’une histoire de la langue grecque, Paris 1913; in deutscher Übersetzung von H. Meltzer, Geschichte des Griechischen, Heidelberg 1920.

(8) K. Strunk, Die sogenannten Aiolismen der homerischen Sprache, München 1957.

(9) K. Meister, Die homerische Kunstsprache, Leipzig 1921.

(10) M. Leumann, Homerische Wörter, Basel 1950.

(11) A. Heubeck, Zum Problem der homerischen Kunstsprache, Museum Helveticum 38, 1981, 65-80, wiederabgedruckt in: Ders., Kleine Schriften zur griechischen Sprache und Literatur, Erlangen 1984, 63-78.

(12) P. Chantraine, Remarques critiques et grammaticales sur le chant K de l’Iliade, Mélanges Desrousseaux, Paris 1937, 59-68.

(13) E. Heitsch, Aphroditehymnos. Aeneas und Homer. Sprachliche Untersuchungen zum Homerproblem, Göttingen 1965, 63-103.

(14) A. Dihle, Homer-Probleme, Opladen 1970, 65-93.

(15) W. Burkert, Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur, Heidelberg 1984, Ders., The Orientalizing Revolution. Near Eastern Influence on Greek Culture in the Early Archaic Age, Cambridge/Mass. 1992, Ders., Die Griechen und der Orient. Von Homer bis zu den Magiern, München 2003, 28-54.

(16) Erschienen in J. Latacz (Hg.), Zweihundert Jahre Homer-Forschung. Rückblick und Ausblick, Stuttgart 1991 (Colloquium Rauricum 2), 259-288.

(17) Erschienen in Chr. Ulf (Hg.), Der neue Streit um Troja. Eine Bilanz, München 2003, 232-244.